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ROSSIJA MATUSHKA

Tonträgerezension


Kategorie: Rezension
Wörter: 1347
Erstellt: 03.12.2004
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Autor: Roy Liebscher

„Mother Russia" stellte sich ja in den letzten Jahren sozusagen als das „Neufundland" hochwertigsten Ambient-Industrials heraus. Wie souverän die verschiedenen russischen Klangkünstler ihren westlichen Pendants dabei gegenübertreten, sollten die beiden unten besprochenen, allerdings nicht zu sehr aktuellen (Anfang/Mitte diesen Jahres) Tonträger verdeutlichen.

V.A. - HOLY MOTHER RUSSIA (Steinklang-International / CD-R)

Russlands düstere, differenzierte Klanglandschaften fluten seit wenigen Jahren das europäische Industrialbrachland, begeistern mit zahlreichen, fantastischen Veröffentlichungen auf etablierten Labels und scheinen so nach und nach das Niveau einer in Lethargie verfallenen Musiknische stetig zu beleben und zu erhöhen. Steinklang, die sich zuletzt mit diversen Veröffentlichungsserien und Sublabels einiges für die Zukunft vorgenommen haben, kompilierten eine kleine Auswahl dieses russischen Phänomens.

Acht exklusive Stücke von acht überwiegend bekannten, namhaften Projekten, die sich allesamt im Bereich DarkAmbient/Industrial bewegen, was dem Tonträger einen einheitlichen Fluss verleiht, wie man ihn nur selten von Samplern erwarten darf. Dass bei der Zusammenstellung aber auch auf Akzente gesetzt wurde, ist höchst lobenswert.
Als Einstimmung dient LINIJA MASS’ zehnminütiger, sich fließend entfaltender Teppich aus bedrückenden, niedrigen Frequenzen, angereichert mit hereinbrechenden Noisegewittern und slawischen Sprachsamples. Ein Stück, das stetig wächst und immer schwerer, intensiver wird.
Es folgt LUNAR ABYSS QUARTET, deren ritueller, kraftvoll-imposanter Rhythmus stark an DEUTSCH NEPAL erinnert. Leider übernahm man wohl auch die durchgehend statischen, ermüdenden Loopstrukturen nämlichen Vorbilds, so dass es dann doch nicht allzu bedauerlich ist, wenn mir dieses Projekt vorher kein Begriff war.
Bei REUTOFF handelt es sich hingegen um exzeptionelle, einzigartige Ausnahmemusiker – über alle kleinlichen, nichtigen Charakteristika erhaben, stößt jeder noch so ambitionierte Erklärungs-, Definitionsversuch ins Leere. Kann nur ins Leere stoßen, weil ihre vorgelegte Arbeit wahrhaftige Kunst ist, die sich nicht in vorgefertigte Schächtelchen IRGENDeiner genreabhängigen Kartei einsortieren lässt. Bereits der Name REUTOFF (bezieht sich auf Reutov, ein Vorort Moskaus) bezeichnet trefflichst die Stimmung ihres künstlerischen Outputs – es ist eine zwielichtige Atmosphäre, eine emotionale Melange, gewoben aus Bildern eines Zusammentreffens von verschiedenen: archaischen, natürlichen, modernen Architekturen; wie eine laute Weltstadt, die gleitend in eine sanfter schreiende, ilde, verlassene Landschaft ebbt.
Im Mittelteil schwächt „Mütterchen Russland" dann mit SAL SOLARIS und BARDOSENETICCUBE ein wenig ab, was sein ansonsten außergewöhnlich hohes Klangniveau betrifft. Wobei man von erstgenannter Band besseres als unkonkrete Soundverformungen gewohnt ist und letztere nur ambientartige Loops ideenlos und über sechseinhalb Minuten mit gequälten Sprachsamples hinterlegt. Aber wie das bei Samplern so ist, stellt sich auch hier die leidliche Frage, inwiefern die vorgestellten Stücke auch wirklich repräsentativ für das eigentliche Material der jeweiligen Musiker sind.
Was jedoch STALNOY PAKT darauf hervorzaubern, ruft einen schmerzlich in den Sinn, wie sehr man CISFINITUM beim ersten Blick auf die Tracklist vermisste. Ganz ähnlich wie auf den Veröffentlichungen Herrn Voronovskys, wird hier mit einer unsagbaren Leichtigkeit bewiesen, welch einer durchdringenden, beeindruckenden Spannungskurve man ein einzelnes Stück unterwerfen kann, ohne dass diese dem atmosphärischen Grundton abträglich wird.
Mit LUCISFERRATO folgt jener Moment, den ich eingangs als das Setzen von Akzenten beschrieben habe. Eine überaus interessante Collage aus seltsam im Hintergrund gehaltenen Akustikgitarren, zunächst rhythmuslosen Perkussionseinfällen, sakralem Gesang und der üblichen Elektronik, was sich alles schrittweise zu einem Gesamtbild aufbaut, ja sogar in ein explosives Krachfinale mündet. Nun, ich würde es leichtfertig als avantgardistischen AmbientNoiseFolk bezeichnen, käme aber dem eigentlichen, faszinierenden Kern dieser Musik dadurch nicht näher.
Den Abschluss bildet mehr oder weniger angemessen HUM mit einer tiefen Grundierung, die sich wie ein Flugzeugmotor anhört und im Verlaufe zu einer breitgefächerten, melancholischen Atmosphäre erweitert wird.

