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Martin L.

EROI! - CAMERATA MEDIOLANENSE in Leipzig

Rückblick auf das Neujahrskonzert 2007


EROI! - CAMERATA MEDIOLANENSE in Leipzig
Kategorie: Spezial
Wörter: 1666
Erstellt: 16.01.2008
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Nachdem ich mich einigermaßen an das neue Jahr gewöhnt und von den Feiertagsräuschen erholt habe, bin ich endlich in der Lage, einen ersten Rückblick zu machen, und zwar auf die von EIS UND LICHT organisierte Silvester-Veranstaltung in Leipzig/Engelsdorf. Das Ganze wurde wieder einmal dank STEPHAN POCKRANDTs nimmermüden Idealismus ermöglicht, der dringend nötig ist, um zu erwarten, ein Subkultur-Nischen-Konzert mit vier internationalen, aus allen Ecken Europas einzufliegenden Bands, in einem abgelegenen Vorort in Mitteldeutschland, werde sich in irgendeiner Weise rentieren. Der Veranstaltungsort, ein Metalschuppen namens "Hellraiser", war dann aber doch recht voll - wenn auch nicht gestopft, sondern gerade angenehm - mit einem Publikum, das - ebenso idealistisch - von weit her zusammengeströmt war. Ich kam mit der Berliner Neofolk-Fraktion (hallo Krischa, Corina, Tim, Daniel & Daisy!) eingeflogen und traf vor Ort auf einige alte und neue Bekannte. Nicht wenigen ist es so gegangen, sodaß eine gewisse, recht angenehme "familiäre" Atmosphäre vorherrschte.

Eröffnet wurde das Programm mit den dänischen DIE WEISSE ROSE, die Line-Up bestand aus Frontmann NIHIL, unterstützt von MARCEL und der entzückenden NICOLE, für ein paar Nummern kamen auch GERHARD HALLSTATT von ALLERSEELEN und DIMO von den bulgarischen SVARROGH dazu. Über diesen Auftritt wurde in meinem näheren Wahrnehmungsumkreis fast ausschließlich gelästert. Die Jungs und das Mädchen standen stramm mit ernsten Mienen, schwarzen Uniformen und zusammengekniffenen Arschbacken auf der Bühne, und trommelten mit stupender Präzision martialische Rhythmen, als wollten sie jeden Augenblick nach Polen einmarschieren. Wie es bei ihrem Bandname zu erwarten war, eröffnete das Konzert noch dazu mit dem Urteilsspruch FREISLERs, der die GESCHWISTER SCHOLL an den Galgen brachte, ein Sample aus dem Film "Sophie Scholl" von MARC ROTHEMUND (daß ich hier die Geschichte der studentischen Widerstandsgruppe nicht weiter zu erzählen brauche, setze ich voraus.) Zusätzlich trugen die Bandmitglieder, inklusive GERHARD, schwarze Armbinden mit einer stilisierten weißen Rose, eine Ästhetik und Symbolik, die - muß ich es noch dazusagen? - natürlich an DEATH IN JUNE erinnert. Dementsprechend fielen auch die kritischen Kommentare aus, "Nicht schon wieder ein DIJ-Klon!", "Überflüssig", "Nichts Neues" und außerdem hätten ja LES JOYAUX DE LA PRINCESSE die "Weiße Rose" bereits vor Jahren und noch dazu viel besser gewürdigt.

Ich kann dagegen nun nicht wirklich viel einwenden, aber da bei Rhythmen dieser Art, feschen Uniformen und blonden, gothic-angehauchten Mäusen an der Trommel meine kritische Hirnfunktion abgeschaltet wird, genoß ich den Auftritt immens. Natürlich ist die ganze
Show typisch für die notorische Neofolk-Verkorkstheit. Da werden Ästhetik und Gestus des Faschismus lustvoll-ritualistisch zelebriert, während die "Message" eindeutig "antifaschistisch" (wenn auch nicht in einem "linken" Sinne) orientiert ist. NIHIL verabschiedete sich in der Schlußnummer pathetisch mit ausgestreckter Faust und forderte vernehmlich "Raise your fist against the oppressor!!" Es gehört schon eine gewisse Dreistigkeit dazu, sich als Bandlogo ein "faschistisch" anmutendes Emblem aus einem Symbol des Widerstandes zu designen. Ich lasse es einmal dahingestellt, ob das sublime künstlerische "Ambivalenz" ist oder geistige Verwirrung oder mittelmäßig kreatives DIJ-Epigonentum, Tatsache ist, daß es mir eine kolossale Dröhnung verschafft hat, und das reicht erstmal für mich, um die Gruppe gut zu finden. Sehr schön auch der Auftritt von GERHARD (ebenfalls mit Armbinde), aus dem Text konnte ich die Zeilen "Die Toten sind nicht tot" identifizieren, kommt mir bekannt vor, ich kann aber nicht sagen, von wem das stammt. Eingestreut war die sich wiederholende Bemerkung "Den Bass bitte lauter!!", aber das gehörte vermutlich nicht zu der dargebrachten Lyrik. (Anmerkung: Die Soundqualität war live WESENTLICH besser als in den verlinkten Videos. Das gilt auch für alle folgende verlinkten Ausschnitte. )

