Im Leben von DEE HARRIS alias BABY DEE gab es sicher so manche einschneidende Zäsur. Ihr Weggang aus dem provinziellen Cleveland in die Künstlerbohème des Big Apple mag ein früher Einschnitt gewesen sein, später ihre immer wieder angeführte Entscheidung, Frau zu sein, und natürlich ihre relativ spät begonnene Karriere als Musikerin.
Sicher fällt auch ihr Wechsel vom DURTRO-Label zum größeren DRAG CITY ins Gewicht, denn der bescherte ihr ein opulent instrumentiertes und von renommierten Kollegen produziertes Album namens "Safe Inside The Day" und in der Folge einen respektablen Popularitätszuwachs. Denn auch wenn die eigenwillige Entertainerin aufgrund ihres skurrilen Humors und ihrer ungewöhnlichen Melodramatik wohl nie derart zum Everybody's Darling sensibler Hipster werden wird, wie ihr ehemaliger Weggefährte ANTONY, ging die Scheibe doch ordentlich durch Musikmedien und Feuilletons. Die nach wie vor bestehende Zusammenarbeit mit Freunden aus dem CURRENT 93-Umfeld wurden dabei freilich schon mal übergangen, die vorausgegangenen CDs blieben zum Teil unerwähnt. In dem Zusammenhang stellt das nun erschienene "Book Of Songs For Anne Marie" auch eine Art Nachtrag zur Künstlerbiografie dar, denn die Sammlung von mittlerweile zwölf Liedern wurde erstmals 2004 von DAVID TIBET als liebevoll gestaltetes Lyrikbändchen mit CD-Beilage herausgebracht – streng limitiert auf 150 Exemplare erschienen die damals noch sieben live im Studio eingespielten Stücke im provisorischen Klanggewand, nur sparsam instrumentiert mit Harfe und Klavier, und wäre es nach Baby Dee selbst gegangen, hätten sie in der Form wohl nie das Licht der Welt erblickt. Liebgewonnen hat die Künstlerin die Songs aber dennoch, denn die meisten gehören seitdem zu ihrem Liverepertoire, weswegen einige auch auf zwei Konzertmitschnitten aus Turin und Kopenhagen zu hören sind. Fünf Jahre später hat Baby Dee sich die Songs nun erneut vorgenommen, und legt mit Unterstützung von MAXIM MOSTON und anderen eine etwas breiter instrumentierte und sorgsam produzierte Version des Albums vor. Was erwartet einen nun? Zur möglichen Überraschung derer, die Baby Dee erst in den letzten beiden Jahren kennen gelernt haben, kein opulenter Kabarett-Stil, der auch Raum für Rockzitate und skurrilen Klamauk lässt, sondern eine sehr fragile, fast introvertiert wirkende Sammlung stimmungsvoller Kunstlieder voll offenherziger Liebeserklärungen an die Welt. Dabei scheint das ganze einen vagen Konzeptcharakter zu besitzen, denn grob zusammengehalten wird die Thematik durch die gelegentlich wiederkehrende Figur der Anne Marie, die Hauptperson einiger und Adressatin aller Songs ist. Recht homogen wirkt die Musik auch durch die Melodien, die, ausgehend von den genannten Hauptinstrumenten und Dees charakteristischer Falsettstimme, die Basis der Kompositionen ausmachen – Kompositionen, die trotz ihrer Ausgereiftheit dennoch genug vom sympathischen Flair des Improvisierten haben, der den mir nicht bekannten Originalversionen sicher noch stärker anhaftet. Ähnlich wie schon bei den ganz frühen Veröffentlichungen "Little Window" und "Love's Small Song" vernimmt man an einigen Stellen einen deutlich barocken oder renaissancehaften Einschlag, der zumindest mich an frühneuenglische Hofkomponisten erinnert – einen Sound, der den hin und wieder gezogenen Vergleich mit dem souligeren und so auch irgendwie "amerikanischeren" Antony, den Dee einst das Klavierspiel lehrte, etwas arbiträr erscheinen lässt. Renaissancehaft erscheint gerade "Lilacs", das in seiner schlichten Anmut auch ohne Zusatzinstrumentierung ein Höhepunkt des Albums wäre. Es erweckt durch Text und verspieltes Piano die Vorstellung einer schönen Parallelwelt, die einen