Michael We.
RASSEMENSCHEN HELFEN ARMEN MENSCHEN (EP)"Ein guter Schlachtruf für die neue Zeit"
Genre: New Wave
Verlag: Kunstflacksc... Vertrieb: ANNA LOGUE... Erscheinungsdatum: Oktober 2007 Medium: Vinyl 7'' Preis: ~11,00 € Kaufen bei: ANNA LOGUE... Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich diesem Artikel und der Band mit dem ulkigen Namen, deren Musik er sich widmet, zu nähern. 1) Wer zuerst hören will, worum es eigentlich geht, kann auf einen der Links am Ende dieser Seite klicken und ein paar Songs und Ausschnitte antesten. 2) Wer wissen möchte, wie es vor 26 Jahren zu dem Bandnamen kam und was Mitbegründer GOTTFRIED DISTL heute so treibt, kann zunächst das Interview lesen, das NONPOP mit ihm geführt hat. 3) Um sich vorab in die passende deutsch-österreichische New Wave-Stimmung zu versetzen, ist der - deutliche Worte findende - Artikel von XAÕ SEFFCHEQUE Pflicht, der im November 1982 im Musikmagazin "Sounds" erschien und den uns der Autor netterweise zur Verfügung gestellt hat. Darin werden haufenweise liebenswerte, meist österreichische NDW-Bands erwähnt, von denen einige sogar gut wegkommen. Auch ANDREA DEE und GOTTFRIED DISTL (alias RASSEMENSCHEN...) werden angesprochen. 4) Und wer zuallererst einmal die Review lesen möchte, welche die gerade erschienene 7"-EP mit allen RASSEMENSCHEN-Songs bespricht, liest einfach weiter. So, so, so oder so - viel Spaß. Eine unumstößliche Weisheit, die in jeder Betrachtung eines 'Neue Deutsche Welle'-Produktes zum guten Ton gehört, ist folgende: Damals gab es mehr Müll als Glanz, mehr Plattes als Tiefgründiges. Was 'Gut' und was 'Schlecht' war, darüber haben sich viele schon zur Genüge ausgelassen und Abhandlungen, sogar ganze Bücher geschrieben. Aber selbst von den Platten mit dem Prädikat 'besonders wertvoll' lassen sich heute nicht mehr alle mit derselben Begeisterung und Hingabe wie damals, Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre hören. Wenige Stücke haben ihren Charme, ihre Unverschämtheit und ihre punkige Energie über die immer mehr im Ohrsessel der Bequemlichkeit versinkenden Jahre retten können. Manches von DER PLAN, FEHLFARBEN oder DEUTSCH-AMERIKANISCHE FREUNDSCHAFT gehört dazu, um ein paar prominente Klassiker zu nennen. Auch die Songs von RASSEMENSCHEN HELFEN ARMEN MENSCHEN, wenngleich weniger bekannt als die eben genannten, versprühen heute noch eine unbändige Vitalität und Aufbruchstimmung, so dass man beim Hören gleich eine Protestkundgebung organisieren, selbst einen piepsigen Vierspur-Track aufnehmen oder laut aus dem Fenster rufen möchte, dass einen die ganze Welt mal kreuzweise kann.
Die beiden Österreicher ANDREA DEE und GOTTFRIED DISTL gründeten 1980 die "Krisenproduktion", ein Multimedia-Studio und Label für ihre Projekte. Dazu gehörten Aktionen in der Öffentlichkeit wie "Autofahrer sind Mörder", ein motorölbesudeltes Happening in österreichischen Fußgängerzonen, oder DISTLs Auftritt auf dem Roten Platz in Moskau, wo er ein selbstgestaltetes 'Pickerl' (eine Vignette) an Russen verteilte (mit der Aufschrift "I love 1984"). An Literatur und Super 8-Film produzierten sie üppigen Independent-Trash, bei einem internationalen Festival für Experimentalradio vertraten sie Österreich mit einer Hörcollage. Der musikalische Output variierte zwischen eher poppiger NDW-Spaßigkeit und avantgardistischem Experiment. Für den Pop war die 'New Wave-Swingband' STERNENSTAUB verantwortlich, mit professionellem Sound, swingenden Rhythmen und manierlichen Texten ("Heute ist Silvester, es schneit immer fester..."). Für frappante Experimente waren RASSEMENSCHEN zuständig. Unter diesem Namen veröffentlichten DEE und DISTL zwei Singles, 1981 "Ich kann es nicht erklären / Alles ist mir recht" und 1982 "Die Ballade von der Peripherie / Ist es nicht ein Wunder". Diese Songs sind nun zusammen mit einem