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Verkappte Religionen
Kategorie: Vorschau
Wörter: 6334
Erstellt:
22.12.2003
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Autor: Dominik Tischleder
Von mir in der Vorweihnachtszeit kein Gedicht, sondern ein recht unkomplizierter philosophischer Text.
Flüssig, in einem hervorragenden, feuilletonistischem Stil verfasst, wendet sich dieser Auszug an Interessierte, die den Willen bzw. die Grundintelligenz mitbringen, auch mal etwas Längeres auf sich wirken zu lassen. Für den durchschnittlichen, sich mit "Konservativer Revolution" beschäftigenden Neofolker sicherlich eine leichte Übung, zumal ihm/ihr der Buchtitel aus der Mohler Bibliographie eventuell bekannt vorkommt.
Der Verfasser tut nichts zur Sache, sei hier aber trotzdem genannt, er heißt Carl Christian Bry, das Buch "Verkappte Religion" (Gotha 1924, 1. Auflage, Nördlingen 1988 2. Auflage. Zu lesen sind die ersten drei Kapitel. Das Buch ist seit ein paar Jahren nicht mehr erhältlich.)
Laut dem Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer "Eines der bedeutendsten Dokumente der zwanziger Jahre, dessen Hellsichtigkeit epochalen Rang besitzt".
Bleibt die Frage zu klären, warum das auf Lichttaufe???
Vieles ist vorstellbar, man tausche "Bücherschreiben" mit "Musikmachen", man denke sich Teile der Szene als eine Ansammlung von "Hinterweltlern"...und natürlich - und da wird es offensichtlich - man denke sich die bekannten, ideologisch motivierten "Gegner" unserer Musik als "Hinterweltler"...schlußendlich kann man den Text auch als Oswald Spengler-Kritik lesen...Wie dem auch sei, Viel Spaß und frohe Weihnachten!!!
Dominik für Zinnober (www.zinnober.net)
I. Die Musikanten der Weltweisheit
Hat Bücherschreiben noch Sinn? Die Frage hat nichts zu tun mit der Not der »geistigen Arbeiter«. Wenn statt 35 000 Büchern im Jahr nur noch 20 000 und statt 2000 Blättern nur 800 erscheinen könnten, hätte der Zustand seine Vorteile. Die Hochachtung vor dem Menschen, der Bücher schreiben konnte, nur weil er Bücher schreiben konnte, bestand ja nur so lange zu Recht, als das Schreiben das Privileg weniger und jedes Buch ein Beitrag zum „Gedächtnis der Menschheit" war. Das ist heute längst nicht mehr der Fall. Völker und Menschheit wären vielleicht ganz froh, wenn sie einiges vergessen könnten. das geistige Leben ist ja nicht nur für die Leute da, die davon ihr tägliches Brot essen. Man kann Schopenhauer mit seinem Wunsche, daß wir auf allen Gebieten nur wenige, aber vortreffliche Bücher hätten, allzu unbescheiden finden. Man braucht den Wert des breiten Unterbaues auch im Geistigen nicht zu unterschätzen und wird dennoch sagen müssen, daß eine Drosselung der Produktion in Büchern, Zeitungen, Zeitschriften und Doktoren der Philosophie - ich bin auch einer - nicht Erdrosselung des geistigen Lebens ist. Sie könnte das Gegenteil sein Sie könnte regeres Leben sein, sogar äußerlich, wirtschaftlich. Das geistige Leben könnte rentabler werden gerade dadurch, daß es noch unrentabler geworden ist, als es war. Wird heute ein junger Mensch, der bei günstigerer Wirtschaftslage sich der Weltweisheit und den schönen Künsten ergeben hätte, statt dessen Bankdirektor, so wird er wahrscheinlich Bücher lesen und keine schreiben. Die Zahl der Schreibenden vermindert, die der Lesenden vermehrt -was könnte erwünschter sein? Die Frage nach dem Sinn hat mit der nach dem Lohn nur insofern zu tun, als Kopf auf Körper angewiesen ist. Es macht so viel nicht aus, ob sich Bücherschreiben äußerlich ebenso schlecht oder noch etwas schlechter lohnt als von jeher. Die Frage ist nur: Lohnt es sich innerlich? Kann ein Buch noch wirken? Wirken und Erfolg verhalten sich umgekehrt zueinander, als man gemeinhin annimmt. In der guten alten Zeit, vor 1914 beklagte sich der Bücherschreiber grämlich über die Tücke der Verleger , die ihn ablehnten, über die Grausamkeit oder Böswilligkeit der Rezensenten, die ihn heruntermachten oder totschwiegen, und über die Blödigkeit des Publikums, das ihn nicht las. Er glaubte sich durch rohe, körperliche, kapitalistische Gewalten vom Wirken abgeschnitten. Sein Kollege von heute ist viel unglücklicher daran. Er glaubt und klagt, daß seine Verleger nicht genug für ihn tun, daß seine Kritiker seine Bedeutung nicht genug unterstreichen, daß sein Publikum ihn nicht genug liest: Das heißt: Er spürt in seinem und trotz seinem Erfolg, daß er nicht wirkt und nichts ändert. Warum? Weil es ihm zu leicht gemacht worden ist. Tatsächlich war es vielleicht noch zu keiner Zeit weniger schwierig als heute, zu Wirkung und Geltung zu gelangen: und gerade weil es so leicht ist zu „wirken", scheint es unmöglich zu wirken. Von jeder Plakatsäule droht ein neuer, besonderer Weltumsturz, schreien Enthüllungen, locken frisch entdeckte Dimensionen. Die Folge ist, daß sich niemand mehr darüber aufregt; außer den Leuten natürlich, die von ihrer Aufregung leben, denn - ich bin einer- Journalisten. Wir sind überfüttert mit Gedanken. Das Bilderbuch verdrängt das Buch, und das ideale Bilderbuch, der Film, frißt sie beide auf. Glückliche Zeiten, als die Menschheit noch in Irrtümern befangen war! Wir hingegen stöhnen unter der Last von einigen Schock Meinungen, von denen jede einzelne nicht Unrecht hat und die doch weder einzeln noch mitsammen das Gefühl der Wahrheit geben Man könnte meinen, diese Schwierigkeit sei mehr physikalischer Art. Schließlich und endlich müsse es doch gelingen, alle diese „Ricbtigkeiten" entweder durch eine einzige große Wahrheit zu besiegen oder zu einer einzigen großen Wahrheit zusammenzufassen. Die Wahrheit vorstürmen zu lassen, die Richtigkeiten aus dem Felde zu schlagen, kurz, die Situation durch einen entscheidenden Sieg ein Ende zu machen, ist unmöglich. Und so resigniert es klingt: Das ist eine der Tatsachen, die unserer Zeit Ehre machen. Denn wenn auch keine von den Anschauungen, mit denen wir heute so reichlich über- schüttet werden, uns ganz genugtut und wenn sie auch alle weit entfernt sind,uns zu befriedigen, so ist es ihnen dafür um so gründlicher gelungen, uns anspruchsvoll zu machen. Wir wollen nicht verzichten, wollen nichts opfern von dem, was wir erkannt haben. Alle Verstandesenergie, die auf uns einspricht, uns ihre besondere Richitigkeit als Wahrheit aufzureden, die jeden Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen trachtet, beweist uns immer auch zugleich ihr eigenes Gegenteil. Jede Verkündigung, die durch Sieg das Feld behalten, uns überreden will, auf einen Teil unserer Erkenntnisse einfach Verzicht zu tun, um zur Wahrheit und Festigkeit zu kommen, vermehrt nur die Möglichkeiten unseres Denkens um noch eine. Wir alle sehnen uns nach dem Gesetz, dem Absoluten -und bleiben doch Relativisten, die das eine ohne das andere nicht denken und fühlen können, die von jedem Gedanken auch in sein Gegenteil geworfen werden. Unser Gewissen ist nicht einfach dadurch zu befriedigen, daß wir ihm einen Teil unseres Wissens opfern. Diese Befriedigung wäre nicht von Bestand, weil sie gewissenlos wäre. Denn einen Teil unseres Wissens unterdrücken, vergessen, nicht mehr wissen wollen; um der Ruhe unserer selbst oder der Welt willen, unserem inneren oder äußeren Wohlergehen zuliebe, das hieße uns selbst aufgeben. Es wäre geistiger Selbstmord: die einzige Todsünde, die keine Religion verzeiht, weil sie nicht wiedergutgemacht werden kann. Obwohl es an Verführung dazu nicht fehlt, erliegen ihr wenige. Der Sieg einer Anschauung, der wir wieder alle innerlich ohne Einschränkung verbunden sind, wäre heute nur möglich auf Grund einer letzten Verzweiflung am Denken überhaupt, einer tabula rasa des Geistes; nein, erst auf Grund einer tiefen Gleichgültigkeit, der sogar ihre eigene Verzweiflung schon gleichgültig geworden wäre. Das aber ist nicht unser Zustand. Wenn wir verzweifelt sind, dann nicht, weil wir an gar nichts mehr glauben können, weil uns alles gleichgültig geworden ist; sondern gerade umgekehrt, weil wir zu vieles einsehen müssen. Weder durch teilweises Vergessen noch durch die rabula rasa kann uns Wahrheit kommen, die uns erfüllen und uns sich zu eigen machen könnte. Sie darf unser Wissen nicht leugnen; sie muß es aufnehmen und enthalten. Nicht rückwärts auf ein Alleingültiges, sondern vorwärts zum AIlgemeingültigen führt unser Weg Alles andere, wie erhaben und tiefsinnig es sich auch gebärde, ist geistiger Selbstmordversuch. Unsere Philosophie sucht dasAllgemeingültige heute auf verschiedenen Wegen. Die ältere Weltweisheit der Universitäten strebt dorthin, indem sie einfach die Sechs- und Siebensilber der Fachterminologie immer neu paart oder neu teilt. Man könnte sie die chemische Philosophie nennen. Sie geht mit ihren Begriffen und Formeln um wie eine Chemie ohne Grenzen und Gesetze, in der sich alles binden, alles scheiden, alles aufeinander zurückführen läßt. Für uns hat dieses Gesellschaftsspiel unter Berufsgenossen, das zwar steril, dafür aber ohne Anspruch auf geistige Welteroberung ist, nur auf Umwegen Bedeutung. Anders und unserem Thema näher steht schon die jüngere akademische Weltweisheit. Sie versucht tatsächlich wieder, die ganze Welt zu erfassen, zu beleuchten und zu deuten, aber auf eine vereinfachte Art: nämlich am Typus. Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie mit aller Kraft wieder den Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt statt des Begriffes. Doch erstarrt ihr der lebendige Mensch mit seinem Reichtum schon vorzeitig zum Typ, nämlich gleich zu Anfang. In diesem besonderen Teil unserer Philosophie sind die Typen immer vor den Einzelheiten da: Arbeitswerkzeug statt Arbeitsergebnis. Dadurch wird (neben anderen Nachteilen) besonders eine Gefahr jeder Philosophie überstark: daß nämlich nicht die Welt, das Ursprüngliche, sondern die anderen Weltanschauungen, dasAbgeleitete, Grundlage und Ziel des Denkens werden. Es entsteht eine Philosophie über die andere Philosophie; Philosophie Zur zweiten, dritten, zehnten Impotenz; Bücherkritik statt Weltanschauung. Das Denken in Typen wird zu einer bloßen Demonstration am Phan- tom, zu einer geistigen Gymnastik, die ebenso akademisch-alexandrinisch versandet wie die chemische Philosophie. Daß auch im Denken jede Aktion Reaktion ist, daß jede Weltanschauung zugleich Nach-Denken, Kritik anderer Weltanschauung ist, braucht man dabei ebensowenig zu übersehen wie die andere Tatsache, daß Bücher die Hauptquelle unserer Kenntnis derVergangenheit sind Nur fragt es sich, ob sie benutzt werden als Prüfsteine oder als Grundsteine. Ein lehrreiches Beispiel bietet Schopenhauer. Sein Bannfluch über die „Windbeutel" Hegel und Fichte ist ohne Wirkung verhallt; was Reaktion an ihm war, hat seine Bedeutung verloren. Wäre nur sie sein Ziel gewesen, er wäre heute ebenso vergessen, wie unsere chemische Philosophie in fünfzig Jahren vergessen sein wird. Aber seine Reaktion war nur Kehrseite seiner Aktion, welche die Welt aIs Willen und als Vorstellung zu erweisen