„Leide, Lei – zucküth, zicküth, zicküth“, singt Jorinde, als sie in dem Grimmschen Märchen „Jorinde und Joringel“ in eine Nachtigall verwandelt wird. Joringel, der trauernde Geliebte, träumt von einer blutroten Blume mit einem weißen Tautropfen in der Mitte. Diese findet er in der wirklichen Welt und kann Jorinde durch ihre Kraft erlösen. Nach der freudianischen Symboldeutung steht die Perle für Unschuld und Rot ist die Farbe des Blutes. Der farbliche Kontrast spiegelt ein tieferes Verhältnis der beiden Märchenfiguren. In JAROMIL JIRES’ „Valerie a týden divu“ gibt es ebenfalls jene Blume, die einen ähnlichen Handlungsschlüssel darstellt, sich in ihrer Symbolik jedoch genau umgekehrt zu der Blume Joringels verhält: Die 13jährige Valerie findet eine Margerite, deren weiße Blüte mit einem Blutstropfen befleckt ist. Fasziniert blickt das Mädchen auf den Tropfen, der sie rubinrot im Sonnenlicht anfunkelt. Mit einer Metapher für die erste Menstruation beginnt die eigentliche Geschichte des Films: Durch das plötzliche Frauwerden erkennt Valerie den grundlegenden Konflikt aller Elemente ihrer Umwelt. Dieser ist im Film zu einem surrealen Konzept versponnen: Es ist der Kampf zwischen „schwarz und weiß“, „Unschuld und Perversion“, „Blut und anämischer Blässe“, der sich in der Thematisierung des Vampirismus widerspiegelt. Bereits der Vorspann beinhaltet alle Stilmittel, die den Film so einzigartig machen: Begleitet von einem Mädchenchor tauchen Traumbilder durch sanfte Überblendungen in das zarte Weiß Valeries’ kindlicher Unschuld. Die Protagonistin präsentiert dem Zuschauer stumm ihre Perlohrringe, trinkt aus einer Quelle, küsst einen Vogel und senkt in naiver Andacht ihren Kopf zum Gebet. Der Mund, das Essen einer Kirsche, das Riechen an den eigenen Haaren und an einer Blume, all diese Reize sind charakteristisch für Valeries kindlich sinnliche Wahrnehmung. Valerie lebt im düsteren Haus der Großmutter, die sie streng christlich erzieht und das genaue Gegenteil ihrer Lebensfreude verkörpert. Ihre kleine Kammer ist vom Bettbezug bis zu den Holzdielen blendend weiß. Eines Nachts stiehlt der junge Orlik (dt.: Adler) die magischen Perlohrringe, das einzige Erbstück von Valeries Mutter. Orliks Meister, ein bösartiger Vampir war Auftraggeber dieser Tat. Zeitgleich mit ihm residieren andere, nicht weniger befremdliche Gestalten in dem sonst verschlafenen Bauerndörfchen. Von wundersamen Begebenheiten wird Valerie, ähnlich wie CARROLs „Alice“, in eine Welt geführt, die nach ganz eigenen Gesetzen konzipiert ist und in der jegliche Logik aufgehoben zu sein scheint. Dieses Wunderland befindet sich allerdings nicht im geträumten Kaninchenbau sondern in Valeries engstem sozialen Umfeld, das immer undurchschaubarer und befremdlicher wird. Welche Beziehung haben der Vampir, Orlik, die Großmutter und der abstoßende Wanderpriester zueinander? Und warum sind alle hinter Valeries Ohrringen her? Erschrocken deutet das Mädchen in den sonderbaren Geschehnissen die verschlüsselten Antworten auf ihre familiäre Herkunft. Bald sieht sie in dem Vampir ihren Vater und in Orlik, in den sie sich verliebt hat, ihren Bruder. Die Großmutter, ehemals die Geliebte des Vampirs, geht mit diesem einen magischen Handel ein, der ihr die Gestalt einer Jugendlichen verleiht und für Valerie zur Bedrohung wird. Eine symbolische Verbrennung auf dem Scheiterhaufen ist für Valerie ein Befreiungsakt und neu gewonnener Zugang zur Welt der Lüste und Triebe. Zum Ende hin wird alles, auch der Zuschauer von einem dionysischen Reigen