DR. STRANGELY STRANGE - Kip Of The Serenes
(1969, Irland, Island Records) Fragt man nach den Genialen Komödianten des Psychedelic Folks, so werden viele - und nicht unbedingt böse Zungen - instinktiv auf das schottische Duo HERON und WILLIAMSON verweisen, die erfolgreicher als alle anderen Hippie-Propheten ihrer Zeit Nonsens gewollt mit Metaphysik verwechselten (oder umgekehrt). Recht eigentlich – und d.h. unabhängig der Verkaufszahlen – wäre dabei jedoch ein Blick nach Irland noch sehr viel ergiebiger. Mitte der Sechziger gründete ein verrückt-charmantes Dreiergespann aus Dublin die Band mit dem schönen Namen DR. STRANGELY STRANGE, der zeitgenössische Musikenthusiasten zugegeben zunächst an mäßig originelle Vorstadt-Rapper wird denken lassen. Nach zwei recht verschiedenen Alben, die 1969 und 1970 über ISLAND und VERTIGO ohne viel Resonanz erschienen und einer ausgedehnten Tour durch Nord- und Mitteleuropa, war die Band bereits aufgelöst und Geschichte, hatte jedoch während ihrer kurzen Bestehenszeit einen fürwahr eigenartigen wie eigenständigen Mikrokosmos hinterlassen, der sich aus unzähligen Allegorien und modernen Mythen zusammensetzt. DR. SS war in erster Linie ein Kind der Dubliner Hippie- und Beatkultur. TIM BOOTH und IVAN PAWLE kannten sich von ihrer Zeit am Trinity College, wo Booth bereits in die lokale Folkszene involviert und an der Gründung des universitätseigenen Folkclubs beteiligt war, während Pawle in der R'n'B-Band THE VAMPIRES spielte. Booth war außerdem ausgebildeter Graphikdesigner und zeichnete eher aus Spaß gelegentlich kleinere Comic-Strips, z.B. über die fiktive Band „The Mighty Cretins“, wohl eine bissige Kontrafaktur der irischen MIGHTY AVON SHOWBAND. Aus einer ganz sicher furchtbar intellektuellen Faszination für die Comics des MARVEL-Universums heraus, wählte sich die Band den Helden DR. STRANGE als Namenspatron, dessen Abenteuergeschichten immer unheimlich surreal und mystisch inszeniert waren. Zunächst mit HUMPHREY WEIGHTMAN, dann mit BRIAN TRENCH, die beide jeweils nach kurzer Zeit die Band fluchtartig verließen, traten DR. SS seit 1967 in nahezu allen gängigen Dubliner Folkclubs und Pubs auf, in denen sie aufgrund ihrer eigenwillig verschrobenen Attitüde und einem leichten Hang zu den gerade in Mode kommenden psychedelischen Klängen aus dem Ausland, nicht gerade Stürme der Begeisterung auslösten, wenngleich sie für die Beatniks und Hippies der Stadt dadurch schnell zu Leitfiguren wurden. Erst spät lernen Tim und Ivan den in England aufgewachsenen Maler und Organisten TIM GOULDING kennen, als sich herumgesprochen hatte, dass dieser in Besitz eines Harmoniums sei und da die beiden Stranglies ein solches unbedingt in ihre Kompositionen zu integrieren gedachten, rekrutierte die Band kurzerhand ihren zweiten Tim, der ihr (nahezu) bis ans Ende ihrer Tage die Treue hielt. Gouldings unhandliches Instrument wurde nun zu Auftritten allwöchentlich durch ganz Dublin und später quer durch Europa geschleppt und trug abgesehen von seinem mühseligen Transport nicht unwesentlich zu dem charakteristisch überweltlichen Sound der ersten LP „Kip Of The Serenes“ bei. Das Trio wurde zu dieser Zeit zum dicht umgarnten Künstler-Bohème-Mittelpunkt der Dubliner Szene, die in zwei als „Orphanages“ (also „Waisenhäuser“) bekannten Kommunen zuhause war. DR. SS wohnten nicht nur in diesen Häusern, sondern waren gewissermaßen auch die Initiatoren der Orphanages, die hauptsächlich als Treffpunkt zahlreicher alternativer Musiker und Künstler fungierten. Besonders PHIL LYNOTT und der noch junge GARY MOORE, der sich später als Gitarrist an den Aufnahmen zum zweiten DR. SS-Album „Heavy Petting“ beteiligte, waren häufig in diesem Dunstkreis zugegen, als sie beide noch in der Band SKID ROW spielten und einige Jahre bevor sie die so erfolgreiche