sich mühte. Unsere heutige Philosophie jedoch bezieht ihren ersten Antrieb immer aus der Reaktion. Sie philosophiert im Hauptpunkt die Werke der anderen Philosophen herunter oder hinauf; und obwohl sie dabei vielleicht mehr Recht hat als Schopenhauer gegen Hegel und Fichte, wird sie doch vielleicht ein wenig schneller vergessen werden. Neben der chemischen Philosophie und der Typenphilosophie steht, ihre Ergebnisse zum Teil ausnutzend, das, was man mit schiefem Ausdruck Kulturphilosophie nennt. Sie denkt nicht wie die Kantische Philosophie über Möglichkeiten und Grenzen des Denkens nach, sondern über das Leben selbst; und auch wo ihr das Denken zum Problem wird, meint sie nie das Denken als logischen Vorgang, sondern immer als Lebensakt. Von Nietzsche bis Scheler, Keyserling, Spengler hat diese unsystematische Philosophie unerhörte Triumphe gefeiert. Philosophische Standardwerke sind populär geworden wie Ullsteinromane. Da spätere Kapitel sich ausführlicher mit der Lebensphilosophie befassen, können hier flüchtige Andeutungen, nicht über den Inhalt, nur über die Methode, genügen. Die unsystematischen Philosophen gewinnen uns leichter. Wir ertragen selbst offenbare Widersprüche; denn sie liegen ja auch in der Welt selbst offen da, und die Lebensphilosophie tut ihnen weniger Gewalt an als die systematische. Es stört uns sehr wenig, wenn der Philosoph auf Seite 32 das Christentum für ein Übel und auf Seite 159 für einen Fortschritt erklärt. Wir erkennen den jeweiligen Zusarnmenhang und erheben keinen Widerspruch gegen den Widerspruch. Wir sind über das Alleingültige hinaus und noch nicht vorwärtsgekommen zum Allgemeingültigen. Werden uns daher zwei Erkenntnisse vorgelegt, die einen Widerspruch bilden, so werden wir weder die eine verwerfen noch den voreiligen Versuch machen beide zu versöhnen. Vielmehr werden wir beide Erkenntnisse mitsamt ihrem Widerspruch hinnehmen. Und hier beginnt die wirkliche Schwierigkeit der neuersten Kulturphilosophie. Sie umgeht die Gefahr, sich selbst zu widersprechen, auf ganz eigentümliche Art Um die Widersprüche mit sich selbst, zu denen Mut gehört, aufzuheben, hebt sie alle Grenzen auf. Nietzsche tat das, indem er seine Philosophie in Aphorismen faßte. Dabei hatte wenigstens jeder einzelne Gedanke noch ein Minimum von Bestimmtheit, während er auf der anderen Seite, durch die aphoristische Form, unverbindlich oder allenfalls nur in einem bestimmten Zusammenhang verbindlich wurde Eine Methode, die Arthur Schnitzler einmal ganz scharf in ein paar Worte gefaßt hat, die zwar nicht Nietzsche gelten, aber sein Vorgehen dentlicher bezeichnen als ein Band in Großquart: Es ist alles nur im seIben Augenblick wahr. Seine Nachfolger gehen anders vor. Sie empfinden peinlich eben dieses Unverbindliche einer aphoristischen Philosophie; sie möchten, der Sehnsucht der Zeit entsprechend, wieder in Quadern bauen und wissen doch, daß kein System ihnen selbst und uns genügen kann. So kommen sie Zu einer anderen Aushilfe: der Grenzenlosigkeit. Von Keyserling versteht sich das von selbst. Schon sein Titel, »Reisetagebuch eines Philosophen«, spricht deutlich genug; er hätte, ohne zu übertreiben, auch sagen können: Weltreisetagebuch eines Philosophen. Bei Spengler ist auf zwei Seiten, die man beliebig aufschlägt, die Rede etwa von englischer Politik, vom Königreich Tsu, vom Napoleonismus und Cäsarismus, vom magischen Geist und magischen Geld, vom byzantinischen Mönchtum, vom Bastillesturm, von den Abassiden, von der Restauration von 1815 ; und dazwischen von weiteren Menschen und Dingen, deren Stellung und Bedeutung vielleicht nur der Fachgelehrte genau kennt: vom Abt Theodor von Studion, von den Paulikianern, von den Churramija, von Babak, von den Karmaten, vom Jahrhundert des byzantinischen Bildersturms, von einer freikirchlichen Mönchspolitik, vom Sklavenaufstand im Irak und anderem mehr. Spengler wird erwidern, das sei eben seine Methode, das sei ja eben das Neue und Große, das seien die historischen Parallelen über Blüte und Verfall der großen Kulturen. Da erhält etwa-immer auf denselben zwei zufälligen Seiten -Bagdad den Titel eines neu erstandenen Ktesiphon; da stürmt ein byzantinischer Abt in magischen Formen die Bastille; da erhält Ali den Beinamen Spartakus des Islam. Wir werden diese Lust an und diesen Zwang zu einer Verknüpfung des einander Fernliegenden später anf Gebieten wiederfinden, die anscheinend tief unter Spengler liegen. Hier genügt vorläufig die ganz simple und materielle Feststellung, daß der Stoff bei Spengler sich nicht, wie gerade nach seiner Ansicht die Kultur es tut, aus sich selbst geheimnisvoll entfaltet, streng und magisch an seinen Zirkel gebannt. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Der Stoff gehorcht jedem Einfall, und der einzige feste Punkt in der Kulturphilosophie der Gegenwart ist der Philosoph selbst. Der Stoff ist nicht mehr in irgendeiner erkennbaren, vorausbestimmten Weise gebunden, sondern er wird mit ganz und gar persönlicher Willkür gespalten und neu vermischt. An Stelle des Gedankens, mit dem es bisher die Philosophie zu tun hatte, tritt die Stimmung. Schopenhauer, mit dem Endziel einer Befreiung von Willen und Langeweile im Nirwana, also ein Stimmungsphilosoph, ein Ästhet, ein Lyriker, fängt doch seinen ersten Band mit dem sehr bestimmten Satz an: „Die Welt ist meine Vorstellung. " Spengler, der Verächter von Stimmungen, der Verkünder des Tatmenschen, der Erniedriger der Philosophen und Dichter, fängt seinen zweiten Band mit den Worten an: "Betrachte die Blumen am Abend, wenn in der sinkenden Sonne. ." und man wundert sich, daß sich die Zeilen nicht reimen. Durch ein paar Tausend kümmerlicher Jahre hat sich die Philosophie ebenso selbstverständlich mit Denken befaßt (gleichviel, was sie auch immer über das Denken dachte und wie sie es anfing), wie sich der Maurer mit Mauersteinen, der Bäcker mit Brot befaßte. Jetzt tritt an Stelle des Gedankens die Stimmung, an Stelle der Behaup- tung die Lyrik; nein, nicht die Lyrik, sondern der grenzenloseste Menschenausdruck: die Musik, Unsere Kulturphilosophen sind verhinderte Musikanten. Damit aber ist das Wesen der Philosophie, die es mit dem Gedanken zu tun hat, aufgehoben. Diese Wandlung ist grundsätzlich verschieden von allen früheren. Wenn einem Vogel drei Beine wachsen, ist er noch immer ein Vogel, wie sehr auch die Vogelwelt gegen diese Neuerung angehen mag. Wenn ein Vogel aber sein ganzes Wesen ändert und, sagen wir, eines Tages wie eine Katze aussieht, dann haben wir trotz seiner Behauptung, er sei noch immer ein Vogel, wohl kaum mehr das Recht, ihm den Namen noch zuzubilligen, und nennen ihn besser Katze. Natürlich besagt das nicht, wenigstens nicht von Hause aus, etwas gegen Wert und Leistungen der Katze. Warum sollen Philosophen nicht Künstler werden? Und in der Tat wäre wenig dagegen einzuwenden, weun sie nur eben Künstler werden möchten. Aber sie werden es nicht. Dann nämlich müßten sie an einem begrenzten Einzelfall Weltall und Menschheit demonstrieren. Sie aber gebrauchen bis jetzt Weltall und Menschheit, um eine Stimmung zu demonstrieren. Dabei entwaffnet die Musikalität, die Grenzenlosigkeit im Zusammenholen und im Zusammenstellen des Stoffes, jede Kritik. über ein Werk, das alles sagt, was es nur will, kann auch die Kritik alles sagen, was sie will. Das ist ohne jede Schwierigkeit ganz von außen zu erweisen, aus dem äußeren, dem Druckbogenumfang moderner Philosophie. Wenn ein viel belesener Mensch ohne besondere, überragende geistige Gaben sich hinsetzt, um einen großen Band zu verfassen, in dem er jeder seiner Belesenheiten unter Zugrundelegung eines Gedankens nachgeht, so muß sein Buch viel Neues und überraschendes bringen. Deshalb ist die Kulturphilosophie der Gegenwart sehr leicht zu loben; denn sie enthält auf jeder Seite Fesselndes, Richtiges und bisweilen selbst Wahres. Sie ist sehr leicht anzugreifen; denn sie muß notwendigerweise viel Falsches bringen. Was aber das Schlimmste ist: Sie ist sehr leicht nachzumachen: denn niemand von uns kann wissen, zu welchen überraschenden und fesselnden Einzelheiten er kommt, sobald er einmal ernstlich daran geht, die Tontafeln des Assurbanipal mit dem Dollarkurs und den Zweitaktmotor mit der Porzellanmalerei Unter der Dynastie T'sin zu veknüpfen. In ihrer Wehrlosigkeit hat nun die Kritik ein merkwürdiges Auskunftsmittel gefunden. Sie tritt einfach die Flucht auf eine höhere Ebene an. Sie beendet die Kritik mit der Definition, während Definition der Anfang der Kritik ist Sie konstatiert den Eklektizismus Keyserlings und den Pessimismus Spenglers. In der Tat bleibt ihr nichts anderes übrig; denn das Eingehen auf die Einzelheiten, die nur musikalische Figuren sind, ist ja wertlos geworden. Ältere optimistische Leute sprechen immer noch von den geistige Kämpfen der Gegenwart. In der Tat aber sind geistige Kämpfe so ziemlich das einzige, was die Gegenwart sicher nicht besitzt. Die endlose und leidenschaftliche Polemik auf jedem Gebiete, die das achtzehnte und noch den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts erfüllte, hat aufgehört. Selbst politische Leitartikel werde unpolemisch geschrieben (ohne daß deshalb etwa das Zeitalter der Toleranz angebrochen wäre). Polemik ist unmöglich; wo keine Behauptung mehr steht, sondern nur noch Musik, gibt es keine Gegenbehauptung. Die Folgen ? Oben war der Ausdruck Überfütterung mit Gedanken gefallen. Aber er stimmt nicht. An die Stelle des Gedankens, der etwas Bestimmtes ist, ist die Strömung, die Richtung getreten, die etwas ganz Unbestimmtes ist. Viele Leute behaupten, sie seien über den Tod des Gedankens nicht traurig. Wirklich und gültig- sagt auch Spengler- sei ja einzig die Tat. Wir werden später auf bestimmterem Felde der Frage nahe kommen, ob der Gedanke wirklich die Tat lähmt Ganz axiomatisch aber kann gesagt werden, das Strömungen, Stimmungen, Richtungen ganz sicher die Tat lähmen. Die Strömung ist das Mittel, an allem Interesse und nichts ernst zu nehmen. Ihr allgemeinster Ausdruck liegt in den vier Worten: Es ist etwas daran, die zugleich Hochachtung und Nichtachtung ausdrücken. Wir haben die beiden großen Versuche, in der Philosophie und durch sie wieder zum Absoluten zu gelangen, bis zu ihren Ergebnissen verfolgt. Die frevelhafte Anstrengung, zugunsten unseres Wohlbefindens einen Teil unserer Erkenntnisse zu unterdrücken, führte günstigen Falles zu noch einer Denkmöglichkeit mehr neben den schon bestehenden. Der andere Versuch zusammenzufassen, zu überbauen, führte in der Philosophie -und in der Kunst ist es nicht viel anders - zur Lähmung des Denkens überhaupt; aber damit nicht zur Tat, sondern nur zu Strömungen, die aneinander vorbeigehen oder Wirbel bilden; zwischen denen aber infolge ihrer Unbestimmtheit und Grenzenlosigkeit, infolge ihrer Musikalität, weder Kampf noch Versöhnung möglich ist Gibt es einen dritten Weg, um dem Absoluten näher zu kommen? Hat Bücherschreiben wieder Sinn?
