Michael We.
LAND: Praha | Wien | BudapestDer Mystery-Soundtrack für das Jahr 1924 ist fertig
Genre: Dark Ambient
Verlag: Divine Comedy Vertrieb: Divine Comedy Erscheinungsdatum: 2003 - Juni 2007 Medium: 3x Vinyl 10 Preis: ~12,00 € Kaufen bei: Divine... Europa 1924. Die Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg und kurz vor Hitlers Machtergreifung. Der Kontinent liegt wund zwischen den Kriegen, Friedensschlüsse werden nur halbherzig eingehalten und die meisten Länder leiden unter Zersplitterung ihrer politischen Kräfte und nationalistischen Bestrebungen. In dieser gefährlichen Zeit reist die Französin CÉLESTINE ORLAC, Journalistin und Schriftstellerin, von Prag über Wien nach Budapest, wo sie spurlos verschwindet. Anhand ihrer spärlichen Aufzeichnungen hat das französische Dark Ambient-Projekt LAND - 80 Jahre später - in einem vier Jahre andauernden Schaffensprozess die Reise auf drei 10inch-Platten vertont. Klingt das spannend?!?
Ob es die Hauptfigur der Trilogie wirklich gegeben hat, lässt MARC von LAND auf Nachfrage zwar im Unklaren ('The CÉLESTINE ORLAC mystery is based on true events or simply fictional? Who knows? Not me...'), aber es spricht vieles dafür, dass CÉLESTINE eine erfundene Figur ist und ihre Reise ein erdachter Hörfilm, ein Spionagethriller, ein 'suspense'-Krimi, welcher in der Zeit der großen politischen Spannungen der 1920er Jahre spielt. Die drei Platten ('Praha' 2003, 'Wien' 2005 und 'Budapest' 2007) sind zum Beispiel voll von Hinweisen auf das 'Vorbild' der ORLAC, auf MUSIDORA. Der französische Stummfilmstar (alias JEANNE ROQUES) war einer der gefeierten Film- und Revuestars der 1920er und gilt als der erste 'Vamp' der europäischen Filmgeschichte. Berühmt wurde sie durch die Rolle der IRMA VEP (ein Anagramm für 'Vampire') in der zehnteiligen Serie 'Les Vampires' von LOUIS FEUILLADES, die zwischen 1914 und 1915 entstand. Dabei handelt es sich allerdings nicht um Vampir-, sondern um Kriminalgeschichten; heute würde man wohl 'Mystery' dazu sagen. Der französische Regisseur FEUILLADE knüpfte mit der Serie an seinen großen Erfolg 'Fantômas' an, einen Fünfteiler über einen mysteriösen Verbrecher. Ähnlich wie ihr männlicher Kollege tauchte auch IRMA VEP in einem dunklen, enganliegenden Kostüm auf und huschte wie ein Schatten über Dächer und durch Straßen. Später arbeitete MUSIDORA als Journalistin und Schriftstellerin. Als weitere Inspiration für das Triptychon hat LAND nach eigenen Angaben die zehnteilige US-Stummfilmserie 'A Woman in Grey' ('Die Frau im Schatten') von JAMES VINCENT gedient, in der ein Staranwalt das Haus seiner Vorfahren kauft, das von der mysteriösen 'Frau im Schatten' bewohnt wird. Aufgrund dieser vielen Referenzen und einiger weiterer Hinweise wie Schreibmaschinengeklapper oder eines gerufenen 'Vorhang!' dürfen wir also annehmen, dass die Reise von CÉLESTINE ORLAC nur in den Köpfen der LAND-Mitglieder stattgefunden hat, dass alles nur ein Schauspiel ist. Trotzdem wird die mysteriöse Frau auf den drei Minialben so lebendig, als hätte es sie tatsächlich gegeben, denn LAND haben die Geschichte extrem liebevoll, akribisch und musikalisch auf hohem Niveau ausgearbeitet. Das Label der jeweiligen B-Seiten ist eine Karte, auf der die drei Orte (Prag, Wien und