Rockgruppe THIN LIZZY gründeten. Aber auch Mitglieder der frühen irischen Folkband SWEENEY'S MEN, die Anfang der Siebziger viel mit ANNE BRIGGS zusammenarbeiteten und danach in Bands wie STEELEYE SPAN und SPOOKY TOOTH bekannt wurden, waren gerngesehene Gäste in den Orphanages. Anders als ein Großteil der jungen psychedelischen Folkbands aus England, die spätestens seit 1968 wortwörtlich wie Pilze aus dem Boden schossen, waren die drei DR. SS-Protagonisten schon etwas älter, hatten ihr Studium oder ihre Ausbildung bereits hinter sich und konnten sich in ihrer Musik nun richtig intellektuell und pseudo-philosophisch austoben, ohne dabei allzu großen Jugendillusionen anzuhängen. Die zuweilen groteske und surrealistische Komik, mit der sie ihre Songs ausschmückten, fiel zeitlich bemerkenswerterweise in etwa mit den ersten Arbeiten der MONTY PYTHON-Gruppe zusammen und daran anschließend bildete wohl das naiv-verrückte Moment im Kosmos der INCREDIBLE STRING BAND den wichtigsten Einfluss für das irische Trio. Doch waren Pawle, Booth und Goulding dabei keineswegs nur ISB-Fans und -Epigonen, sondern befanden sich mit dem erfolgreichen Duo künstlerisch durchaus auf Augenhöhe. Pawle war zudem eng mit ROBIN WILLIAMSON befreundet, die beiden wohnten einige Zeit zusammen in einer Kommune in Wales und der geistige Austausch mag dabei nicht unwesentlich gewesen sein. So war es auch WILLIAMSON, der seinen Produzenten JOHN BOYD als erstes auf die Band aufmerksam machte, der daraufhin nach Irland reiste, um sich einen Auftritt von DR. SS anzusehen. Nach anfänglichem Zögern verschaffte Boyd den Iren einen Vertrag mit ISLAND RECORDS und produzierte Anfang 1969 ihr erstes Album. Für die Aufnahmen zog die Band für einige Monate nach London und wohnte dort bei ehemaligen Dubliner Studienfreunden, darunter auch der Schriftsteller und Filmemacher IAIN SINCLAIR, der die Aufnahmen und den Londonaufenthalt auf Film dokumentierte. Das diesbezügliche Bildmaterial ist erst kürzlich zum ersten Mal veröffentlicht worden. Ebenfalls während der Zeit in London spielte Ivan, der auch später immer ein Mitglied der ISB-Familie geblieben ist, noch den Klavier- und Orgelpart für das fünfte STRING BAND-Album „Changing Horses“ ein. Schon der erste Song auf „Kip Of The Serenes“, das eigenartig idyllische „Strangely Strange But Oddly Normal“, mit dem hymnischen Kehrreim, der nicht mehr wiederkehrt, deutet darauf hin, dass DR. SS in gewisser Weise auf einem anderen Stern musizieren und dichten. Vor allem dichten, denn ihre Liedtexte sind seltsam poetische Gebilde, die sich fast ausschließlich aus ironischen Anspielungen auf ihre Umgebung, sowie aus literarischen und pseudo-literarischen Allegorien zusammensetzen und kaum einer nachvollziehbaren Logik folgen. Oft werden dabei surreale Figurenkonstellationen mit schrägen Charakteren wie 'Catman the Minotaur' oder 'Projectionist Zhivago' aufgebaut, aber manchmal ist es auch einfach nur der schöne fließende Klang der Worte, der zählt: „Mistress Mouse and Mr. Puppup sit outside before the door, the younger son's in Jerusalem reporting on the war, and three blind master plumbers have just got back from the moon, and Harvey and the Greaseband are singing words which have no tune...