Freitag Sonnabend Anschließend: Umbau und steigende Temperaturen im Tanzsaal, nebenbei Ei- und Gurkenbrote. Warten, durch die Menge schieben. Ab und zu Richtung Tür gehen, atmen. Schließlich betraten die Russen von NEUTRAL die Bühne – kein Geheimtipp mehr ist diese Band spätestens seit ihrem Album „Serpents in the Dawn“. Mit Gitarren, Schlagzeug und Violine legten die Jungs auch gleich los. Einen Hauch unsicher wirkte vielleicht noch das erste Stück, sie spielten sich aber schnell ein und bald entfaltete sich der ganze melancholische Zauber und die Intensität der russischen Schwermutseele. Neben Songs von der genannten Veröffentlichung – großartig: „Serpents In The Dawn“ und „Starfall of the Nevermore“ –, gab es auch ältere Stücke, etwa das erhebende „Diamonds in your hands“ – und ein Lied auf Russisch, meiner Meinung nach „Luna“ von der „Serpents“. Das Ganze war durchgehend intensiv und atmosphärisch dicht, und deutlich trat ein Charakteristikum live gespielter Musik hervor: Es klang eben nicht alles haargenau wie auf der CD, und gerade hier trat für mich etwa der Unterschied zum ROME-Auftritt deutlich hervor.
Was OSTARA betrifft: Abermals führten ungeklärte Umstände dazu, dass ich eine Weile draußen war, beziehungsweise, wieder im Inneren, meine Aufmerksamkeit nicht ungeteilt der Band galt. Allerdings weiß ich nicht mehr wirklich, warum eigentlich. Vermutlich begannen Hitze und Sauerstoffmangel sich auszuwirken. Ich erinnere mich vage an einige Songs vom neuen Album „The Only Solace“ und an eine Videoshow, und RICHARD LEVIATHAN tauchte zum Glück nicht in Lackhose und Netzhemd auf – und überlasse hier das Wort anderen. Gleiches gilt für 6COMM. Da sich im Laufe des Abends eine leichte Zeitverzögerung gegenüber dem Programm aufgebaut hatte, war anschließend Eile geboten, um ans andere Ende der Stadt zum Mitternachtskonzert von CURRENT 93 (bzw. ANOK PE CURRENT 93) zu gelangen. Es stellte sich jedoch heraus, dass das Zeitfenster, das die Veranstalter eingeplant hatten, groß genug war, so dass vor der Agra-Halle, umgeben von Neon-Hüpfern und Lack-Latex-Krankenschwestern, noch ein Imbiss möglich war ("Es" war ... essbar. Allerdings würde ich nicht soweit gehen, es weiterzuempfehlen). Ich muss gestehen, dass ich die Agra-Halle seit 2003 nicht mehr von innen gesehen hatte – und die Erinnerung daran war auch gar nicht mal so gut, eingedenk schlechter Akustik und dem eklatanten Mangel an jeglicher Art von Atmosphäre. Daher: Skepsis angesichts der Entscheidung, CURRENT ausgerechnet hier spielen zu lassen – wobei wohl ohnehin niemand damit gerechnet hätte, dass CURRENT überhaupt jemals ausgerechnet auf dem WGT spielen würden. Schon wenig später stellte sich allerdings die Verlegung in die Agra-Halle als nicht ganz unberechtigt heraus: Denn es wurde voll. Nicht berstend voll, an den Rändern der Halle war noch genug Platz, jede andere Location hätte jedoch arge Probleme bekommen, und Vorwärtskommen war schon hier größtenteils kein Vergnügen mehr. Was dann folgte, als das Licht sich verdunkelte, war DAVID TIBET in Anzug und rosa (?) Hemd – und mit einem Großaufgebot an Musikern und Equipment, so dass auch die große Bühne plötzlich ihren Sinne hatte. Mit dabei waren Musiker von der „Aleph At The Hallucinatory Mountain“, u.a. BABY DEE, JAMES BLACKSHAW, MATT SWEENY und ANDREW W. K., und auch das musikalische Programm stammte größtenteils vom aktuellen Album. Und: Verdammt noch mal, CURRENT rockte. Wer die CD bereits kennt, kann sich das ungefähr vorstellen, wenn er große Boxen und eine gute Portion Live-Atmosphäre dazuaddiert. Das ging durch und durch, und gerade die Befürchtung, der berüchtigte Agra-Sound könnte das Konzert-Erlebnis ruinieren, traf glücklicherweise nicht zu. Geteilt waren indes die Reaktionen der Besucher: Große Begeisterung, ja Euphorie, über einen Meilenstein einerseits, vage Enttäuschung über die musikalische Wandelung andererseits. Gleichviel: Eines war der Auftritt in jedem Fall: Denkwürdig. Und für die Fans der „klassischen“ CURRENT gab es mit „Coal Black Smith“, „Niemandswasser“ und „Sleep has his house“ einen Hauch von „Früher“. Übrigens schließe ich mich meinem Vorredner an: Surreal war es. Dieses eigenartige Licht in der riesigen Halle, in dem man trotzdem nicht richtig sehen konnte, die nächtliche Stunde, an den Seiten Gastronomie-Bespaßung, überall Bewegung, Gemurmel, Geräusche... und am Ende sicherlich auch einfach die pure Erschöpfung sorgten beim Aufwachen am nächsten Morgen momentelang für die Frage: War das wirklich? Sonntag
Was nach einer Umbaupause folgte, die sich etwas hinzog und Gelegenheit bot, sich im Vorraum des Theatersaals auszubreiten, wurde überraschend zu DER Entdeckung des diesjährigen Treffens: Die sympathischen Australier BRILLIG, die in NICK CAVE-Manier (aber doch ein bisschen anders) über ihre Lieblingsthemen sangen: Death and Drinking. Die Gesangsparts übernahmen die Multiinstrumentalisten MATT SWAYNE und ELIZABETH REID (in einem entzückenden schwarzen Kleid), die neben dem Singen kräftig in diverse Tasten und Saiten (Gitarren, Banjo, Ukulele, Akkordeon, Autoharp) griffen. Höhepunkte waren zweifellos die Ballade über den verstorbenen „Old Captain“, „The Frozen Lake“ – und ein beschwingtes, grünlich-schillerndes Stück, das Zeug zu DER Absinth-Hymne überhaupt hat: „Absinthe makes the heart grow fonder.“ Absinth brought me here and absinthe makes me stay, Absinthe makes it go away – die Bühne passend dazu in Absinth-grünes Licht getaucht, ein schönes Detail.