Von dem Trommel-Gedöns der WEISSEN ROSE blutrauschartig aufgeputscht, konnte ich die nachfolgenden moderateren Auftritte von ROME und NEBELUNG nur antiklimaktisch empfinden, meine Nerven waren zu sehr auf stärkere Reize gespannt. Beide Male verlor sich mein Interesse nach wenigen Minuten. Darum meine Entschuldigung an alle Fans der beiden Gruppen: ich habe deren Auftritt aus Langeweile-Gründen schlicht und einfach verpennt, und kann leider gar nichts Vernünftiges dazu sagen, außerdem war ursprünglich Roy "Blut und Geist" L. mit der Berichterstattung beauftragt, und ich habe mich darauf verlassen, daß er die Auftritte pflichtbewußt über sich ergehen läßt, während ich Party mache. Dazu möchte ich bemerken, daß ich die CDs von ROME sehr schätze und auch die schicken T-Shirts mit dem Speerwerfer. Bei NEBELUNG konnte ich zumindest beobachten, daß der Auftritt großen Anklang fand, und die Zuhörer sich grüppchenweise um die Bühne kuschelten. Die meditative Beschaulichkeit der Musik wollte mir aber nicht so recht zu dem Ambiente und der doch recht suboptimalen Akustik des Raumes passen.

Irgendwann schlug die Mitternachtsstunde, und das Publikum ergab sich für etwa 45 Minuten einem allgemeinen Rausch von Beglückwünschungen, Umarmungen, Sektglasanstoßen und SMS-Getippe. Draußen vor der Tür brach der Krieg aus, Lärm, Kracher, Feuerwerk überall. Die Laune war also am Höhepunkt und die Erwartung zum Zerreißen gespannt, als endlich die Stars des Abends die Bühne betraten. Dazu muß ich anmerken, daß ich (neben Roy L. und Dominik T.) Exponent jener italophilen Fraktion bin, die den mediterranen Neofolk für den besten und reizvollsten unter den aktuellen Projekten halten. Man denke an AIN SOPH, CALLE DELLA MORTE, IANVA, ARGINE, FORESTA DI FERRO, ATARAXIA und eben - Fanfare! - CAMERATA MEDIOLANENSE. Die fünfköpfige Gruppe, bestehend aus ELENA, DANIELA BEDESKI, TREVOR (NORTHGATE), MANUEL AROLDI und MARCO COLOMBO, debütierte 1994 mit dem Album "Musica Reservata". Viele Projekte, die im Szene-Kontext gehört werden, sind von einem sublimen Dilettantismus geprägt, der auch seine Reize und Sternstunden hat, CAMERATA jedoch ist eine Gruppierung aus klassisch ausgebildeten Musikern, die eine intensive Kenntnis alter Musik (besonders Barock und Renaissance) besitzen. Die Bandmitglieder, allen voran ELENA haben professionelle Erfahrung in klassischen und Mittelalter-Ensembles, ein Nebenprojekt ist etwa die exklusiv auf alte Musik zugeschnittene CAMERATA SFORZESCA, die auch nur an "angemessenen Orten" wie "Kirchen, alten Palästen, Monumenten, Villen und historischen Gärten" auftritt. Der Ausdruck "Camerata" (Mediolanense=Milano=Mailand) bezeichnete einst die "Bruderschaften", musikalische "Zünfte" (der Ausdruck "Kammermusik" leitet sich daraus ab), an deren Tradition die Gruppe anknüpft. Bei der Auswahl ihrer Texte sind CM stets geschmackssicher, anspruchsvoll und klassisch akzentuiert; so wurden bisher DANTE ALIGHIERI, TORQUATO TASSO oder HEINRICH HEINE vertont. Gleichzeitig haben alle Mitglieder ihre Wurzeln im "Underground", was dem Projekt auch anzuhören ist. Die Musik von CM ist Götterspeise für alle, die an "monumentaler Unterernährung" leiden, und hat, wie so vieles, was unter dem Etikett "Neofolk" läuft, mit "Folk" fast gar nichts zu tun, es dominieren "richtige Instrumente", Schlagzeuge, Keyboards. CM, das ist kühler Klassizismus neben latinischer Theatralik und marmorner Romantik. Ein besonderer Reiz ergibt sich oft aus dem Wechselspiel zwischen männlichen und weiblichen Stimmen. Sängerin DANIELA ist eine authentische, grazile Diva mit einer fesselnden Bühnenpräsenz. Sie verfügt über einen kraftvollen, nahezu opernhaften Sopran, der die Aufnahmen der Gruppe unverwechselbar macht. Mit einem Wort: CM sind wie keine andere Band auf der Welt, allenfalls die befreundeten ATARAXIA können mit ihnen verglichen werden. Wer mehr über das Selbstverständnis der Gruppe wissen will, sei auf das ausführliche Interview verwiesen, das in ZINNOBER V/2003 erschienen ist.