“. Musikalisch untermalen sie diesen ästhetischen Nonsens mit auffällig traditionellen Mitteln: mehrstimmiger Gesang, sanft gezupfte Akustikgitarren, keltische Flöten, ein paar Klavierversatzstücke, nur wenig Perkussion, dafür umso größere und himmlische Orgelflächen. Fast überraschend scheint es dabei, dass DR. SS bei all ihrer Verschrobenheit und Schräglage einen unglaublich subtiles Gespür für Melodien besitzen und dies sogar so sehr, dass die Songs der befreundeten STRING BAND demgegenüber doch nur dilettantisch und beinahe unmusikalisch wirken. Gerade IVAN PAWLE zeigt sich hier als außerordentlich genialer Songwriter, der es zu jeder Zeit mit dem DONOVAN der späten Sechziger hätte aufnehmen können. Seine Lieder sind zwar gut in die befremdlich komische Atmosphäre des Albums integriert, doch vermitteln sie gleichsam einen weniger albernen Eindruck und scheinen eher von einer romantisch-magischen Sinnlichkeit geprägt, wie das unendlich schöne „Strings In The Earth And Air“, das ROBIN WILLIAMSON drei Jahre später auf seinem ersten Soloalbum „Myyrh“ coverte. Ähnlich wie auf FORESTs zweiter LP „Full Circle“ fallen die jeweiligen Kompositionen der drei Bandmitglieder auch sehr unterschiedlich aus und werden im Grunde nur durch die homogene wie durchgehend minimalistische Instrumentierung zusammengehalten. TIM BOOTH ist seine Folkclubherkunft an manchen Stellen sehr deutlich anzumerken. Seine Songs haben einen stark traditionellen Einschlag, spielen oft mit Einflüssen aus Blues und Country („Roy Rogers“) oder integrieren typisch irische Jigs und bodenständiges Lagerfeuergeschraddel („Donnybrook Fair“), was von der fast schon parodistischen Haltung dann aber wieder relativiert wird. Bei TIM GOULDING ist es eher die geistliche und klassische Musik, zu der dieser schon in jungen Jahren Zuflucht nahm, die für seinen Input auf „Kip Of The Serenes“ ausschlaggebend wird. Gouldings Kompositionen wirken daher um ein Vielfaches komplexer, nehmen seltsame Wendungen und sind am Ende schwerer verdaulich als der Rest der Platte. Oft erinnern sie aber auch an alte Seemannslieder („Ship Of Fools“) oder an barocke Kirchenmusik („On The West Cork Hack“), besonders dann, wenn Orgel und Harmonium überhand nehmen und gepaart mit den schrägen Texten, die sich merkwürdig häufig um sinkende Segelschiffe und andere Seetragödien drehen, eine wirklich sakral-apokalyptische Dramatik evozieren. Vielleicht lag es nicht zuletzt an Produzent JOHN BOYD, dass DR. SS damals mit ihrem Debüt dem eigentümlichen Kosmos der INCREDIBLE STRING BAND näher als jede andere psychedelische Musikkommune kamen. Doch fehlt auf „Kip Of The Serenes“ nahezu gänzlich der esoterische, hippie-religiöse Unterton, der auf den Spätsechziger Alben der STRING BAND immer eine beachtlich große Rolle spielte. Stattdessen ist es eher ein äußerst reflektierter, beinahe schon poetologischer Tonfall, der auf dem Album der Iren zu vernehmen ist. In dieser Hinsicht waren Pawle, Booth und Goulding klassische l'art-pour-l'art Künstler – in den Songs ging es eben vor allem nur darum, über das Songschreiben zu schreiben. Die vielen ironisch-parodistischen Züge, oftmals ein unterdrücktes Lachen beim Singen, Kommentare aus dem Off und die im Grunde asignifikante Parallelwelt, die in den Texten konstruiert wird, lassen „Kip Of The Serenes“ am ehesten wie eine experimentelle Theaterinszenierung erscheinen, die sich dramatisch auf fünfzig Minuten auswälzt, von denen keine einzige unsinnig vergeudet ist. Ende 1969 erschien der repräsentative Song „Strangely Strange But Oddly Normal“ auf dem Low-Budget Sampler „Nice Enough To Eat“, der sich natürlich weitaus besser verkaufte als das Album. Durch den Sampler zumindest innerhalb Englands zu einiger Popularität gelangt, musste sich die Band auf einen ermüdend langen Tourplan einlassen. Nur kurze Zeit später wurde das zweite Album „Heavy Petting“, wiederum in Zusammenarbeit mit John Boyd, eingespielt. Dieses zweite Werk war insgesamt eine hörenswerte, aber doch recht konventionelle Folk-Rock-Angelegenheit, die zwar immer noch für manch ungestüme Kapriolen gut war, aber letztendlich nicht die so charakteristische Atmosphäre des Vorgängers erreichen konnte, weil alles nun plötzlich ganz ernsthaft und seriös wirken sollte. GARY MOORE leistete sich auf „Sign On My Mind“ ein langes, verträumtes Gitarrensolo, an das man sich