Budapest) miteinander verbunden sind. Auf der Vorderseite schaut man in die Augen einer geheimnisvollen Stummfilm-Schönheit - oder doch in die von CÉLESTINE ORLAC? Die Songtitel auf den LP-Hüllen sind in der passenden Sprache (also in Tschechisch auf 'Praha', in Deutsch auf 'Wien' und in Ungarisch auf 'Budapest', besonders schön finde ich übrigens den Songtitel 'Betrug im Hotel Mariahilf...'), ebenso wie die sparsam verwendeten Sprachsamples. Dazu werden die - angeblichen - Erlebnisse von ORLAC jeweils genau datiert, wie Tagebucheinträge, und auf den Hüllen sind kleine Fotos mit Örtlichkeiten abgedruckt, an denen die Reise vorbeigeführt haben könnte. Diese Stimmigkeit bis ins kleinste Detail macht die drei Platten schon zu einem Fest, bevor man sich die Musik anhört, die sich zwischen Dark Ambient, Neoklassik und ein wenig Industrial bewegt. Wer gerade über die Anschaffung von neuem Audiomaterial nachdenkt, sollte sich unbedingt einen Platz für die Trilogie von LAND freihalten - und sich beeilen, denn 'Praha', die erste 10", ist angeblich bis auf wenige Exemplare ausverkauft. Und wer alle drei Ausgaben ergattern kann, wird sich schon beim Auspacken der Lieferung in die Scheiben verlieben und auf lange Zeit in diesen charmanten Mystery-Soundtrack der 1920er Jahre versinken. Noch ein paar Worte zu den einzelnen Platten: PRAHA (2003, lim 500) Die erste der drei 10inches beginnt mit einer gezupften, traurigen und leicht orientalischen Melodie, die bald von Streichern unterstützt wird und mit dem kurz darauf folgenden Trommeln in einen stampfenden Rhythmus übergeht, der an einen Zug denken lässt. Traurigkeit und Wehmut des Songs wirken wie der Blick durch das Zugfenster auf das verregnete Prag in der Abenddämmerung, vermutlich die Ankunft von ORLAC, bei der sie schon zu wissen scheint, wie ihre Reise enden wird. Beim Aussteigen schlägt uns eine Rummelplatzmelodie entgegen, das Prager Nachtleben, das für die Protagonistin aber weniger fröhlich weitergeht: Der zweite Track legt einen Schleier über die Nacht, wabernde Sounds schleichen durch die Seitenstraßen, Türen werden verschlossen und eine tschechische Stimme beginnt ein Verhör. Die Industrialsounds machen 'Pantomima' zum bedrohlichsten Stück auf 'Praha', selbst die Streicher ertönen wie durch einen synthetischen Nebel. Die zweite Seite beginnt mit dem Geklapper einer alten Schreibmaschine (wird hier die Geschichte, die wir hören, vielleicht gerade erst geschrieben?) und dem typischen Vinylknistern, so dass es wiederum nicht schwer fällt, im Geiste ein paar Jahrzehnte zurückzuspringen. Die Stimmung bleibt 'dunkel', die aus zwei Tönen bestehende Melodie erzeugt durch immer wiederkehrende Pausen Spannung und eine Atmosphäre von Gefahr und Intrigen. Dann setzen Piano und Streicher ein, so dass sich der Track fast zu einer klassischen Komposition steigert, sich aber am Ende wieder auf die Geräusche der Schreibmaschine reduziert. Das zweite Stück auf Seite B ist ein typischer Dark Ambient-Track, der mit verwehten, düsteren Keyboardsounds einsteigt und in ein bedrohliches, martialisches Trommeln übergeht. Dazu singt eine wunderbare Stimme, die aus einer Opernarie stammen könnte; sie verstärkt die schummrige Stimmung, und die Geräusche von schnellen Schritten