In besagtem Interview bemerkte DANIELA BEDESKI: "Wir betrachten unsere Konzerte als Rituale". Dementsprechend war auch das Neujahrskonzert in Leipzig inszeniert. Nach der Ankündigung durch eine reizende italienische Moderatorin betraten DANIELA und ELENA die Bühne fackeltragend, hinter schwarzen Schleiern, ein Anblick, der allein die Atmosphäre spannungsvoll mystisch auflud. Was dann folgte, war ein einziger Rausch an herrlicher Musik und stilvoll theatralischer Darbietung. Viele mir unbekannte und neue Lieder waren zu hören, aber auch "Hits" wie "L'Homme Armé" und "Il Trionfo di Bacco e Ariana" oder "Balcani in fiamme". Die Musik setzte sich aus stark im Vordergrund stehenden Trommeln (Es scheint, daß alle Bands des Abends dasselbe Set benutzt haben), Keyboards und Gesang zusammen, was ich in dieser beschränkten Form ein wenig schade fand; gern hätte ich "richtige" Bläser und Streicher gehört, um das authentische CM-Hörerlebnis zu evozieren - auch war wie gesagt die Akustik nicht gerade optimal, aber angeblich auf Wunsch der Gruppe "like in an old church", mit viel Hall, eingestellt. Das Konzert ging ziemlich schnell zu Ende, ohne daß das Publikum gesättigt gewesen wäre. Der Saal tobte vor "Zugabe!", "Viva Milano!" und "Bravo"-Rufen. Die Gruppe ließ sich zu drei (!) Zugaben hervorlocken. DANIELA erschien nun zusammen mit ELENA im Fetisch-Outfit à la NACHTPORTIER und gab drei deutsche, (zum Teil vom Blatt abgelesene) Chansons zu besten, mit einer Grandezza, Eleganz und Stimmgewalt, die es locker mit UTE LEMPER aufnehmen könnte. Schließlich wurde dem tosenden Wunsch des ekstatischen Publikums nach "LILI MARLEEN" stattgegeben. Martialisch, dekadent-erotisch und herzzerreißend zugleich hat diese Schlußdarbietung mir den Rest gegeben; ich gestehe, ich hatte buchstäblich Tränen in den Augen und eine Gänsehaut, die ich noch heute als Schleifpapier benutzen kann. Als CM dann unwiderruflich die Bühne verließen, fühlte sich das wie ein schmerzhafter Entzug an. Die Ovationen dauerten noch lange an. Jemand rief frenetisch-bettelnd "NICHT AUFHÖREN! VON VORNE ANFANGEN! SCH**** AUF ALLERSEELEN!"

ALLERSEELEN waren nämlich als Überraschungsgast angekündigt, und so gab GERHARD im alpinen Trachtenhemd, begleitet von DIMO und dem Ensemble von DIE WEISSE ROSE, noch ein paar Songs aus seinem Repertoire im DAF-artigen Sprechgesang zum Besten, wobei er sich als eine wahre Rampensau entpuppte, so energetisch-aggressiv war der Vortrag. Es mag nicht der qualitativ Beste aller ALLERSEELEN-Auftritte gewesen sein, aber ein schöner und "kultiger" Schlußpunkt dieses wohl für alle Beteiligten unvergeßlichen Abends war es doch. Eine immer kleiner werdende Gruppe von glücklichen, berauschten Menschen feierte noch bis in die frühen Morgenstunden in der Neofolk-Disco im Nebenraum (jedes dritte Lied eine DIJ-Nummer). Mit Saturnalien dieser Art läßt sich das neue Jahr gut beginnen!

Dank an Madame Paquerette und Philipp für die Fotos!


 
Martin L. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Camerata Mediolanense - Offizielle Homepage
» Allerseelen @ MySpace
» Die Weisse Rose @ MySpace
» Rome @ Myspace
» Nebelung Homepage
» Eislicht Homepage

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