II. Die Hinterweltler
Soll das Bücherschreiben Sinn haben, so muß es offenbar das zu erfassen und klarzustellen suchen, was wirklich unsere Zeit bezeichnet: nicht die einzelnen Gedankeu, sondern die Wirbel und Strömungen selbst Aber sind Strömungen faßbar? Schon die philosophische Musik, schon das Denken in Kulturen entwaffnet ja den Gedanken und läßt Klarheit nicht aufkommen Wenn das schon bei der Einzelwelle der Fall ist, so wird offenbar die Bestimmung und Untersuchung der gesamten Strömungen und Wirbel noch mehr unter Grenzenlosigkeit und Unklarheit zu leiden haben. Wir haben ja gesehen, wie grenzenlos und unbestimmt schon ein paar beliebige Seiten etwa von Spengler sind. Soll an Stelle der Strömungen wieder der Gedanke treten, sollen statt des Wirbels wieder Streit oder Verständigung möglich sein, soll wieder ein festes Gegeneinander oder Miteinander das aufgeregte Aneinandervorüber ablösen, soll die Stimmung wieder durch das Urteil ersetzt werden, dann gilt es, in unserer Zeit ein Gebiet zu finden, das genügend bestimmt ist, um eine genaue Untersuchung zn ermöglichen, und weit genug, um bezeichnend zu sein. Ein solches Gebiet ist das der verkappten Religionen. Hier treffen sich tatsächlich die Strömungen und Wirbel, alles, was unsere Zeit stärker erregt und bewegt. Der Spielraum der verkappten Religionen ist unendlich weit, und doch haben sie im einzelnen wie insgesamt ein ganz bestimmtes Wesen. Endlich stehen auf diesem Gebiet nicht nur Scharen von toleranten, rasch erwärmten, Aber auch schnell abgekühlten Interessenten. Die verkappten Religionen verfügen -und schon das sichert ihnen Bedeutung - über Gemeinden von heißen Fanatikern, die erfüllt und streitbar für ihr Weltbild kämpfen. Was bezeichnet die verkappten Religionen? -Mysterien, Aberglauben, Vereinsmeierei, Mangel an Lebensart ? Ja, auch das. Aber durch ein ästhetisches Abseitsstellen wird man ihnen nicht gerecht; ihr Feld ist viel weiter. Es reicht von der Abstinenz bis zur Zahlenmystik, aber es reicht auch von der Astrologie zum Zionismus oder von den Antibünden (mit dem Antisemitismus an der Spitze) bis zum Yoga oder vom amor fati bis zur Wünschelrute oder von Atlantis bis zum Vegetarianismus. Dieses Hexenalphabet besetzt jeden Buchstaben doppelt und dreifach. Ein paar, längst nicht alle Gebiete: Esperanto, Sexualreform, rhythmische Gymnastik, Übermenschen, Faust-Exegese, Gesundbeten, Kommunismus, Psychoanalyse, Shakespeare ist Bacon, Weltfriedensbewegung, Brechung der Zinsknechtschaft, Antialkoholismus, Theosophie, Heimatkunst, Bibelforschung, Expressionismus, Jugendbewegung, Genie ist Wahnsinn, Fakir-Zauber, Haß gegen Freimaurer und Jesuiten, endlich das weite Gebiet des Okkultismus, das wiederum seine eigenen siebenfachen Hexenalphabete hat. Das sind nur einige von den Bewegungen, die hier verkappte Religionen heißen. Man fühlt, daß das alles irgendwie und irgendwo zusammengehört und aneinandergrenzt. Aber wo liegt der Zusammenhang? Als ich die Liste einem Freunde vorlegte, sagte er verständnisvoll, ich wolle also die Katakomben des Denken, und Gefühls untersuchen. Das trifft jedoch nur auf einige verkappte Religionen zu, und selbst dort nur äußerlich. Geheime Religionen, Geheimwissenschaften, wirkliche Katakomben des Fühlens und Denken, hat es immer gegeben. Ihr Stolz waren eben die Katakomben; sie fühlten sich wohl darin;und ihre Verborgenheit, ihr Geheimtun gab ihnen in den eigenen Augen besondere Bedeutung. Gewiß ist das auch noch heute der Fall. Gewiß sitzt auch noch jetzt manche verkappte Religion in ihrer Katakombe, ganz erfüllt von ihrem sektiererischen Stolz und von derTatsache, daß zu ihrer unterirdischen Behausung nur wenige Zugang und Eintritt haben. Aber damit begnügt sich die zeitgemäße verkappte Religion nicht mehr. Ganz im Gegenteil: sie erhebt nicht nur den Anspruch, weiser und besser zu sein als alle Welt und gegen alle Welt recht zu haben - was Mysterien immer getan haben-, sondern sie schickt sich heute allen Ernstes und mit aller Kraft dazu an, die Oberwelt zu erobern. Soweit verkappte Religionen aus Katakomben stammen, drängen sie jetzt stürmisch ans Tageslicht? Nein, zum Platz an der Sonne. Aber nicht alle geben sich geheimnisvoll. Nicht alle sind Sekten. Nicht alle stammen aus Katakomben. Viele haben von allem Anfang an im vollem Lichte gearbeitet. Ein Teil, wie etwa die Psychoanalyse, hat Brief und Siegel wissenschaftlicher Anerkennung seit längerem gefunden. Ein anderer, wie die Lehre von der Heldenanbetung, vom Übermenschen, von amor fati, besitzt Weltbedeutung. Verkappte Religionen wie Kommunismus und Faschismus haben das Antlitz von Völkern und Ländern gewandelt. Und selbst eine viel engere Bewegung wie der Antialkoholismus hatte begonnen, die Welt zu erobern. Mit Mysterien, Sekten, Katakomben des Denkens - oder welchen Ausdruck man wählen will- sind also immer nur einzelne der verkappten Religionen getroffen, und selbst diese nicht in jener Eigenschaft, die heute für sie am bezeichnendsten ist, dem Willen zur Welteroberung. Daß alle diese verschiedenen, sich zum Teil schroff und feindselig gegenüberstehenden Willensrichtungen untereinander verwandt sind, bleibt trotzdem deutlich zu spüren. Nur, wo liegt die Verwandtschaft? Wer Abstinenzler ist, wird selten Antisemit sein; wer Pazifist ist, wird den Anbeter des Übermenschen bekämpfen; wer für Esperanto schwärmt, wird den lächerlich finden, der sich für Runen begeistert; wer für Heimatkunst ist, ist wahrscheinlich gegen Okkultismus. Sicher allerdings- und damit fühlen wir umso stärker, daß alle diese Gebiete nur Provinzen eines einzigen Landes sind - sicher ist das längst nicht. Der Kommunist mag den Faschisten verachten und heftig bekämpfen: trotzdem sind Kommunismus und Faschismus so sehr vom gleichen Stamme, daß ihre Anhänger mit erstaunlicher Leichtigkeit die Plätze wechseln. Aber das mag von der vielberufenen Berührung der Gegensätze herkommen. Es gibt jedoch noch