Alte SOL INVICTUS-Klassiker vorstellen, das ist wie Euro-Rettungspakete nach Athen tragen – dieser Meinung waren, überspitzt formuliert, nicht wenige in der NONPOP-Redaktion, als bekannt wurde, dass AUERBACH TONTRÄGER den kompletten Backkatalog der britischen Neofolk-Institution wiederveröffentlicht. In der Tat: Den meisten unserer Leser sollte das Œuvre von TONY WAKEFORD bekannt sein. Dennoch lohnt es sich, ein paar Worte zum Wiedererscheinen von Klassikern wie „Lex Talionis“, „Death Of The West“ oder „In A Garden Green“ zu verlieren. Zum einen erzielten die alten WORLD SERPENT-Versionen zumindest zu den Hochzeiten von Ebay Phantasiepreise, zum anderen gibt es eventuell immer noch Hörer, denen das Schaffen von TONY WAKEFORD nicht bekannt ist. Und überhaupt: Ist der Gedanke zu verwegen, dass auch in Zeiten von YouTube und Internet-Tauschbörsen die Nicht-Erhältlichkeit vieler Tonträger von CURRENT 93, NATURE AND ORGANISATION oder eben SOL INVICTUS die nachwachsende Neofolk-Generation in die Arme billiger Epigonen trieb?
Das mehr oder weniger komplette Lebenswerk von TONY WAKEFORD erschien bereits Ende Mai auf AUERBACH TONTRÄGER in einem Pappschuber und ist 22x13x14 Zentimeter groß. Die schlicht „The Collected Works“ titulierte, auf 270 Exemplare limitierte SOL INVICTUS-Box enthält 27 CDs und 3 DVDs, darunter die Soloarbeiten „La Croix“ und „Cupid And Death“. Ab Juli wird AUERBACH die meisten dieser CDs auch einzeln veröffentlichen. Der individuellen Komplettierung der heimischen SOL INVICTUS-Sammlung steht somit nichts im Weg.
Den Anfang machten im Juli die beiden CDs „Against The Modern World“ und „In The Rain“. Schon hier fällt die liebevolle Aufmachung der Scheiben auf: Alle Wiederveröffentlichungen wurden einander optisch angeglichen, ohne dass dabei der Charakter des individuellen Artworks verloren geht. Neben zumeist kurzen, lakonischen Liner-Notes von WAKEFORD bestechen beide CDs mit mehr oder weniger raren Bonustracks.
„Against The Modern World“ sah, zusammen mit dem eher für Komplettisten interessanten Live-Machwerk „In The Jaws Of The Serpent“, als „Sol Veritas Lux“ schon so manche Wiedergeburt – zuletzt 2006 auf DARK VINYL. AUERBACH TONTRÄGER entschieden sich, beide Scheiben getrennt zu veröffentlichen. Was auf den ersten Blick wie Geldschneiderei wirkt, entpuppt sich als echter Glücksfall: Statt sich durch die unhörbare Live-Tonqualität des 1988 in Japan aufgenommen Konzerts auf „In The Jaws ...“ quälen zu müssen, gibt es hier neben dem auf allen „Against ...“-Rereleases obligatorischen „The Joy Of The World“ acht zumindest mir bis dato unbekannte Demosongs in akzeptabler Tonqualität zu hören. Darunter befinden sich echte Klangperlen. So versteckt sich hinter „See The Dove Fall“, von IAN READ und TONY WAKEFRD mit einem RUDYARD KIPLING-Gedicht und Textfragmenten des „Lex Talionis“-Stücks „Tooth And Claw“ vorgetragen, eine „The Joy Of The World“-Version. Das starke „The Hammer Or The Anvil“ wildert musikalisch zwischen JOY DIVISION und WAKEFORDs alter Wirkungsstätte ABOVE THE RUINS. Auch die kaum wiedererkennbare Urversion von „Black Easter“ weiß zu überraschen.
Über „Against The Modern World“ selbst muss man in der Tat kein Wort mehr verlieren: TONY WAKEFORS begründete mit diesem quasi im Alleingang eingespielten Mini-Album 1988 seine Karriere. Unterstützt vom heidnischen Chorknaben IAN READ und der mysteriösen Violinistin LIZ GREY lotet WAKEFORD hier noch die Grenzen zwischen Wave, Postpunk und den Anfängen des Apocalyptic Folk aus. Ob beim elegisch von IAN READ vorgetragenen „A Ship Is Burning“, beim epischen „Wolf-Age, Axe-Age“ oder dem Tanzflächenknaller „Long Live Death“: Hier mag nicht immer jeder Ton sitzen, und doch ist „Against ...“ mehr als bloß ein Zeitdokument, sondern ein echtes Stück Musikgeschichte.
Das 1995 veröffentlichte „In The Rain“ ist eines der Lieblingsalben von TONY WAKEFORD selbst. Und wer könnte es ihm verdenken? Auf „In The Rain“ verdichten sich alle Markenzeichen, die SOL INVICTUS ausmachen: Mehr oder weniger zarten Folk-Preziosen wie „Stay“, „Believe Me“ oder dem Titellied stehen mit „Down The Years“ oder „The World Shrugged“ bombastische Abrechnungen mit menschlichen Grundthemen wie Liebe, Verrat, Krieg und politischen Wirrungen entgegen. Im Vergleich zum Vorgänger „Death Of The West“ und dem Nachfolger „The Blade“ ist „In The Rain“ vergleichsweise ruhig ausgefallen. Das Pianospiel von DAVID MELLOR ist ebenso präsent wie die Streicherfraktion. Während MELLOR und Cellistin SARAH BRADSHAW nach den Aufnahmen SOL INVICTUS verließen, feierte ein gewisser ERIC ROGER auf „In The Rain“ seinen Einstand. Er sollte SOL INVICTUS noch lange begleiten. Die Wiederveröffentlichung von „In The Rain“ kommt mit zwei zusätzlichen Liedern: Die JOHN CALE-Adaption „Hedda Gabler“ von der 1995er „Im Blutfeuer“-Compilation und „Did You See“ vom „Terra Serpentes“-Sampler (1996).
Anfang August erscheint auch das erste SOL INVICTUS-Vollzeitalbum, „Lex Talionis“. Es gilt zu Recht als eines der besten Alben der Briten. Die Rezeption beruft sich dabei größtenteils auf schwarze Discofeger wie „Black Easter“ oder das Titelstück, welches – weltweit wohl einzigartig – den Wave-Gitarrendrone definierte. Da gelangen Folkperlen wie „Tooth And Claw“ oder „Blood Against Gold“ zu Unrecht fast in Vergessenheit: Sowohl Komposition als auch technische Finesse des 1990 aufgenommenen Albums zeugen im Vergleich zum 1988 eingetrümmerten „Against The Modern World“ von einem qualitativen Quantensprung. Als Bonus winken hier das schon angesprochene „The Hammer Or The Anvil“ in deutlich besserer Qualität, die „Reynardine & Abattoirs Of Love“ von der Original-LP-Version, die alternative „Fields“-Version des „Yangki“-Split-Zwölfzollers mit CURRENT 93 und NURSE WITH WOUND sowie ein nicht zwingender „Abattoirs Of Love“-Edit vom „Sacred War“-Sampler aus dem Jahr 1990.
Komplettiert wird Re-Issue-Serie Anfang August mit „In A Garden Green“. Eine Besprechung folgt noch gesondert auf NONPOP.
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