mitgerissen und alle Interpretationsansätze verfliegen in einer herrlichen Ode an die Lebensfreude. Neben Grimm und Freud sind auch religionskritische Ansätze inmitten der bunten Bildsprache zu erkennen: In einigen Szenen werden Sexualität und katholische Messen offensichtlich als feindlich gestimmte Gegensätze gezeigt. Valerie ist heimliche Beobachterin in einem Vogelkäfig als die betende Kirchengemeinde mit dem hemmungslosen Sexualakt zweier Dorfbewohner am Wegesrand konfrontiert wird. Hedvika, Valeries gleichaltrige Freundin, stellt sich nach ihrer Zwangsheirat in die Pose des „gekreuzigten Dionysos“ und zeigt anschließend alle Symptome des klassischen Vampiropfers. Nur durch eine Nacht mit Valerie kann die Verwandlung rückgängig gemacht werden. Die Geschichte kann, der Kleidungs- und Einrichtungsmode nach zu urteilen, im 19. Jahrhundert angesiedelt werden, bleibt jedoch aufgrund seiner visuellen Traditions- und Naturbezogenheit zeitlos. Ob sich Valeries Wunderwoche in der Zeitspanne eines Traums, einer Woche oder eines Sommers bewegt, wird im Verlauf des Filmes nicht klar. Zwar gibt es einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, allerdings kann man den narrativen Handlungsstrang als „sehr verworren“ bezeichnen. Mit Ausnahme Valeries sind die Figuren nicht an einen festen Charakter gebunden, das heißt: Handlungen sind für Valerie, wie auch für den Betrachter nicht berechenbar, wenn auch im Sinne des surrealen Gesamtkonzepts nachvollziehbar. Die Personen aus Valeries Umwelt pendeln optisch sowie handlungsbedingt zwischen „abstoßend“ und „anziehend“; „vertrauensvoll“ und „bedrohlich“. Aussehen, Alter und vor allem die sexuelle Intension gegenüber Valerie sind nur unfassbare Schemen, die in der nächsten Sekunde ins Gegenteil umschlagen können. Obwohl der Film ein kunterbuntes Sammelsurium von Interpretationsansätzen und Kunstformen beherbergt, wirkt er an keiner Stelle überladen oder disharmonisch. Auch ein Genrebegriff ist bei „Valerie a týden divu“ nicht greifbar, vielmehr ist es eine der seltenen Schnittstellen unterschiedlicher literarischer und filmischer Strömungen, deren Zusammenhänge im Folgenden verdeutlicht werden sollen: VÍTEZSLAV NEZVALs gleichnamige Romanvorlage von 1935 wird heute als essentieller Bestandteil der osteuropäischen Avantgarde gesehen. Die eigenartige Geschichte Valeries ist dem tschechischen Surrealismus „Skupina surrealistu v CSR“ entsprungen, der 1934 von Nezval gegründet wurde und sich aus dem „Poetismus“ formte. Erste Umrisse dieser eigentümlichen Kunstrichtung wurden 1923 in einer warmen Prager Frühlingsnacht von Nezval und seinem Freund KAREL TEIGE erträumt. Jener Traum, eine revolutionäre Poesie und Ästhetik, flammte aus der Asche eines künstlerischen Stillstandes und sollte rasch die tschechisch-slowakische Literatur radikalisieren. Die proletarische Kunst JIRÍ WOLKERS und die Künstlergruppe DEVETSIL schrieben dem Kunstbegriff durch ihren extrem marxistischen Standpunkt eine vordergründig soziale Funktion zu und reduzierten ihn so auf die bürgerliche Ebene. Der Poetismus vollzog dagegen eine ganz klare Trennung zwischen politischer Propaganda und autonomer Kunst, die nur für sich selbst sprechen sollte. Eine neue „universale“ Poesie sollte Aufschluss über die Psyche geben und sich durch eine traumgleiche Wirklichkeitsverzerrung definieren. Im „Tschechischen Surrealismus“, der heute noch durch JAN ŠVANKMAJER am Leben gehalten wird, konkretisierte Nezval diese Aspekte, indem er die Parallelen zu BRETONs „Manifest“ unterstrich. Heute