Nach dem schönen CURRENT 93-Konzertbericht von Martin L. (folgt nunmehr nach dieser Rezension auf Seite 2), fällt nun mir die undankbare Aufgabe zu, wieder in die Niederungen der normalen CD-Rezension hinabzusteigen. ("Ein Kritiker ist eine Henne, die gackert, wenn andere legen".)
Das kürzlich erschienene neue CURRENT 93-Werk "Black Ships Ate The Sky" dürften die meisten, die es betrifft, inzwischen kennen. Somit kann beim Lesen jeder mitüberlegen, ob ich richtig liege oder nicht. Wagen wir uns zunächst vom Großen zu den Details vor: "Black Ships Ate The Sky" ist seit dem Jahr 2000 wieder der erste Tonträger, der als ein vollständig "reguläres" CURRENT 93-Album verstanden werden muss, erschienen doch in den vergangenen sechs Jahren im wesentlichen Livealben, über deren Sinn man sich streiten kann, sowie musikalisch schwerer zugängliche Werke, oft in Zusammenarbeit mit NURSE WITH WOUND, die sicher auch DAVID TIBET selbst als Nebenschauplatz der ansonsten seit etwa 1988 "apokalyptisch-folkigen" CURRENT 93-Linie versteht. "Black Ships Ate The Sky" ist aber noch viel mehr als das, sollte das "Looking For Europe"-Buch einmal in ein paar Jahren aktualisiert werden, wird man nicht umhin kommen, im CURRENT 93-Kapitel festzustellen, dass auch die unmittelbaren Vorgängerwerke "Sleep Has His House" (2000) und "Soft Black Stars" (1998) aufgrund ihres intimen, persönlichen Charakters (auch besonders lyrisch) kleine Abirrungen vom CURRENT 93-Weg waren.
Erst mit "Black Ships Ate The Sky" ist DAVID TIBET wieder in den Strom eingetreten, den CURRENT 93 recht eigentlich ausmacht, und den er nach "All The Pretty Little Horses" (1996) verließ. Doch was macht CURRENT 93 "recht eigentlich aus"? Nun, es ist natürlich das charakteristische MICHAEL CASHMORE-Gitarrenspiel, natürlich der schmerzerfüllte Tibet-Micky- Mouse-Gesang, aber vor allem ist es das "mehr" als "nur" Musik, die Idee, dass Musik Träger von Ideen sein sollte. Im Falle von CURRENT 93 dient die Musik als Vehikel für DAVID TIBETS christlich-synkretistische "Privatreligion", zu deren immergleichen Grundeigenschaften ein gewisser C.C. BRY schon in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts einen nahezu prophetischen Essay verfasst hat. Glücklicherweise ist CURRENT 93s Musik aber nicht nur "Träger von Ideen", sonst wäre sie ja heutzutage nichts anderes als Propaganda. Nein, durch MICHAEL CASHMORE (und weitere Musiker) ist fast ein Gleichgewicht zwischen Überbau und Musik geschaffen. Der in praktisch-musikalischer Hinsicht völlig ahnungslose Tibet überlässt die Musik denen, die sich damit auskennen, und widmet sich seiner Kernaufgabe: Der religiösen Verzückung, eben dem Überbau, der dafür sorgt, dass man als Fan auch ordentlich fasziniert ist. Gäbe es diesen nichtmusikalischen Input nicht, CURRENT 93 wäre ganz schnell entzaubert. An dieser Entzauberung ist CURRENT 93 für viele ihrer Fans mit den letzten Alben knapp vorbeigeschliddert, wohl ein Grund warum Tibet mit "Black Ships Ate The Sky" wieder "religiös" hemmungslos aus dem Vollen schöpft …Man hat wieder diese phantasievollen Verknüpfungen des alten Noddy-Universums, von einer "cosmic Shirley Temple" ist beispielweise die Rede, ebenso von "cartoon messiahs", wie auch von "cartoon destroyers"... und so fängt die Geschichte dieses Albums auch an, wie sie anfangen muss, DAVID TIBET hat wieder einmal was geträumt! Was hat er denn geträumt? Er