andere und schwierigere Fälle. In bestimmten verkappten Religionen findet sich aus Gründen, die noch zu untersuchen sein werden - der Haß gegen dic Freimaurer mit dem Haß gegen die Jesuiten ganz untrennbar zusammen. Diese Ehe wird nicht im geringsten dadurch gestört, daß Jesuiten und Freimaurer unter sich Gegensätze sind. Nach der Regel: Die Freunde meiner Freunde meine Freunde, die Feinde meiner Freunde meine Feinde, eine Regel, die auch im Geistigen, ja nur im Geistigen gilt, sollte man annehmen, daß, wer die Jesuiten haßt, die Freimaurer schätzen müßte und umgekehrt. Aber der Gegensatz macht nicht die geringsten Schwierigkeiten. Es kommt hier offenbar auf ganz andere Dinge an als auf Logik. Die Gegensätze zwischen den Gebieten, die zunächst so willkürlich zusammengewürfelt anmuten, sind nicht so bestimmt, wie sie im ersten Augenblick aussehen. Aber was berechtigt dazu, sie unter dem Namen verkappte Religion zusammenzufassen? Ihnen allen, der Abstinenz wie der Astrologie, dem Yoga wie dem Vegetarismus, dem Esperanto wie der rhythmischen Gymnastik, dem Kult des Übermenschen wie der Psychoanalyse, dem Antialkoholismus wie der Brechung der Zinsknechtschaft, der Jugendbewegung wie dem Antisemitismus: ihnen allen wohnt eine Überzeugung inne, die mit der Überzeugung jeder Religion verwandt und doch ihr gerade entgegengesetzt ist. Religion sagt: Der letzte Sinn deines Daseins liegt jenseits deines Lebens, liegt über deinem Leben; ganz gleichgültig, wie sich die einzelne Religion auch immer Himmel und Jenseits ausmalen oder ob sie überhaupt auf solche Ausmalung als irreligiös und utilitarisch verzichten mag. Verkappte Religion hingegen sagt: Hinter deinem gewöhnlichen Leben und hinter der gewöhnlichen Welt liegt etwas bisher Verborgenes, etwas zwar seit langem Geahntes, aber für uns nie Verwirklichtes, eine noch nie realisierte Möglichkeit, der wir beikommen können und jetzt beikommen wollen und beizukommen gerade im Begriff sind. Der Anhänger der verkappten Religionen glaubt an etwas hinter der Welt. Man kann ihn kurzweg den Hinterweltler nennen. Der Fromme glaubt an ein unvorstellbares Reich jenseits der Wolken, der Hinterweltler an eine neue Wirklichkeit hinter derTapete. Während dem Frommen Diesseits und Jenseits streng getrennte Reiche sind, ist der Hinterweltler bis in den Kern seiner Seele davon durchdrungen, daß die gewöhnliche Welt und die Hinterwelt in den lehhaftesten wirklichen Beziehungen stehen und daß eines Tages all das, was heute noch Hinterwelt ist, die Welt besiegt und durchdrungen haben wird. An diesem Siege zu arbeiten, die Hinterwelt zur Welt zu machen, ist der Inhalt seines Glaubens. Hier scheiden sich ganz scharf Religion und verkappte Religion. Religion sagt uns, daß wir alle noch nicht vollkommen sind, weil wir sündige und schwache Menschen sind. Verkappte Religion sagt, daß wir in der Majorität noch nicht vollkommen sind, weil wir in unserer Erkenntnis zurückgeblieben sind und uns sträuben, die hinter der gewöhnlichen Welt liegende Wahrheit zu erkennen und anzuerkennen. Damit sind auch zwei Einwände erledigt, die schon bei Erwähnung der Katakomben gestreift worden sind. daß nämlich viele der aufgezählten Gebiete doch ganz weltläufig und „praktisch" seien und mit Religion offenbar nichts zu tun hätten. Wolle man andererseits die Liebe, die Kraft, den Eifer, die Ausschließlichkeit, mit der ein Mensch sich einer Sache widmet, schon als verkappte Religion ansehen, dann könne man von Fall zu Fall auch Schachspielen, Rosenzucht, Musik, weibliche Handarbeiten und manches andere als verkappte Religion ansehen. Und die verbreitetsten seien dann wahrscheinlich Fußball und Geldverdienen. Diese Einwände verfehlen ihr Ziel. Nicht nur einige verkappte Religionen, wie Abstinenz und Psychoanalyse, sind praktisch. Sie sind alle praktisch Sie sind alle von dieser Welt. Darin gerade unterscheiden sie sich von den Religionen. Auf der anderen Seite sind Ausschließlichkeit und Intensität der Hingabe nicht entscheidend für die verkappten Religionen, wenn sie sich auch meist im Verein damit finden. Jemand mag nur an seinem freien Wochenende das Faustgeheimnis oder das Shakespeare Geheimnis zu ergründen suchen; dennoch ist er ein Hinterweltler, weil er einen verborgenen Sinn, eine neue Wirklichkeit zu erlangen hofft. Auf der anderen Seite mag der große Schachspieler all seine Zeit, sein ganzes Denken und was er an Herz hat dem Schachspielopfern, mag er im Schachbrett das Sinnbild der kampferfüllten Welt, im Schachkönig den wirklichen König, in den Bauern wirkliche Bauern sehen: Er behauptet doch höchstens, Schach sei der Spiegel der Welt. Er wird nie behaupten, daß das Schach und die Gesetze und Geheimnisse des Brettes ihm einen neuen Sinn der ganzen Welt erschließen. Umgekehrt ist natürlich nicht jeder Esperantist, nicht jeder Psychoanalytiker, nicht jeder Antialkoholiker ein Hinterweltler. Wenn jemand Esperanto als ein brauchbares Hilfsmtittel der Handelskorrespondenz ansieht, so hat er vielleicht recht damit; jedenfalls läßt sich darüber streiten. Erst wenn sich nicht mehr mit ihm streiten läßt, erst wenn sich für ihn hinter dem Esperanto die Hoffnung auf eine neue Welt verbirgt, betritt er das Gebiet der verkappten Religionen. Wenn ein Trupp Wandervögel, Knie nackt und Laute um den HaIs durch die Lande zieht, so sind verschiedene Ansichten darüber möglich, ob diese Übung vom gesundheitlichen Standpunkt nützlich und erhebend oder vom ästhetischen und politischen mit Mängeln behaftet ist. Die verkappte Religion fängt erst an, wo der Streit aufhört: in dem Augenblick nämlich, wo der Trupp Wandervögel behauptet, er sei nicht auf Grund seiner gesunden Beine und Lungen sondern auf Grund seiner Überzeugung von der Wichtigkeit des Jungseins etwas Besonderes und Welterlösendes. Erst die Hoffnung auf die Hinterwelt, das Bemühen, mit ihr die alte Welt zu erobern und zu durchdringen, macht das Wesen der verkappten Religion aus.
