Dass der weltanschauliche Hintergrund von ANEMONE TUBE stark von mystisch-religiösen (um den durch inflationären Vulgärgebrauch zum Unwort verkommenen Terminus "spirituell" elegant zu umschiffen) Einflüssen im alllgemeinen sowie solchen buddhistischer Provenienz im besonderen geprägt ist, dürfte den meisten genreaffinen Lesern hinlänglich bekannt sein, schließlich hat der aus Süddeutschland stammende und seit geraumer Zeit in Berlin ansässige Künstler seine diesbezüglichen Interessen sowie seine ausgeprägte Sympathie für den Buddhismus insbesondere in den letzten Jahren immer nachhaltiger in seine Veröffentlichungen einfließen lassen – exemplarisch sei hier auf die Veröffentlichungen der gegenwärtigen Dekade, insbesondere den 2013er Split "This Dismal World" mit DISSECTING TABLE sowie die Alben "In The Vortex Of Dionysian Reality" von 2015 bzw. 2017 und "Golden Temple" von 2016 verwiesen. Die nun vorgelegte, drei CDs umfassende Retrospektive "The Three Worlds" bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme, vielmehr begegnet uns der entsprechende Topos bereits im vorangestellten Titel, der, so darf man annehmen, wohl weniger auf die gleichnamige, von Gottlieb Frege Anfang des vergangenen Jahrhunderts formulierte (und im Kontext durchaus interessante Analogien aufweisende), ontologische Theorie, sondern vielmehr auf die, genuin hinduistische, jedoch erst im Theravada-Buddhismus zu voller Blüte gelangte Trailokya-Doktrin abheben dürfte, die drei fundamentale Ebenen der Existenz postuliert: Kāmaloka, die von Begierden, will heißen vom Durst (Tanhā), von Instinkten und Leidenschaften konstituierte Sphäre, in der sich Höllenwesen, Dämonen, Tiere, hungrige Geister und auch Menschen tummeln; Rūpaloka, die von triebhaften Impulsen weitgehend bereinigte Ebene reiner Form, die halbgöttlichen Entitäten sowie denjenigen vorbehalten ist, die den buddhistischen Weg des Dharma konsequent realisiert haben; und zu guter letzt Arūpaloka, die Sphäre reiner Formlosigkeit bzw. (im Interesse einer stärkeren Abgrenzung zum Begriff des Chaos, der in gewisser Weise ja auch Formlosigkeit, jedoch auf unendlich tieferem Niveau, bezeichnet) vollständig transzendierter Form – ein quasi-himmlischer Bereich, der, wenn man so will, so etwas wie die letzte Station vor dem endgültigen Verlöschen im Nirvana darstellt. Insofern sich im Präsentationsrahmen der drei einzelnen Alben zahlreiche entsprechende Hinweise in Form von Titelgebungen, Bildelementen und Zitaten finden, erscheint dem Rezensenten dieser kurze Exkurs im Interesse eines angemessenen Verständnisses allen Unkenrufen zum Trotz nicht nur vertretbar, sondern nachgerade angezeigt.
Das musikalische Material, das unter dieser Ägide versammelt wurde, besteht durch die Bank aus Samplerbeiträgen sowie vergriffenem und unveröffentlichtem Material der letzten zwanzig Jahre, wurde jedoch sorgfältig überarbeitet und so feinfühlig zusammengestellt, dass der geneigte Hörer den de facto vorliegenden Compilation-Status der Alben bisweilen völlig aus den Augen verlieren kann. Betrachten wir im folgenden nun Teil I des Gesamtopus, so legen die im Vorangegangenen formulierten Überlegungen dessen Analogsetzung mit jener Sphäre der Instinkte und frei flottierenden Leidenschaften, mithin der das Leiden (Dukkha) bedingenden "Verhaftungen" (Upādāna), dem Rūpaloka, nahe. Und insofern auch im christlich-abendländischen Kulturkreis das Moment der Vanitas (lat. vanitas = Eitelkeit) ebenso konstitutiv wie symptomatisch für jene materiell-irdische, leidensbehaftete und erlösungsferne Sphäre ist, in der zumindest Mensch und Tier sich zweifellos bewegen, scheint auch der Untertitel "Allegory Of Vanity" diese Deutung ausdrücklich zu bestätigen. Nicht minder passend zeigt das in schlichtem Schwarz-Weiß gehaltene Coverbild den, wie immer auf seine unverwechselbare Art & Weise vermummten, Künstler neben einem Tischchen, auf dem nach dem Vorbild klassischer entsprechender Stilleben, vorzugsweise aus dem Barock, diverse symbolische Repräsentanten des Vanitas-Motives wie Uhr, heruntergebrannte Kerze, Totenschädel und Gebeine oder ein umgestürztes Gefäß, aber auch solche religiöser Transzendenz wie Kruzifix, Buddhafigur und Räuchergefäß versammelt sind. Die inwendig aufgeführten Zitate schließlich entstammen samt und sonders dem asiatisch-buddhistischen Umfeld und umkreisen ohne Ausnahme eben jene Eitelkeit, Heil-, Substanz- und letztendlich Hoffnungslosigkeit, die mit der instinkt- und triebhaften Existenz in einer ausschließlich materiell verstandenen Welt zwangsläufig verbunden sind. Das vor dem Hintergrund des Geschilderten bezeichnendste und für ein Verständnis des thematischen Gesamtzusammenhangs wohl fruchtbarste Diktum stammt vom historischen Buddha Shakyamuni aka Siddhartha Gautama höchstselbst und sei deshalb an dieser Stelle wiedergegeben: "The three worlds are transient like clouds in autumn / birth and death of all beings unfolds like a dance / their lives rush by like a mountain stream / vanishing like lightning in the sky."