und heftigem Atmen verleiten zu der Annahme, dass hier jemand durch dunkle, leere Gassen flieht, im Nacken finstere Gestalten. FORTSETZUNG FOLGT. Die zweite Station der Reise beginnt mit einem Fernschreiber, der - wenn man dem dramatischen Cello glaubt - offenbar schlechte Nachrichten übermittelt, während CÉLESTINE gerade dem Zug im Wiener Hauptbahnhof entsteigt. Schon nach einigen Sekunden haben LAND mit wenigen Tönen wieder eine Atmosphäre der Flucht und Hetze erzeugt, die uns durch das dunkle Wien der 20er Jahre scheucht. 'Wien' ist die leiseste, zurückhaltendste der drei Platten. Mehr Dark Ambient und Industrial, weniger klassische Instrumentierung. Dennoch ist dieser mittlere Part nicht weniger intensiv. Er gönnt dem Hörer zwar einige Verschnaufpausen, wie etwa das minutenlange Glockenläuten am Ende von Seite A, erhöht aber gleichzeitig die Spannung durch plötzlich auftauchende Schritte oder das Quietschen von (Fall)Türen. Die getragene Frauenstimme, die auch auf 'Wien' wieder eingesetzt wird, scheint die Rolle eines griechischen Chors zu übernehmen: Sie ahnt die Tragödie voraus, auf die ORLAC zusteuert, und begleitet sie auf ihrem Weg. Genau zur Halbzeit der Trilogie weckt der laute Ruf 'Vorhang!' aus der düsteren Lethargie, und eine kleine Drehorgel-Pausenmelodie erinnert uns daran, dass wir uns vielleicht doch 'nur' in einem Stummfilmkino befinden. Seite B beginnt mit der Stille der Nacht, wie überhaupt die ganze Geschichte abends und nachts spielt. Außerdem klingt plötzlich alles dumpf, als ob ORLAC in den Gängen der Wiener Kanalisation verschwunden wäre und selbst die aufspielenden Streicher aus einem Kaffeehaus durch dicke Mauern hört; schon auf 'Praha' haben einige angedeutete Melodien an 'Der Dritte Mann' erinnert. Der letzte Track ist dann dank des Titels wieder ganz eindeutig einer Location zuzuordnen - der Geiger spielt an der Bar des Hotels Mariahilf. Dort verweilt ORLAC aber nur kurz, bevor die Hetze durch Wien weiter geht. FORTSETZUNG FOLGT. BUDAPEST (2007, lim 500)
Michael We. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » Homepage von LAND » Ausstellung über die 20er Jahre » Jährliches Stummfilmfestival » Deutsches Filminstitut » Episodenführer 'Fantomas' » Dossier über 'Les Vampires' » Kurzbio von Feuillade Themenbezogene Artikel: » BARADELAN: Lange vor Dalem » Svartsinn - Traces of nothingness CD » :Golgatha: - Icarus EP » Kammarheit - The Starwheel » WGT 2005 - Sonntag, 15.05.05 - UT Connewitz Themenbezogene Newsmeldungen: » N.Strahl.N - Brot und Lügen CDR
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Zusammenfassung
Mit 'Budapest' geht eines der charmantesten Projekte der letzten Jahre zuende: Der dreiteilige Soundtrack zu der fiktiven Reise der Französin CÉLESTINE ORLAC durch das Europa der 1920er Jahre. So viel optisches und akustisches Flair zwischen Stummfilm und Dark Ambient macht süchtig!
Inhalt
Praha
A1 Kavárna Národní, 20 Hod A2 Pantomima B1 Medzi "U Jednorožce" A Na Porící 7 B2 (Oci) Které Fascinujú Wien A1 Photomontage 1.924 A2 Das Problem Der Loge 13 B1 Monolog Der Portraits (Gespräch Mit A.R.) B2 Betrug Im Hotel Mariahilf... Budapest A1 53-dik Levél A2 Töprengő Tudós Beszélni Fog B1 "Nagy Bánat" Kintornása B2 398. Apróhirdetés : Utolsó Találkozó |