auch heute noch gern erinnert und wer sonst als FAIRPORT CONVENTION-Schlagzeuger DAVE MATTACKS sorgte dazu zum ersten Mal für etwas Rhythmus in der Musik von DR. SS. Nachdem das Album veröffentlicht war, verließ Tim Goulding, der auf eine weitere lange Tour, die nun bevorstand, keine Lust hatte, die Band, heiratete in einem buddhistischen Kloster in Schottland – statt Zen-Priester zu werden, wie einige Gerüchte behaupteten – und zog sich wieder als Maler an die irische Westküste zurück. Tim B. und Ivan ersetzten ihn durch TERRY und GAY WOODS, die gerade erst bei STEELEYE SPAN ausgestiegen waren und mit DR. SS nun durch Skandinavien und Mitteleuropa tourten. Die WOODS' waren mit psychedelischer Musik bis dahin jedoch kaum vertraut gewesen und das ganze Unternehmen schien von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Obwohl noch eine US-Tour bereits fertig organisiert war und vielleicht den entscheidenden Durchbruch hätte bedeuten können, lösten Tim und Ivan die Band im Mai 1971 vorerst auf. Doch schon ein Jahr später war das Trio wieder vereint und gab eine Reihe von Konzerten quer durch Irland. In den nächsten zwanzig, dreißig Jahren arbeiteten die Drei, ab 1980 unter Mithilfe von JOE THOMA, immer mal für kleinere Projekte zusammen. 1998 erschien das kaum wahrgenommene dritte Album „Alternative Medicine“ in Eigenregie und als HUX RECORDS vor zwei Jahren eine Sammlung von bisher unveröffentlichtem Material von den 69er und 70er Aufnahmesessions unter dem Namen „Halcyon Days“ veröffentlichten, steuerten die drei inzwischen älteren Herren wiederum drei neue Stücke bei. Auch heute ist das Abenteuer von DR. STRANGELY STRANGE längst noch nicht abgeschlossen und wird – im Gegenteil –, mit gelegentlichen Auftritten immer weiter fortgesetzt. GENESIS P-ORRIDGE hatte vor nicht allzu langer Zeit dem Arthur Magazine einmal anvertraut, dass er sich ein Leben ohne diese Band nicht mehr vorstellen könne. DR. SS waren ein durch und durch eignartiges Phänomen, eine Künstlertruppe, die mit der Überlegenheit der Komödianten das Gros der übrigen Psych-Folk Bands düpierte. Mit „Kip Of The Serenes“ haben sie eine eigendynamische Mikrowelt konstruiert, die heute auf den ersten Blick sicher naiv und verspielt, vermutlich sogar lächerlich anachronistisch wirkt. Aber hat man sich einmal auf die Reise ins Ungewisse mit Dr. Strange eingelassen („..you may wonder where you're supposed to be going...“), so offenbart sich die Platte als eines der größten, vielleicht sogar als das größte poetische Meisterwerk, das die Folkszene der 60er/70er Ära je hervorgebracht hat. There's no meaning to my song -
and if you found one you'd be wrong. Titel:
A Strangely Strange But Oddly Normal Dr. Dim And Dr. Strange Roy Rogers Dark Haired Lady On The West Cork Hack B A Tale Of Two Orphanages Strings In The Earth And Air Ship Of Fools Frosty Mornings Donnybrook Fair 49min Erstauflage: ILPS 9106 | 1969 Re-Releases: 1992: Island Records | 3D CID 1004 | CD 2002: Progressive Line | PL 570 | CD
Roy L. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » Dr. Strangely Strange @ MySpace Themenbezogene Artikel: » Das Jahr der Seele: PENTANGLE » JAN DUKES DE GREY: Mice And Rats ... » ÄLGARNAS TRÄDGÅRD: Framtiden Är ... » PAUL GIOVANNI: The Wicker Man O.S.T. » SUBWAY: s/t » COMUS: First Utterance » GARY HIGGINS: Red Hash » HÖLDERLIN: Hölderlins Traum » CAN AM DES PUIG: The Book Of Am » C.O.B.: Moyshe McStiff ... » ALAN SORRENTI: Aria » TONY, CARO & JOHN: All On The First Day » PERRY LEOPOLD: Experiment in Metaphysics » FOREST: Full Circle » BRIGITTE FONTAINE & ARESKI: L'Incendie » SYNANTHESIA: s/t » MAGICAL POWER MAKO: Super Record » SPIROGYRA: Bells, Boots & Shambles » EXTRADITION: Hush » SHIRLEY COLLINS & DAVY GRAHAM: Folk ...
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