Roy L.
V/A: XXperimentsbeware the crimson wave!
Genre: Post Industrial
Verlag: Die Stasi Erscheinungsdatum: Dezember 2008 Medium: Vinyl 12'' Preis: ~18,00 € Kaufen bei: Die Stasi... Wie groß unter den Hörern der 'Emanzipationssampler' „Extreme Music From Women“ und „Women Take Back The Noise“ die tatsächliche Zahl der HörerInnen ist, würde mich schon einmal interessieren. Noch mehr, wie hoch der Anteil derer, die den Appell ernstnehmen und, vom modischen Sinnspruch „everbody is an artist“ beseelt, selbst zu Mikro, Verzerrer und Effektgeräten greifen. Große Scharen von do-it-yourself Nachahmern sind momentan zumindest im ohnehin hysterischen Amerika zu lokalisieren. Dort ist in den vergangenen drei, vier Jahren im Lichte des MySpace-Siegeszugs eine neue Generation von Post-Punk-Bewältigern herangewachsen, die einen diffusen, dekonstruktiven Trümmerstil pflegen: Industrial- und Noise-Restbestände, Punkrelikte, psychedelische Überbleibsel, und alles wird im Garagenmodus verbaut. Die Szene ist kreativ und produktiv, wo sie ihr Potential nicht an chaotische Krachorgien verschwendet, und ein beachtlicher Teil dieses Potentials wird von jungen Künstlerinnen aus dem mittleren Westen des Landes getragen.
Ein kleines ambitioniertes Low-Budget-Label aus Ohio namens DIE STASI (sic!) hat sich nun vorgenommen, auf dieses Phänomen mit der Compilation „XXperiments“ einmal aufmerksam zu machen. Weil man(n) sich bisher schwer damit getan hat, einen adäquaten Begriff für das alles zu finden und weil die ganze Konstellation nicht wenig an die New Wave- und No Wave-Bewegungen der 80er erinnert, geistert inzwischen der eher augenzwinkernde Ausdruck 'Crimson Wave' durch den Untergrund. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt. Haley Fohr & Katie Leming alias CRO MAGNON Es muss wohl an der großen metaphysischen Leere des Hinterlands liegen, an der Midwest-Lethargie, der unendlichen geistigen Brache in der Pufferzone zwischen den beiden kulturell übersättigten Küsten. Das ist die Klimazone, in der die 'angry young women' von Heute leben, meistens gescheiterte Kunststudenten, Zyniker aus Leidenschaft oder aus Mangel an Ernst, Heroinnen der Langeweile. Und natürlich sind sie alle auch ein bisschen oder sogar sehr 'weird', aber das – der Musikpresse sei dank – ist in den Staaten inzwischen jede harfespielende Hausfrau. Der Distinktionstrieb ist hier also naturgemäß übergroß und züchtet mitunter ganz liebenswerte Freaks.
Musikalisch äußert sich das häufig in spontanen, dissonanten Gewaltausbrüchen, die über Gitarre und Synthesizer gesteuert werden oder vielmehr außer Kontrolle geraten. Zähflüssige Substanzen, aus Störgeräuschen und Klavierimitationen gesponnen, entweichen dann irgendwie dem jovialen Experimentieren mit den Reglern. Dass unter bescheidensten Lo-Fi-Bedingungen aufgenommen und auf Laptop und Software völlig verzichtet wird, ist dabei fast schon Ehrensache. Wichtiger aber sind die Stimmen, die manisch-kreischend Schmerzgrenzen ausloten oder im Kreuzfeuer von Noise- und Pop-Kultur auf Entfremdung, Verstörung und Distanz setzen. Ein Großteil davon bleibt natürlich unausgereift und kindische Effekthascherei, weil das bloße DIY-Ethos die technischen Fertigkeiten bei weitem noch überwiegt. Zwischendurch aber durchzucken immer wieder echte Geistesblitze dieses riesige Trash-Arsenal und diese wirken in ihrer Naivität und Zufälligkeit dann umso reichhaltiger und intensiver. U.S. Girls Für die vorliegende Compilation „XXperiments“ haben sich die Damen von sieben No-Name-Projekten Mühe gegeben, diese kleine aber rapide wachsende Szene mit einem jeweils repräsentativen Track zu dokumentieren. Haley Fohr und Katie Leming von CRO MAGNON (nicht zu verwechseln mit den CROMAGNON, die Ende der 60er für ESP-Disk die Kultplatte „Orgasm“ aufnahmen), spielen einen bewusst primitiven, archaischen Steinzeit-Garagen-Rock, mit bis zur Benommenheit verstimmten, verzerrten Bassgitarren, pathologischen Schreiattacken und einem dumpfen Schlagwerk, das so viel Taktgefühl besitzt, wie etwa fleischklopfende Höhlenmenschen. Das zweiminütige Midtempo-Lamento „Groundline“ wirkt jedoch weniger uninspiriert, als es sollte und ist dabei auch gar nicht so weit vom wegweisenden Sound der Genre-Innovatoren FACTUMS entfernt. Die beiden sind jeweils auch mit ihren etwas subtileren Soloprojekten CIRCUIT DES YEUX und BIRD vertreten. Dort erzeugen stark verrauschte Piano- und Bassexperimente eine tiefgründigere Atmosphäre, die, sich selbst wohl etwas unschlüssig, zwischen skurril und dramatisch schwankt, im Zweifelsfall aber auf Geistesgestörtheit plädiert.