III. Aus einem Punkte zu kurieren
Alle verkappten Religionen sind Monomanie. ln tausend Formen, die immer wieder wechseln, stellen sie einen Gedanken in die Mitte und suchen von ihm aus und durch ihn den Menschen zu formen. Manche verkappte Religion verfügt über ein ganz ungeheuerliches Gedankengebäude: ln ihrer Mitte steht immer eine Richtigkeit, meist sogar eine Wahrheit. Sie wird in ihrer "Wirkung" gestärkt, zugleich aber um ihre echte Wirkung gebracht, weil sie alle anderen Gedanken einschluckt Für jeden entflammten Anhänger jeder Religion gibt es nichts mehr , das mit seinem Glauben nicht irgendwie in Zusammenhang stünde. Das rundet ihm sein Weltbild, und gerade der Umstand, daß sein Glaube alles umfaßt, alles belebt, daß nichts mehr ihm gleichgültig ist, diese Wirkung seiner Religion beglückt ihn. Der wahrhaft religiös Ergriffene sieht die ganze Welt neu; sieht sie, als ob sie für ihn gemacht wäre. Auch der Hinterweltler sieht die ganze Welt neu. Aber ihm dienen alle Dinge nur zur Bestätigung seiner Monomanie. Dem Religiösen wird die Welt größer. Er findet noch im Entlegensten eine neue Seite seines Glaubens, die ihm bisher nicht aufgegangen war, und in diesem neuen Licht leuchtet ihm auch das Fremdeste in strahlendem Glanz auf. Dem Hinterweltler schrumpft die Welt ein. Er findet in allem und jedem Ding nur noch die Bestätigung seiner eigenen Meinung. Das Ding selbst ergreift ihn nicht mehr. Er kann nicht mehr ergriffen werden; soweit ihn die Dinge noch angehen, sind sie ihm nichts als Schlüssel zur Hinterwelt. Man kann das beinahe experimentell nachweisen. Man spreche einmal mit einem Menschen, dem etwa der Antisemitismus zur verkappten Religion geworden ist, über das Salzfaß auf dem Eßtisch. Sein besessener, nach Bestätigungen hungernder Geist wird nach zwei Sätzen bei der These angekommen sein, daß schon die alten Juden beim Salzhandel aus Phönizien betrogen hätten oder daß der Prozentsatz jüdischer Angestellter in den staatlichen Salinen natürlich viel zu hoch sei. Er ist positiv unfähig geworden, ein Salzfaß zu sehen. Er erblickt es nicht mehr in seiner Nüchternheit oder in seiner Schönheit, als Salzbehälter oder als Behälter von Streit und Tränen, als Gradmesser der ehelichen Liebe, als Anzeiger der Reinlichkeit im Haushalt oder als Mittel, frische Weinflecken aus dem Tischtuch zu entfernen. Er sieht darin nur noch etwas, was ein anderer auch bei regster Phantasie in dem SaJzfaße einfach nicht finden kann: den Juden. Auch der Fromme (falls er nicht, was häufig vorkommt, seine Religion zur verkappten Religion macht) sieht vielleicht das Salzfaß nicht nur als Salzfaß. Vielleicht geht ihm die Bedeutung des Wortes vom Sa!z des Lebens auf, die ihm bisher verborgen geblieben war. Dann sieht er das Salzfaß neu. Für den Hinterweltler aber ist es einfach verschwunden, nicht da, weggezaubert. Auch alle Religionen und Philosophien haben einen Gedanken in der Mitte, ganz wie die verkappten Religionen; aber es kommt darauf an, was dieser Gedanke mit der Welt anfängt. Es bleibt ein Einwand. Verkappte Religionen haben sich auf allen Gebieten praktischer nnd geistiger Tätigkeit angesiedelt; sind ihre Monomanien vielleicht nur besonders hervortretende Formen der Spezialisierung? Nein. Denn wie wir schon sahen, sind diese Monomanien sehr häufig geneigt, selbst dann miteinander Verbindungen einzugehen, wenn jede von ihnen der anderen logisch entgegengesetzt ist; es wurde oben schon das Beispiel von den Antifreimaurern erwähnt, die fast gesetzmäßig zugleich Antijesuiten sind. Eben daß sie sich nicht spezialisieren, eben daß sie nicht auf ihrem Gebiete beharren können, macht ja aus Bewegungen, in denen immer ein Gran Wahrheit ist, erst die verkappten Religionen, von denen jede die ganze Welt nicht nur erobern, sondern auch verschlucken will. Spezialisierung ist dem Verschluckenwollen fast auf dieselbe Art entgegengesetzt, wie die Religion der verkappten Religion entgegengesetzt ist. Spezialisierung bedeutet, daß sich ein Arzt mit dem menschlichen Auge beschäftigt und keine Seitensprünge zum Hirn macht; daß sich ein Sinologe mit der fünften Dynastie abgibt, ohne Seitensprünge zu Herrn Sun Yat-sen zu machen; daß ein Ingenieur Wasserturbinen baut und sich nicht einfallen läßt, plötzlich Flugzeuge zu konstruieren. Aber gerade durch ihre Spezialisierung kann ihnen Größeres aufgehen. Der Augenarzt sieht den Menschen vielleicht nur von einer Seite: als sehendes Wesen. Wenn er ein richtiger Spezialist ist, hat er sogar Lust, einen Beinbruch durch eine Augenoperation zu erledigen; aber er wird nie so besessen sein, theoretisch zu