Das Publikum war zu Recht hingerissen, und als am Ende eine junge Dame aus dem Umfeld der Band umherging und CDs verkaufte, fanden nicht wenige davon (inklusive Button) Abnehmer. Der eigentliche Grund meines Besuchs im Schauspielhaus waren jedoch die folgenden ANTIMATTER, die in minimalistischer Dreierbesetzung die dunkle Bühne betraten, die während der gesamten Zeit auch nicht viel heller wurde. MICK MOSS und seine Begleiter kamen, setzten sich, und fingen an – ein Auftritt, der gänzlich ohne Show auskam, keine Licht-, Video-, Feuer-, etc.-Effekte; mancher „Act“ auf der Agra-Bühne (o-Ton: Mädchen in der Tram: texttexttext FEUERSHOW bei LETZTE INSTANZ texttexttext; in der Agra-Halle rechnet man inzwischen ohnehin fast damit, dass im nächsten Moment die Matrix ausbricht, oder mindestens jemand anfängt sich zu beamen) sollte sich ein Beispiel nehmen daran, denn so geht es auch. Gute Musik braucht keinen Firlefanz; viel beeindruckender, wenn sie völlig aus den Musikern heraus lebte, die völlig in sich selbst und ihr Tun versunken sind. So wie diese drei auf der Bühne, die sich absolut selbst genug waren, vielleicht sogar das Publikum vergaßen, so schien es zumindest, und die nebenbei allenfalls gelegentlich einen Schluck Wein tranken. So entfalteten die schwermütigen Gitarrenstücke auch eine regelrechte Sogwirkung, Gänsehaut-Qualität, allen voran „The weight of the world“ und „Legions“ oder „Leaving Eden“ sorgten für Entrückungs- und nahezu Erweckungseffekte.
Durch und durch beeindruckend, magisch, intensiv; ein nachdenkliches, in sich gekehrtes Konzert, das, aufgrund der Beschränkung auf zwei Gitarren und eine E-Piano-Spielerin deutlich weniger rockig ausfiel als das „Leaving Eden“ Album. Die Massen zog das Konzert nicht an, so dass das Schauspielhaus angenehm nicht-überfüllt war, und beim Entschwinden in die Nacht hatte sich eine ähnliche Stimmung eingestellt, wie nach dem FIRE & ICE Konzert. Eingedenk von „Absinthe makes the heart …“ wäre nun ein Besuch in der Sixtina ein schöner Ausklang gewesen … aber irgendwie kam es dann doch anders, vielleicht, weil es in Leipzig immer anders kommt, als man denkt, und gemütlich vor der sich leerenden Moritzbastei zu sitzen und die iesjährigen gothischen Modetrends zu betrachten (zu beobachten war ein steigendes Aufkommen von Hörnern … keine Methörner, sondern bunte Plastikhörner für den Kopf; daneben schien die Angst vor der Schweinegrippe Einzug gehalten zu haben, denn zahlreiche Gestalten trugen Mundschutz), hatte auch etwas für sich.
Tony F. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » Offizielle Seiten des WGTs » NONPOP-Galerie zum 18. WGT » PETER MURPHY auf dem 18. WGT (NONPOP-Besprechung) » QUELLENTHAL in Leipzig Themenbezogene Artikel: » 28. Wave-Gotik-Treffen - Bericht » 27. Wave-Gotik-Treffen - Bericht » 26. Wave-Gotik-Treffen - Bericht » Eindrücke vom Wave-Gotik-Treffen 2016 » 24. Wave-Gotik-Treffen 2015 (WGT) » This is Nonpop - WGT-Rückblick 2014 » Rückblick Wave Gotik Treffen 2013 » Juni 2011 @ NONPOP » 17. WAVE GOTIK TREFFEN 2008 » Rückschau: 15. Wave-Gotik-Treffen » WGT 2005 - Sonntag, 15.05.05 - UT Connewitz » Rückblick WGT 2005 Themenbezogene Newsmeldungen: » WGT: nur noch 48 Stunden » NONPOP-Blick aufs WGT » Orplid live auf dem WGT » Vorschau: 15. Wave-Gotik-Treffen
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"Wahnwitziges ging mir dabei durch den Kopf: Binnen so kurzer Zeit IAN READ, PATRICK LEAGAS und nun auch noch DAVID TIBET zu sehen, das ist für einen (immer noch) bekennenden Neofolker schon eine Art Kuriosum. Dass alle drei zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten auftraten, steht symbolisch für die Zerrissenheit der einst so harmonischen WORLD SERPENT-“Familie“."
Nicht zu vergessen John Murphy, den ich bei Current 93 auch im Publikum gesehen zu haben glaubte. Mir ist erst Tage später eingefallen, dass er ja quasi Current 93-Gründungsmitglied war. Dass er jetzt bei der Weissen Rose gelandet ist potenziert oben angesprochene Zerrissenheit noch einmal um ein Vielfaches.
Roy & Martin (Our fav Nonpop Twins!)