wird der Film zur „Tschechoslowakischen Neuen Welle“ gezählt, einem Filmgenre, das sich Mitte der 60iger entwickelte. Wieder entstand das osteuropäische Spiegelbild einer französischen Kunstströmung. Wie einst ANDRÉ BRETON und MAX ERNST, brachte nun die „Nouvelle Vague“ um TRUFFAUT und GODARD frischen Wind in die karge Filmlandschaft der Tschechoslowakei. JAROMIL JIRES, Macher von „Valerie a týden divu“ war neben MILOŠ FORMAN, VERA CHYTILOVÁ, IVAN PASSER, JIRÍ MENZEL und JAN NEMEC einer der wichtigsten Vertreter dieses Filmgenres. Der 2001 an den Folgen eines Autounfalls verstorbene JIRES verfilmte 1969 MILAN KUNDERAs ersten Roman „Der Scherz“ und schuf damit vermutlich einen der repräsentativsten Filme des Genres. Wo sich die „Nouvelle Vague“ und der „Neue Deutsche Film“ stark von der 68er Bewegung initiiert zeigten, widmete sich die „Czech New Wave“ dem Freiheitsgefühl der „Tauwetter Periode“, unter deren Zensurlockerung ihre Filme veröffentlicht werden konnten. In JURAJ JAKUBISKOs „Vögel, Waisen, Narren“ wie auch in „Tausendschönchen“ von VERA CHYTILOVÁ tummeln sich beispielsweise manische Jugendliche in anarchischen Orgien. „Valerie a týden divu“ wird heute fälschlicherweise in einem Atemzug mit diesen Filmen genannt. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass der Film erst nach dem Niederschlagen des Prager Frühlings durch die Truppen des Warschauer Paktes gedreht wurde. Daher spiegelt sich Valeries Wunsch nach geistiger Befreiung in einem völlig anderen, verschlüsselten und schmerzhaften Kontext wider. Unter der neuen Staatszensur spezialisierten sich einige ehemalige Regisseure der neuen Welle auf den traditionellen tschechischen Märchenfilm, wie er aus dem Kinderprogramm des deutschen Fernsehens bekannt ist. So verlieh KAREL KACHYNA, der eigentlich durch staatskritische orwellsche Politdramen bekannt war, ANDERSENs „kleiner Meerjungfrau“ die vermutlich schönste Verfilmung. Auch hier kann „Valerie …“ als optischer Vorreiter und Exot einer bedeutenden Filmepoche gesehen werden. Immer wieder wurden in der Filmgeschichte die weibliche Sexualität, ihre Fragilität und ihre möglichen Bedrohungen als Traum dargestellt. Bestes Beispiel ist LOUIS MALLEs, vor Sexualsymbolik triefender Ausnahmefilm „Black Moon“, in dem sich eine junge Frau aus einem blutigen Geschlechterkampf in ein Zauberschloss voll Kuriositäten flüchtet. Ob die offensichtliche Ähnlichkeit zu Valerie mehr als nur Zufall ist, kann nirgendwo bestätigt werden. Weitere Beispiele für eine ähnliche Thematik sind PETER WEIRs „Picknick am Valentinstag“, sowie einige Filme von DAVID LYNCH, ROMAN POLANSKI und ANDRZEIJ ZULAWSKI. Vor knapp einem Jahr fand der Film mit dem britischen SECOND RUN ein DVD-Label, das in jeder Hinsicht für ihn passend ist. Bekannt als seriöse und verlässliche Adresse für vergessene und vor allem für osteuropäische Filmkunst, bietet das Label mit anderen Klassikern wie „Marketa Lazarová“ gute Gesellschaft. Dies war leider nicht immer so: REDEMPTION FILMS, der bekannteste von vier Ablegern des britischen Filmvertriebs SALVATION, veröffentlicht seit 1992 diverse unbekannte europäische Horrorfilme. Außer der beinahe kompletten Filmographie der französischen Gothic-Horror Legende JEAN ROLLIN sind in der REDEMPTION-Filmreihe „Beyond Good and Evil“ vor allem Schmuddelfilme aus den Bereichen „Nunsploitation“, „Weird Fetish“ und „Vampirtrash“ veröffentlicht worden. Inmitten dieses unfreiwillig lustigen Kanons, dessen Logo eine mit Maschinenpistolen bewaffnete Lackvampirin ziert, tauchte 2004 