Eine weitere coole Zwei-Minuten-Nummer kommt von dem Projekt BUCKETS OF BILE aus Brooklyn. Bei „Caught It Still“ handelt es sich definitiv um einen aus einfachsten Mitteln destillierten Instant-Hit mit leicht melancholischem Hinterzimmercharme. Sicher nicht einzigartig, aber doch originell, verschwimmen in diesem Home-Fi-Pop die Grenzen zwischen easy listening und difficult music. Ein wenig Irritation und Enttäuschung hinterlässt dagegen der Beitrag von Megan Remy, die dieses Jahr unter dem Namen U.S. GIRLS schon ein sehr faszinierendes Debüt über SILTBREEZE vorgelegt hatte. Über hypnotische Noiseloops oder dumpfes Antifolk-Geschrammel hinwegsäuselnd, verwandelt sie jeden noch so profanen Schlager in ein spirituelles Mantra. Mit „T.piano Afternoon“ gibt es nun leider gerade keine Kostprobe ihres eigenwilligen Stils, sondern nur eine unauffällige, belanglose Klangspielerei, die vorüber ist, ehe man sie überhaupt richtig bemerkt. Bemerkenswert allerdings ist der letzte Titel des Samplers: „Rester“ steht stellvertretend für das gesamte Oeuvre von ZOLA JESUS, das sich bisher auf zwei exzellente 7-Zoll-Platten und eine bald erscheinende 12-Zoll-EP beschränkt. Alles wirkt hier eine ganze Spur reifer und runder, denn Nika, die Frau hinter ZOLA JESUS, hat anders als ihre Sampler-Mitstreiterinnen ein ganz fantastisches Gespür für Harmonie und Struktur. Sie ist die GRACE SLICK unter den neuen Post-Punk Amazonen – eine Frau mit klassischer Gesangsausbildung und atemberaubendem Stimmvolumen. Ihr intelligentes Gemisch aus rhythmischem Industrial der alten Schule und leicht versifftem Cabaret-Piano hört sich zuversichtlich an, hat Stil und Größe und bleibt in seiner ganzen melodischen und theatralischen Intensität doch ehrliche Lo-Fi-Kunst. Von ZOLA JESUS wird im neuen Jahr mit großer Sicherheit noch viel zu hören sein. Eine erste Vollzeit-LP ist bereits auf dem distinguierten Sammler-Label SACRED BONES angekündigt. Zola Jesus „XXperiments“ ist sicher kein ultimativer Pflichtkauf für alle Nonpop-Enthusiasten. Dafür ist die Auflage auch viel zu gering, das Thema viel zu speziell und die beteiligten Projekte noch viel zu unbekannt. Es ist außerdem einer der vielen Sampler, auf dem zur Hälfte viel Mittelmäßiges und Uninspiriertes mitgenommen werden muss und dazu mit seinen etwas mehr als 20 Minuten Spielzeit auch nur sehr kurzen Genuss bietet. Aber die Platte steht doch unweigerlich in zweifacher Hinsicht als Dokument im Raum, erstens: für die geheime 'Crimson Wave'-Schwesternschaft der vielen seltsamen jungen Frauen im mittleren Westen der USA, und zweitens: für eine Musikszene, die sich erstaunlich schnell selbst organisiert hat und mit altem Independentgeist ein großes, unüberschaubares Netzwerk von Low-Budget-Produktionen und Self-Made-Labels etablieren konnte.
Roy L. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » Zola Jesus » U.S. Girls » Buckets Of Bile » Cro Magnon » Circuit des Yeux » Bird
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Zusammenfassung
Knapp 30 Jahre nach 'No Wave' und 'New Wave' ist im mittleren Westen der USA die 'Crimson Wave' voll im Gange. Dutzende angry young women experimentieren schamlos mit Noise und Pop. "XXperiments" ist das erste offizielle Dokument dieser Bewegung.
Inhalt
A
CRO MAGNON - "Groundline" LUXURY PREVENTION - "Tenable Fort" CIRCUIT DES YEUX - "Binding Feet" B BUCKETS OF BILE - "Caught It Still" BIRD - "Blanks" U.S. GIRLS - "T.Piano Afternoon" ZOLA JESUS - "Rester" Die Stasi, ssh-07, schwarzes Vinyl |
Danke, schöner Text. Aber: Crimson? Wieso Crimson? Hat das irgendwas mit Purpur zu tun? Ich bitte um Aufklärung!