bestreiten, daß der Mensch auch hören und riechen könne. Gerade die genauere Kenntnis seines Spezialgebietes ist es, die ihn davor bewahrt, alles zu verschlucken und monoman zu werden. Der Sinologe hält gewiß die Kenntnis der fünften Dynastie für das Wichtigste; aber er wird nicht geneigt sein, dem das Daseinsrecht zu bestreiten, der über die vierte oder sechste arbeitet (eher dem, der den verfehlten Ehrgeiz hat, sich gleichfalls an die fünfte zu wagen). Der Wasserturbinenbauer sieht natürlich die Zukunft der ganzen Welt in den Wasserkräften; aber er wird deshalb doch Flugzeuge nicht für Irrtum und Blendwerk erklären. Und wenn der Spezialist zufällig ein Genie ist, so wird er in der fünften Dynastie, in der Turbine, im Auge die ganze Weltgeschichte und alles Menschenwesen wiederfinden. Sein Spezialgebiet wird das ganze Menschenleben und den gesamten Kosmos ausstrahlen. Das Spezialgebiet des Hinterweltlers tut gerade das Gegenteil. Es schluckt den ganzen Kosmos mitsamt allen Konkurrenzmonomanien ein. Auch ein anderer Zug ist den Spezialisten wie den Hinterweltlern gemeinsam und kommt doch bei beiden aus entgegengesetzten Quellen: der Stolz, das Bewußtsein der Überlegenheit über alle anderen. Während jedoch beim Spezialisten dieses Überlegenheitsgefühl auf ein Sondergebiet begrenzt ist, hält sich der Hinterweltler , wenn nicht gleich für den besseren Menschen, so doch wenigstens für den weitaus überlegenen. Er dünkt sich nicht etwa klüger oder fähiger, sondern, ohne sich auf eine bestimmte Eigenschaft zu beschränken, glattweg überlegen. Und er vergißt Gebiete, auf denen er dieses Überlegenheitsgefühl trotz aller Befähigung, Entferntestes zusammenzuholen und zu verschlucken, nicht aufrechterhalten kann - sofern es einen Gegenbeweis in Tatsachen gibt, gegen die selbst er nicht taub bleiben kann. Denn der erstaunlichen Befähigung zum Brückenschlagen entspricht eine vielleicht noch erstaunlichere Fähigkeit des Vergessens in dem Augenblick, wo ihm irgend etwas nicht Wegzuleugnendes die Monomanie zu stören droht. Es gibt Hinterweltler, die z. B. die körperliche Kraft anbeten, etwa in Gestalt der Rasse. Passiert einem von ihnen das Unglück, bei einem Zusammenstoß mit jemandem, dem körperliche Kraft nicht Rasse-, sondern nur Muskelsache ist, den kürzeren zu ziehen, so wird er je nach Anlage entweder behaupten, es sei sein Wille gewesen, und dafür tausend Gründe finden; oder er wird sagen, der andere habe ihn hinterrücks überwältigt. Es wäre aber falsch, zu meinen, daß er lüge. Seine Monomanie blendet ihn so, daß er selber nach dem zweiten oder dritten Erzählen (wahrscheinlich wird er beides, den Willen und das Beinstellen, erzählen) unbedingt glaubt, was er sagt. Der demütige Stolz des echten Frommen ruht auf der klaren Einsicht, daß er in Gott ein Nichts und Gott in ihm alles ist. Überlegenheitsgefühl und Stolz des Spezialisten stützen sich auf Leistungen. Des Hinterweltlers Überlegenheit gründet sich auf einer Meinung, von der mit einer für den Nichtbefangenen unverständlichen Leichtigkeit Teile geändert, vergessen, neue Teile angezogen werden können, während ihm doch durchaus das Gefühl bewahrt bleibt, eine einheitliche und immer dieselbe Anschauung zu haben. Der Magen der Monomanie ist weit und besitzt eine außerordentlich kräftige Verdauung. Und doch sagten wir soeben mehrmals, seine Meinung sei sehr bestimmt. Genauer ist zu sagen, daß seine Ablehnung sehr bestimmt ist. Das erlaubt ihm, alle Türen zur Hinterwelt zu öffnen. Erst das macht seinen Schlüssel zum verstellbaren Dietrich, der immer derselbe bleibt und ihm doch alle Pforten aufschließt. Weitaus die meisten und, was bezeichnend ist, die äußerlich wirksamsten der verkappten Religionen sind Antibünde, was bei den meisten ja schon der Name verrät, bei anderen aber erst in der Beweisführung für ihre Idee hervortritt. So behauptet etwa der Vegetarismus viel weniger, daß Pflanzenkost eine blühende Gesundheit schaffe, als, daß Fleisch essen die Gesundheit untergrabe. Für die gleichmäßige Arbeits- und Güterverteilung bringt der Kommunist gewöhnlich viel weniger Liebe und Begeisterung auf als für die Abneigung gegen den Kapitalisten. Und umgekehrt begeistern sich die Anbeter des Übermenschen viel weniger am Übermenschen, als sie sich vor dem profanum vulgus ekeln. Kaum ein Pazifist hat noch je die Herrlichkeit des ewigen Friedenszustandes mit Schwung auszumalen gewagt; aber auf das Ausmalen der Schrecken des Krieges, die schon realistisch gesehen groß genug sind, ist Phantasie in verschwenderischer Fülle verwandt worden...
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