träumte von GROSSEN schwarzen Schiffen, quasi eine Armada, die am Himmel auftaucht, um das Ende des patripassianistischen Stillstands zu verkünden. Ja, Donnerwetter, DAVID TIBET in religiöser Topform! Interessanterweise fehlt diesmal der romantisierende Blick auf "Albion", die eschatologische Botschaft ist im stärkeren Maße universalistisch und geprägt von Tibets neuer Obsession, der Koptischen Kirche, Schrift und Sprache. Blättert man dann derart eingestimmt weiter im gut 50 Seiten starken Booklet-Begleitbuch, stellt man etwas weiteres fest, was sicher der ein- oder andere alte Fan seit dem 1992er Klassiker "Thunder Perfect Mind" vermisst hat: CURRENT 93 möchten überaus offensichtlich wieder "Family" sein, sage und schreibe 25 Personen werden anhand eines Porträtphotos als helfende Künstler im Booklet vorgestellt. Natürlich ist es nicht die alte "Family", wenn auch MICHAEL CASHMORE und STEVEN STAPLETON die Konstanten sind. Vielmehr tauchen mit MARC ALMOND (SOFT CELL, PSYCHIC TV), SHIRLEY COLLINS, COSEY FANNI TUTTI und CHRIS CARTER (beide THROBBING GRISTLE und CHRIS AND COSEY) u. a. illustre Namen auf, mit denen Tibet eine gemeinsame, im schnelllebigen Musikbiz ungewöhnlich alte Geschichte teilt. ANTONY, BABY DEE und BEN CHASNY (SIX ORGANS OF ADMITTANCE) u.a. dokumentieren dann abschließend eher den "Family – Besetzungswechsel" seit dem Ende des World Serpent-Clans. Alle Zeichen deuten also so dermaßen auf den großen Wurf in der Geschichte von CURRENT 93 hin, dass man sich kaum traut das Werk dann auch mal zu hören. Irgendwann wagt man es dennoch, und stellt fest: Das Album ist sehr gut, streckenweise wundervoll. Musikalisch bestätigt sich, was der Tibet'sche Traum-Überbau, schon erahnen ließ: Denn auch MICHAEL CASHMORE schiebt seine letzten, für CURRENT 93 getätigten Kompositionen etwas beiseite, und greift, hört man sich seine Gitarrenarbeit an, alles in allem am ehesten den "Of Ruine Or Some Blazing Starre" (1994)-Faden wieder auf. Trotz dieses Aufgreifens darf man jedoch das doch recht beträchtliche Ausmaß an dissonanten, wie man so sagt "schwierigen", Passagen, die immer mal wieder in den sonst für CURRENT 93 typischen Folkklängen auftauchen, als relative Neuerung verstehen. Ein ähnliches Mischverhältnis aus experimentellen Tönen und eingängigen, sanften Klängen hat es bei CURRENT 93 wohl seit "Imperium" (1987) nicht mehr gegeben. Weiter ist der CURRENT 93-Folk selbst an ein paar Stellen interessant modifiziert worden. Bestes Beispiel ist hier das Stück "The Autistic Imperium Is Nihil Reich", welches an wenigen, aber markanten Stellen im Song so wirkt, als seien die Tonspuren verschiedener Folkkompositionen leicht zeitversetzt übereinander gelegt worden. Hier hat man sich wohl von SIMON FINNS "Pass The Distance"-Album (1970) inspirieren lassen, auf dem manchmal ein ähnlich irres Gefühl von Ungleichzeitigkeit erzeugt wurde (wie bei einem Sing-Kanon). SIMON FINN selbst ist komischerweise nicht auf dem Album vertreten, die Spuren der Freundschaft zu DAVID TIBET sind jedoch wahrzunehmen. Stilistisch herausfallend auch das Titelstück des Albums. Es handelt sich geradezu um eine Stakkato-Metal / Noise- Feedback-Orgie, die stark an MINISTRY zu "Just One Fix"-Zeiten erinnert. Das über elfminütige "Black Ships Were Sinking Into Idumea", unter Mithlife von CHRIS & COSEY entstanden, schwankt wiederum zwischen dissonanten Klangcollagen in alter "Nature Unveiled"-Manier und religiös-psychedelisch entrücktem C93-Folk. Es gibt noch weitere Stücke, die so oder ähnlich eine etwas "extremistische" Note haben, aber im Wesentlichen sind damit die stilistischen Eckpunkte des Albums genannt. Zusammen gehalten wird das über 75minütige Album (!) bei all dem Experimentiergeist von "Idumea", einem wohl methodistischen Gospellied (geschrieben von CHARLES WESLEY), welches nicht weniger als 8 Mal von verschiedenen Gastsängern interpretiert wird: MARC ALMOND, BONNIE "PRINCE" BILLY, BABY DEE, ANTONY, CLODAGH SIMMONS, PANTALEIMON /ANDRIA DEGENS, DAVID TIBET selbst und SHIRLEY COLLINS. Hier hieß es bereits in Kritiken, die Gastsänger, wohlgemerkt unabhängig vom eigenen Geschmack, alle Meister ihres Faches (bis auf DEGENS) mit jeweils ganz charakteristischen Stimmen, würden Tibet etwas die Show stehlen. Sein Mickey-Mouse-Gesang sei im Vergleich zu diesen Meistern amateurhaft geblieben und habe sich über die letzten 20 Jahre nicht weiterentwickelt. Da ich Tibets Stimme mag, sie mir wohlig vertraut ist, kann ich mich der Kritik nicht voll anschließen, erkenne aber, dass da etwas dran ist. Wenn man vom persönlichen "Fan-sein" versucht zu abstrahieren, könnte man fast boshaft feststellen, TIBET sei die Schwachstelle des Albums, soweit wollen wir aber nicht gehen. Zu "Black Ships Ate The Sky" ließe sich noch einiges mehr schreiben, mir erscheint es jedoch besser, nicht allzu voreilig zu sein. Es ist wohl ein Album, das bei jedem Hören zu wachsen im Stande ist und dem man nicht alle Geheimnisse direkt entlocken kann. Man wird sicher auch bemerkt haben, dass ich nicht unbedingt nur euphorisch bin. Die Wahrheit ist, ich bin mir schlicht etwas unschlüssig. "Black Ships Ate The Sky" ist einerseits ein großartiges, vor allem vielschichtiges Album, auf dem drei, vier Stücke vielleicht zu viel des Guten sind oder besser: sich einer voreiligen Bewertung entziehen. Andererseits stört die künstlerische Rückkehr Tibets zum religiösen Exhibitionismus ein wenig, verstehe doch zumindest ich sie ein Stück weit auch als eitle, wenn auch selbstausbäuterische Vermarktungsmasche (womit ich ihm "Authenzität" übrigens nicht absprechen möchte). Gleichzeitig freut mich widersprüchlicherweise diese Rückkehr zur Privatreligion und Family-Inszenierung auch irgendwie, war es das doch, was man etwas vermisst hat. Unter künstlerischen Gesichtspunkten erscheinen mir nun "Sleep Has His House" und "Soft Black Stars" etwas mutiger gewesen zu sein, wurde hier doch noch im Minimalismus neues musikalisches und atmosphärisches Terrain erkundet und mit dem Kierkegaard-Zitat eine religiöse Bescheidenheit, weg vom selbstausbeuterischen Religionsexhibitionismus angedeutet. Ein Versuch ganz "normal" zu sein, den Überbau etwas herunterzufahren, den man ja nun als gescheitert ansehen muss. "Who will deliver me from myself?" ("Black Ships Ate The Sky") schreit Tibet in ungeahnter Aggressivität aus sich raus. "Black Ships Ate The Sky" erkundet kein neues Terrain, sondern recycelt größtenteils Atmosphären, die wir von CURRENT 93 schon lange kennen. Nichtsdestotrotz ist es das Album, das man sich von CURRENT 93 gewünscht hat. Absurd, aber wahr. Gäbe es Punkte zu vergeben, würde ich wohl doch fast alle Verfügbaren spendieren, bin mir aber noch nicht sicher... (Dominik für Lichttaufe)
Martin L. für nonpop.de
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