auch „Valerie“ als unschuldiges Geschöpf auf. Wenn man sich die optischen und thematischen Parallelen des Films zu den Gothic-Horror-Epen „Suspiria“ und „Inferno“ von DARIO ARGENTO bewusst macht, ist dieser Kontext gar nicht so verwunderlich. Neben den grellen Alptraumszenarien ARGENTOs, den Horror-Dramen ZULAWSKIs und den blutigen Klassikern MARIO BAVAs, hat das europäische Horror-Märchen nämlich nur vereinzelte Vertreter: Außer „Valerie …“ kann man hier „Nosferatu“ von WERNER HERZOG, „Morgiana“ von JURAJ HERZ, „The Company Of Wolves“ von NEIL JORDAN oder „Laurin“ von ROBERT SIGL nennen. Als ich vor vier Jahren nach Informationen über den Film suchte, fand ich im Internet nur vereinzelte unbrauchbare Hinweise. Glücklicherweise konnte ich mir mein eigenes Bild machen, als ich kurz darauf die REDEMPTION-Veröffentlichung erwerben konnte. Kurze Zeit später nahm BJÖRN LAST eine Filmvorstellung zu „Valerie …“ in sein herrliches MITTERNACHTSKINO-Sammelsurium auf und machte ihn so für einige Filmgourmets aus dem deutschsprachigen Raum schmackhaft. Heutzutage sind Hinweise in Form von Bildern und Collagen oder ein Auftauchen in Myspace-Interessenlisten, vor allem in den subkulturellen Kreisen einer neuen jungen Psychedelic-Folkbewegung, keine Seltenheit mehr. Mitverantwortlich sind GREG WEEKS und sein in Philadelphia gegründetes VALERIE PROJECT. Bestehend aus insgesamt zehn Musikern, die dem einen oder anderen im Zusammenhang mit Schlagwörtern wie ESPERS, FURSAXA und FERN KNIGHT bekannt sein dürften, interpretiert das Projekt den Film mit allerlei ungewöhnlichen Instrumenten. Live geschah dies seit 2006 vor insgesamt fünfzehn nordamerikanischen Leinwänden. Das Valerie-Project unterstreicht mit seinem psychedelischen Folk eindeutig die fragile Komponente des Filmes. Wie ROY L. bereits vor über zwei Jahren in seiner NONPOP-Besprechung zu „Music For Witches …“ von FERN KNIGHT feststellte, hat „Valerie …“ für dieses Musikerkollektiv einen ähnlichen Stellenwert wie „The Wicker Man“ für die gesamte Psychedelic-Folkbewegung. Auch hier ist das filmische Zusammenspiel von Story und Visualisierung, als auch der Soundtrack identitätsstiftend für eine ganze Szene von Musikern. Valeries Ur-Vertonung von LUBOŠ FIŠER, deren Einfluss auch in der Musik des VALERIE PROJECTS zu hören ist, wurde 2006 auf dem kauzig nostalgischen FINDERS KEEPERS RECORDS auf Schallplatte veröffentlicht. Dort sind auch Spuren GREG WEEKS, eine LP-Veröffentlichung von CHYTILOVÁS “Daisys“und ein Tributsampler zum „Wicker Man“ zu finden. Es sind Leute, wie GREG WEEKS oder die Betreiber von SECOND RUND und FINDERS KEEPERS RECORDS, die den Film als Teil einer neuen antimodernen Avantgarde etablieren, die sich auch im Konzept von NONPOP widerspiegelt. Und ganz gleich, ob man „die Wunderwoche“ als zugehörig zu einer der unzähligen vergangenen oder präsenten Kultursparten ansieht; sie bleibt eines der verstaubten Schmuckkästchen, das man auf dem Dachgeschoss eines tschechischen Fachwerkhäuschens vermutet und das Einblick in ein vergessenes magisches Europa gewährt.
Christian S. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » The Valerie Project auf Myspace » Seite zur Veröffentlichung bei Second Run mit Trailer » Valerie a týden divu in der Internet Movie Database » Der Original-Soundtrack auf FINDERS KEEPERS REC.
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Zusammenfassung
Ein Märchenfilm über das Erwachsenwerden, der mit surrealen Bildern betört und verstört.
Inhalt
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