Dieser Programmatik Rechnung tragend entpuppt sich gleich der erste Track, "Ausweg" von 1997, als ein eher schredderig-harsches Stück Musik, das sich langsam um einen hypnotischen Noise-Loop herum aufbaut, möglicherweise (ohne den interpretatorischen Furor an dieser Stelle zu weit treiben zu wollen) die Verstrickungen in die samsarische Welt des Rūpaloka repräsentierend, während mit fortschreitender Laufzeit immer wieder diverse Glöckchen, Saitenakkorde und Flötentöne zwischengeblendet werden, die, so ist anzunehmen, wohl den spirituellen – nomen est omen – Ausweg aus dem materialistisch-säkularen Jammertal andeuten sollen. Auch der nächste, ebenfalls von 1997 datierende Titel, "Primary Slave", passt nominell wie musikalisch zum geschilderten Konzept und kontrastiert kalt-mechanische Dissonanzen mit allerlei warmen, Natürlichkeit atmenden Field Recordings wie Wasserplätschern und Vogezwitschern, wobei die unbehagliche, mal durch metallisches Quietschen, mal durch verzerrte Radiostimmen und andere Störfrequenzen generierte Grundatmosphäre jedoch klar dominiert. Das anschließende, bei aller Wuchtigkeit doch ausgesprochen atmosphärische "Illusions" von 1998 ist wohl das Highlight des Albums und entfaltet mit seiner treibenden Grundstruktur einen beinahe hypnotischen Sog. In Entsprechung zum Titel artikuliert das Stück eindringlich jene verhängnisvolle Wirkung, die die leidenschaftliche Verstrickung mit den illusionären Erscheinungen der phänomenalen Welt auf die menschliche Seele ausübt – und läuft konsequenterweise in einen finalen, kakophonischen Orkan, einen unaufhaltsam in die Finsternis ziehenden Maelstrom aus, der so wieder die Bewegungen des Wehens, Fließens, Fliegens als Urbild von Flüchtig- und Vergänglichkeit aufnimmt. Mit "Asphyxiate" (1998/99) wird es dann wieder dezidiert ungemütlich: Passenderweise gemahnen die Soundmuster zu Beginn an angestrengt klingende Atemzüge, die peu à peu von einem unangenehmen, klaustrophobischen Loop überlagert werden, der den Eindruck einer kontinuierlichen Einengung des Entfaltungsraums der Atmung – die ja nicht von ungefähr in allem meditativen Bemühen eine zentrale Rolle spielt – geradezu physisch spürbar macht. Auch ohne allzugroße hermeneutische Gewaltanwendung kann dies wohl im Sinne einer Inbeschlagnahme des seelischen Raumes durch die manipulativ-bindenden Einflüsse der phänomenalen Welt gedeutet werden, die den Geist, der sich davon nicht zu lösen oder abzugrenzen vermag, jenem langsamen Erstickungstod entgegentreiben, der im Titel angedeutet wird. Der gleichermaßen aus dem Jahr 1998/99 datierende Abschlusstrack "Imminence" schließlich ist noch einmal eine Noise-Nummer reinsten Wassers, die durchaus zünftig, aber wenig originell oder überraschend daherkommt, was angesichts der schlappen zwanzig Jahre, die sie auf dem Buckel hat, indes keineswegs ehrenrührig ist: insgesamt bildet das Stück nämlich dennoch einen soliden Abschluss für einen summa summarum fesselnden Liederreigen aus der prähistorischen Frühphase ANEMONE TUBE'schen Musikschaffens.
"Allegory Of Vanity" ist übrigens, wie die zwei nachfolgenden und in Kürze an dieser Stelle zu besprechenden Begleiter auch, als Ergebnis einer Kollaboration zwischen dem ANEMONE TUBE-eigenen Label THE EPICUREAN und den in Barcelona residierenden Katalanen von LA ESENCIA erschienen. Optisch wie haptisch gibt die vorliegende CD ein veritables Schmuckstück ab und präsentiert sich in einem ebenso augenschmeichelnden wie schlicht gehaltenen 6-Panel-Kartonschuber von hoher Verarbeitungsqualität, der detailreich und doch ohne Schnickschnack gestaltet wurde. Insgesamt betrachtet also ohne Wenn & Aber eine Empfehlung für jeden, der mit der Arbeit von ANEMONE TUBE im allgemeinen einigermaßen vertraut ist und auch dem empfindlich harscheren Frühwerk etwas abgewinnen kann. Vor dem Hintergrund der insgesamt "harmonischeren" Veröffentlichungen der jüngeren Vergangenheit könnte der Erstkontakt mit "Allegory of Vanity" beim unbeleckten Neueinsteiger indes einen leidlich irreführenden Eindruck hinterlassen, weshalb ein solcher zumindest mit Vorsicht zu genießen ist oder am besten gleich mit einer flankierenden Inohrenscheinnahme späterer Veröffentlichungen verbunden werden sollte. Alles in allem bekommt das interessierte Publikum es hier jedoch mit einer überaus gelungene Retrospektive zu tun, die sich in jeder Hinsicht wohltuend von vergleichbaren Veröffentlichungen abhebt und nachhaltig Lust auf Teil II und III der Reihe macht. – Die dazugehörigen Besprechungen finden sich selbstredend demnächst an dieser Stelle.
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Zusammenfassung
In Form & Inhalt ausgesprochen gelungener erster Teil einer Retrospektive musikalischen Materials aus der Frühphase des Wahl-Berliner Post-Industrial-Projektes mit gewohnt mystizistischem Hintergrund: rauher & harscher als die Alben der jüngeren Zeit, dennoch eine klare Empfehlung!