Diese von COUNT ASH (
MOON FAR AWAY) zusammengestellte, russische Neofolk-Compilation erscheint anlässlich der 64-jährigen Wiederkehr des Endes des großen Krieges 1945. Man mag hier schon zu recht einwenden, dass das Thema womöglich zu typisch für das Genre ist und dass man "vierundsechzigjährige Jubiläen" normalerweise nicht feiert, zumal es doch auch ein grauenvolles ästhetisches und politisches Ärgernis wäre, wenn irgendwelche Neofolk-Compilations auf ihre Art die alljährlichen D-Day-Feiern mitbegingen. Doch Gemach, eine D-Day-Feier wird hier nicht präsentiert und im Unterschied zum obskuren
"Letters From The Front"-Sampler (2003) wird auf "Enemies" auch kein Niederringen des Reiches aus russischer Sicht gefeiert, vielmehr hebt der Sampler unpolitisch auf das Freund-und Feind-Gemeinsame jenseits aller Fronten ab:
"All these "enemies" thought in different tongues about the same things: their homes, their beloved ones, their mothers …" Man zieht sich hier also auf das sattsam bekannte, nichtsdestotrotz wahre, "Wir alle sind Menschen"-Thema zurück, Menschen, die sich von Zeit zu Zeit abschlachten müssen, könnte man ergänzen. Es gäbe natürlich noch weit mehr zu sagen, etwa zu unterschiedlichen Formen der Feindschaft und ihren jeweiligen Prämissen, die englische Sprache unterscheidet beispielsweise noch tiefgründig zwischen "Enemy" und "Foe", oder zu den Konsequenzen allzu optimistischer Friedensutopien, doch wäre all dies im Rahmen einer Tonträgerrezension zu ausufernd.
Die beteiligten Künstler wählten nun, um das Thema des Samplers zu unterstreichen, meist Songs und Schlager, die zur Zeit des Krieges in ihrer Heimat populär waren, also "Lili Marleen" und ähnliches. Los geht's mit
DUNCAN PATTERSON (Ex-ANATHEMA, ANTIMATTER) &
DARREN WHITE (Ex-ANATHEMA), die sich einer Vertonung von
WILFRED OWENs (1893-1918) widmen, die Klammerbemerkung macht es für die Kenner bereits deutlich: Dies ist, wie in einer Notiz im Booklet stolz bemerkt ist, die erste Zusammenarbeit der beiden seit den legendären Früh-Neunziger Doom/Death-ANATHEMA-Anfängen. Dafür allerdings ist das Gebotene ein etwas unspektakulärer Ambient/Spoken Word-Beitrag, aber nicht ohne Atmosphäre. Es folgen
TRAUM'ER LEBEN mit dem Gassenhauer "Lilli Marleen" in einer nicht unoriginellen, leicht elektronischen, unterkühlten Version. Allein die Sängerin klingt etwas knatschig, dafür, dass für mich TRAUM'ER LEBEN bisher die fleischgewordene, von mir außerordentlich gefürchtete
PUR-risierung ("wo sind all die Indianer hin?") des deutschsprachigen Neofolks symbolisierten, eigentlich ganz in Ordnung.
Die Veteranen
LONSAI MAIKOV bieten ein Kampflied der Resistance, sehr schön im typisch faden Stil des Projekts, ich habe die eigentümlich kühle, spröde Distanz des Projekts, die von anderen oft als leidenschaftslos, gar als langweilig, empfunden wird, eh immer verehrt.
Der danach folgende russische Goth-Neofolk von MOON FAR AWAY geht ebenfalls in Ordnung.
Es folgt
VON THRONSTAHL mit "Victoria II" (Ich darf mal ganz keck behaupten, dass es bestimmt ähnlich klingt wie "Victoria" auf "Sturmzeit", EP, 1998.), immerhin damals noch eine Bombastkomposition zusammen mit dem Menschen von THE DAYS OF THE TRUMPET CALL. Die wunderbaren
CHANGES bieten im Gegenzug eine ebenfalls etwas veränderte Version ihres "Anthems To Freedom"-Stücks (bekannt durch die
Split-CD mit ANDREW KING, 2005), leider in jeglicher Hinsicht nicht gerade ihr bester Song. Richtig furchtbar wird’s dann aber mit
ROSE ROVINE E ARMANTI, Italo-Folk-Gejaule schlechtester Art, außerdem dünn produziert. Es sei aber erwähnt, dass RREA das besser können und vieles von ihnen, allen Unkenrufen zum Trotz, durchaus hörenswert ist. TITAO aus Russland waren mir nun völlig unbekannt, schöner, russischsprachiger Neofolk, nicht weit weg von NEUTRAL und
SUNSET WINGS. GOTHICA (Japan) liefern dann leider den Tiefpunkt des Samplers ab, schlimmste Gothic-Dancefloor-Scheiße, kein weiteres Wort zu diesem Dreck. Direkt danach als Schlusspunkt jedoch der Höhepunkt: Die LONSAI MAIKOV-Bruderband
DISSONANT ELEPHANT aus Frankreich, auch musikalisch immer nicht weit von LONSAI MAIKOV entfernt, aber mit deutlichem KING CRIMSON- und DAVID SYLVAIN-Einfluss. Das Projekt wird zu wenig beachtet und ich sehe auch keine Chance das zu ändern. Neofolkern dürften sie zu lahm sein.
Fazit: Muss man nicht haben, aber durch LONSAI MAIKOV, TITAO und DISSONANT
ELEPHANT doch lohnenswert. Außerdem ist von CHANGES und VON THRONSTAHL mal abgesehen, alles exklusiv. Schlimm zum Abgewöhnen sind eigentlich nur jene GOTHICA und der RREA-Beitrag.