Obgleich sich auch mit HOLY MOTHER RUSSIA ein weiterer richtungsweisender Tritt in den Hintern ach so gefeierter Helden der westlichen Ambient/Industrialszene manifestiert – ich denke da vor allem an eine einstmals legendäre, skandinavische Plattenfirma und ihrem zuletzt inflationärem Output an leblossynthetischer Musik... – darf sich dieser Sampler jedoch nicht der Perfektion gewiss sein. Was hauptsächlich auf die angesprochenen Schwachstellen im Mittelteil, die nicht allzu optimal ausgereizte Spieldauer und den wirklich spärlich gesetzten Informationen zum Tonträger zurückzuführen ist.
Was bleibt aber, ist wiederum die Feststellung, dass gerade die russische Musikszene Tendenzen ins Genre hämmert, die sich unvergleichbar lebendig, organisch und ausgereift anhören.


Release: 2004, SK-IN 02, LP limitiert auf 500 Kopien, CD-R limitiert auf 100 Kopien

Tracklist:
1. Linija Mass – Pesnya O Rodine
2. Lunar Abyss Quartet – Zoloto
3. Reutoff – Black Mirror (Outside)
4. Sal Solaris – Oshidanie
5. Bardoseneticcube – Machine
6. Stalnoy Pakt – ROA
7. Lucisferrato – Ingenious Sign
8. HUM – Self Disidentfication # 3

54min

www.steinklang-records.at / info@steinklang-records.at



KRATONG – THE BEES OF PSYCHIC PROVINCE (Wrotycz)

…und noch einmal "Mother Russia" ...pardon: Prussia! Mit KRATONG ist weder das thailändische Volksfest, noch die denkbar schlechteste Aussprache einer frankophonen Speise gemeint, sondern ein weiteres vielversprechendes Musikprojekt aus Kaliningrad. Das Konzept hinter und die Komposition von THE BEES OF PSYCHIC PROVINCE entstammt dabei ganz allein dem Kopf Jhonny’s, seinerseits Gitarrist der bekannteren Folkband ROMOWE RIKOITO, der zudem für die vielinstrumentierte Umsetzung seines eigenen Projektes talentierte Gastmusiker aus dem RR-Umfeld anheuerte.