fünften, unveröffentlichten, auf einer EP versammelt worden, für die eigens das Label KUNSTFLACKSCHALLPLATTE ins Leben gerufen wurde. RASSEMENSCHEN klingen wie ein live aufgenommenes, improvisiertes Kunst-Experiment, ein Avantgarde-Theater rund um die Rezitation von ANDREA DEE. Ihre Stimme, die puppenhaft, verletzlich und immer leicht beleidigt wirkt, wird mit monotonem Soundgefrickel zusammengebracht; die lyrischen Texte schwanken zwischen Dadaismus und Philosophie ("Jeder ist so klug wie ein Telefon" oder "Raumloser, zeitloser, grundloser Untergrund. Der Druck ist da, aber Schleusen fehlen..."). Alles ist schnell und auf den Punkt, bevor sich Eintönigkeit und Wiederholung einschleichen können. So dauert "Ich Kann Es Nicht Erklären" mit seinem absichtlich künstlich vorgetragenen Text ("ohohohooo") und der eintönigen Drummachine im Hintergrund kaum länger als eine Minute. Auch "Alles Ist Mir Recht" ist auf der Überholspur, mit stampfendem Rhythmus und schnellen, ängstlichen Vocals ("Ich hoff ich komme durch..."), darüber ein Rock'n'Roll-"babababuab", zack, weg. "Grundloser Untergrund", der unveröffentlichte Track, ist dagegen fast eine ausufernde Ballade (länger als 2 Minuten), die mit Stakkatotext, verzerrten Geigen und Tamburin im Chaos endet. Die B-Seite beginnt mit "Die Ballade Von Der Peripherie", einer Art 'Polit-Song' ("das nächste Mal fassen sie uns nicht"), mit Trillerpfeife und den drei immerselben Synthesizer-Tönen wie von mahnwachenden und beduselten 70er-Jahre-Gewerkschaftsmitgliedern spontan eingesungen. Und "Ist Es Nicht Ein Wunder" mit Mundharmonika, Bongotrommel und Morsezeichen könnte eine Moritat aus einem Stück von BRECHT und WEILL sein, mit alltäglichen Beobachtungen von DEE, zu denen DISTL Halbsätze wiederholt. Diese fünf Stücke sind auch heute noch so absurd, herzerfrischend dilettantisch und seltsam poetisch, dass es eine Freude ist. Vielleicht war damals auch eine Spur Ironie dabei mit der Absicht, sich über den ganzen bräsigen Kulturbetrieb im deutschsprachigen Raum lustig zu machen. Der schon angesprochene Charme entfaltet sich jedenfalls großflächig. Man möchte sich dieses Scheibchen Vinyl neben das Bett stellen mit dem Vorsatz, es noch oft zu hören, um sich an eine Zeit zu erinnern, in der fast alles erlaubt war und das Einfachste oft das Beste. Wie visionär die Arbeit von DISTL und DEE vor fast 30 Jahren war, zeigt sich heute: 'Medienkunst' ist zum Studienfach geworden, 'Happenings' und 'multimediale Installationen' belegen ganze Museen und Hallen. Damit ist die Frage nach 'Kunst oder Kitsch' dann doch wenigstens für diese Veröffentlichung beantwortet. Da die EP auf 150 Stück limitiert ist und damit bald ebenso schwer zu bekommen sein dürfte wie die beiden alten Singles, sollte man sich entweder beeilen oder die im Interview von GOTTFRIED DISTL erwähnten Download-Möglichkeiten nutzen. Zum Interview Zum Österreich-NDW-Artikel von 1982
Michael We. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » Kunstflackschallplatte @ myspace » DISTL / DEE @ myspace » Abhandlung über die Texte der NDW » NDW-Seite mit Bands und aktuellen CD-Empfehlungen » viele NDW-Lyrics » deutschsprachige Punk- und Wave-Diskographie » CHUZPE @ myspace » M magazin @ myspace
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Zusammenfassung
Ein schönes Beispiel, warum die NDW-Zeit doch viel Gutes hatte: Weil abseits der so genannten Stars jede Menge passiert ist, das sich wiederzuentdecken lohnt. Diese fünf Songs aus Österreich zum Beispiel sind heute noch so charmant, avantgardistisch und wunderlich wie damals.
Inhalt
Limitiert auf 150 Stück, incl. Kopie eines Zeitungsartikels von 1985 mit zahlreichen Infos zu DEE und DISTL.
A1 Ich Kann Es Nicht Erklären A2 Alles Ist Mir Recht A3 Grundloser Untergrund B1 Die Ballade Von Der Peripherie B2 Ist Es Nicht Ein Wunder |