plötzlich spüren lässt, wie fröhlich Baby Dees Musik eigentlich ist. Vielleicht ist ja der Mut, den man erst einmal aufbringen muss, um an diese Welt zu glauben, der einzige Wermutstropfen, der die Musik vordergründig so schwermütig wirken lässt. Auch von der Bildsprache her erinnern die Texte zum Teil an Gedichte des 16. und 17. Jahrhunderts. So zum Beispiel wenn die Sängerin den Liebenden als ein Haus versinnbildlicht, das den anderen als wärmendes Morgenfeuer gegen die kalten Winde der Dämmerung herbeiwünscht – damals hätte man das wohl „a well made conceit“ genannt. In diesem Themenbereich bleiben die Lyrics auch meistens, erzählen vom Vermissen des Geliebten und den kleinen Freuden des Zusammenseins. Nur gelegentlich klingt auch Großes an, wie die Reue eines Gottes über eine Schöpfung in Ruinen. Wenn ich sage, dass "Lilacs" auch ohne weitere Instrumente ausgekommen wäre, soll dies keine Kritik an deren Einsatz sein, vielmehr will ich die Kongenialität von Piano und Stimme hervorheben. Es gibt andere Stücke, bei denen die Zusatzinstrumentierung stärker ins Gewicht fällt. In den meisten Fällen bleibt sie aber dezent und bietet Stimme, Piano und Harfe einen angemessenen Hintergrund. Mostons Violine ist fast durchgängig zu hören, die verschiedenen Blasinstrumente stimmen schon beim neu eingespielten dramatischen "Overture" auf Kommendes ein. ROB MOOSE' Mandoline, die bereits einige Stücke von ANTONY & THE JOHNSONS live bereicherte, wird dagegen sehr punktuell eingesetzt und ist an manchen Stellen kaum bewusst vernehmbar. Besondere Hervorhebung verdient die Streicherarbeit des Cellisten JOHN CONTRERAS, der längst in der Liga von JULIA KENT und HILDUR GUDNADOTTIR spielt und dessen angekündigtes Soloalbum man mit Spannung erwarten sollte – zusammen mit Baby Dees schöner Harfenmelodie macht gerade sein Beitrag meinen eigentlichen Favoriten "Set Me As A Seal" zu einem wunderbaren Torch Song. Bevor ich noch weiter ins Schwärmen gerate, unterlasse ich es, auf weitere Stücke einzugehen und erwähne auch die Bonustracks nur beiläufig – sie passen sich perfekt ins Gesamtbild des Albums ein und wirken, als wären sie von Beginn an mit dabei gewesen. „A Book Of Songs“ wird hoffentlich ähnlich positiv aufgenommen werden wie „Safe Inside The Day“, trotz seiner etwas gesetzteren Gangart und seiner homogeneren Natur. Und selbstredend macht es auf neue Aufnahmen der Künstlerin gespannt, die, wenn alles gut geht, noch in diesem Jahr zu hören sind. Ein Rotkehlchen zwitscherte mir zu, dass es darauf wieder etwas schmissiger und opulenter zugehen soll. Verweise zum Artikel: » Baby Dee » Myspace Themenbezogene Artikel: » BABY DEE: I Am A Stick » LITTLE ANNIE / BABY DEE: State Of Grace » Baby Dee live in Hasselt » BABY DEE: Regifted Light » VARIOUS: Welcome To The Twisted Cabaret » BABY DEE: Safe Inside The Day » BABY DEE: The Robin's Tiny Throat » BABY DEE: ZWISCHEN BÄR UND KATZE Themenbezogene Newsmeldungen: » BABY DEE und LITTLE ANNIE mit Konzert am 24.12. » BABY DEE mit Gratiskonzert in Amsterdam » BABY DEE spielt Theater » BABY DEE-Konzert plus Ausstellung » BABY DEE-Ausstellung in Belgien / Neues Album » BABY DEE auf Europatour » BABY DEE mit neuer Homepage
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Zusammenfassung
Komplett überarbeitete Neuauflage eines vergriffenen Albums, das an den Stil von "Littel Window" und "Love's Small Song" anknüpft.
Inhalt
1. Overture 2:08
2. Love's Small Song 3:06 3. A Book of Songs for Anne Marie 3:41 4. Lilacs 3:41 5. Unheard of Hope 4:33 6. Black But Comely 5:05 7. And Anne Marie Does Love to Sing 5:50 8. Endless Night 4:36 9. Set Me As a Seal 3:58 10. A Morning Holds a Star 3:36 11. An Early Spring 2:13 12. Morning Fire 2:41 |