Diese Besetzung ist dann auch auf den ersten drei Stücken überdeutlichst hörbar: perfekt eingespielter, streicherbetonter Neofolk (p)russischer Prägung. Besonders herausragend und gelungen will mir hierbei RED RIVER/VIRGINIA erscheinen, dessen Text auf einer Vorlage des amerikanischen Dichters T.S. Elliot beruht. Ein großartiges Lied, überzeugend vor allem durch sein verträumtes Zusammenspiel von Gitarre und Violine, dass zum Ende hin von sanften, harmonischen Naturklängen begleitet wird. FAIR MARGARETH AND SWEET WILLIAM trifft dagegen weniger meinen persönlichen Geschmack; wer jedoch schottischer Folklore zugetan ist, wird dieses Stück lieben, zumal auch die ansonsten recht verhaltene Gitarre hier etwas lebhafter zutage tritt.
KRATONG erweisen sich demnach durchaus als geübt im Neofolkbereich; ihr Debütwerk hat jedoch noch einige andere hörenswerte Facetten zu bieten.
Mit dem vierten Titel beginnt der, wenn vielleicht nicht bessere, so doch zumindest interessantere Part des Albums. Problemlos geht die Musik in ein nahezu ausschließlich elektronisches Terrain über, womit sich der Komposition freilich weitgefasstere Räume öffnen, die mannigfaltig genutzt werden. So berührt man viele unterschiedliche Klangweisen, wie schräge Ambientsounds oder Synthiepopmelodien und -rhythmen, die aber jeweils nur gestreift und in einen differenzierten Zusammenhang gesetzt werden. Vor allem aber erinnert diese zweite Hälfte des Tonträgers immer wieder sehr intensiv an COIL, wobei auch Jhonny’s Gesang der eigentlich doch unverwechselbaren Stimme des kürzlich – und zu unserem tiefstem Bedauern – verstorbenen JHONN BALANCE nachzuempfinden versucht wurde. Das für mich mit Abstand gelungenste Stück dieser CD – AN OUTWARD SPIRAL – begeht ebenfalls sehr deutlich diesen Pfad. Ich empfehle, es bei etwas erhöhter Lautstärke im Dunkeln zu hören, wodurch am ehesten sein klaustrophobischer Taumel aus hypnotisch durchschneidenden Sequenzen, sein endlos prasselndes, wibberndes Hologramm an Klangeffekten und halluzinierenden Vocals entfaltet wird. Wenn man so etwas nicht schon einmal so ähnlich auf MUSICK TO PLAY IN THE DARK gehört hätte, wäre es ein wahrhaftes Meisterwerk.
Das eigentliche Konzept schließt mit einem 21minütigen düsteren Soundtrack für eine Wanderung durch Bewusstsein und Unterbewusstsein, der seine guten und weniger guten Passagen besitzt und sich zum Ende doch sehr atmosphärisch entwickelt.
Ein „Bonustrack" trägt KRATONG’s musikalische Odyssee nochmals zu einem anderen und wohl auch eher unerwarteten Gestade: THE HYPNOTIC ATTRACTION ähnelt simpleren, geradlinigeren Stücken von HAUJOBB, von denen zugegeben nicht allzu viele existieren.

Das polnische Label WROTYCZ liefert mit seiner ersten Veröffentlichung einen psychedelischen Cocktail aus Neofolk, Ambient und rhythmischer Elektronik, der sich durchgehend durch eine kristallklare Aufnahmequalität auszeichnet, wie ich sie bisher nur von SCIVIAS kannte. Zur Gestaltung lässt sich bemerken, dass A5-Pappfolder eine durchaus ästhetische Alternative zum allmählich ausgedienten Jewelcase sein mögen, aber leider auch eine eher fragile Form der Aufbewahrung bergen, wodurch der Tonträger zudem unschöne Spuren hinterlässt.
Auch wenn einige scheuklappenbesetzte Musikfreunde nur den einen Stil bevorzugen und mit THE BEES OF PSYCHIC PROVINCE dadurch nur ein, aus ihrer Sicht halbes Album in den Händen halten, ist dieses Konzept der Abwechslung und Vielschichtigkeit nicht die schlechteste Idee, seinen musikalischen Horizont zu erfahren und auszudehnen.


Release: 2004, WRT 001, CD

Tracklist:
1. About Dissonance And Some Sidereal Dreams
2. Red River/Virginia
3. Fair Margareth And Sweet William
4. A Dream Of The Faded Summer
5. TD Experience
6. Ode2Dee
7. An Outward Spiral
8. Province
9. The Hypnotic Atrtraction

69min

www.wrotyczrecords.prv.pl / wrotyczrecords@op.pl


 
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