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Markus B.
MUTE RECORDS: Audio Documents (1979-'84)
Gute Musik ist besser! (Mute Werbeslogan)
Genre: Post-Punk/ Cold-Wave
Verlag: Mute
Medium: Box
Preis: ~55,00 €
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Kategorie: Rezension
Erstellt: 20.06.2007
Wörter: 1434
Artikelbewertung:
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„It was a mad time. Within less than a year of releasing our first album, we had two multi-platinum artists on Mute: Yazoo and Depeche Mode, how do you deal with that? … To me, a lot of those early days were about being in the studio and figuring out how to get enough records pressed.” (Daniel Miller, 2007)
Eine Retrospektive über die frühen Jahre eines der wichtigsten Labels aus dem allseits geschätzten Independent-Bereich war längst überfällig. Nun liegt sie vor, die erste umfassende Werkschau von MUTE RECORDS aus London, welche alle 7-Zoll-Single-Veröffentlichungen der Plattenfirma von 1978 bis 1984 enthält. Einige der Aufnahmen sind bis dato nicht in digitalisierter Form erhältlich, beziehungsweise in vielen Fällen schon seit Jahren out of print. MUTE RECORDS haben inzwischen längst einen Teil ihrer Unabhängigkeit an den Riesen EMI abgetreten, an den DANIEL MILLER, der Firmengründer und Labelchef von MUTE, vor gut fünf Jahren verkaufte, um das Überleben "seines Babys" langfristig zu sichern. Trotz der guten Umsätze die konstant von DEPECHE MODE, NICK CAVE & THE BAD SEEDS, MOBY und vielen anderen erzielt wurden, schrieb das Unternehmen Ende der 90er rote Zahlen, was zu erheblichen Liquiditätsproblemen führte. Diese scheinen nun überstanden zu sein, die Heimat in der Harrow Road – seit Mitte der 80er der Firmenstandort – wurde gegen Büroräume innerhalb des riesigen Firmenkomplexes von EMI eingetauscht. Man kann davon halten, was man will, ein Ausverkauf ist dieser Akt jedoch sicherlich nicht, denn DANIEL MILLER besitzt weiterhin globale Mitbestimmungsrechte. Und diese garantieren, dass auch seine alten Schäfchen wie BOYD RICE und DIAMANDA GÁLAS – an denen im Allgemeinen eher der Connoisseur Gefallen findet – weiterhin in Lohn und Brot stehen. Denn gerade diese offensichtlichen musikalischen Gegensätze zeichnen MUTE seit dem Beginn im Jahre 1978 aus. Bands wie LAIBACH und ERASURE können kaum gegensätzlicher sein, veröffentlichen jedoch beide seit Mitte der 80er über MUTE, wobei mit ERASURE neben NICK CAVE bis zum heutigen Tag keine schriftlich festgehaltenen Vertragsvereinbarungen getroffen wurden. DANIEL MILLER ist halt ein bescheidener Mensch. Er lebt für die Musik, ist für seine Künstler neben der Produzententätigkeit der väterliche Freund. Seit mehr als 20 Jahren lebt er in seiner kleinen Wohnung in London, gönnt sich keinen übertriebenen Luxus, welchen er sich sicherlich nach dem Siegeszug seiner Schützlinge DEPECHE MODE hätte leisten können. Dank der finanziellen Erfolge von DEPECHE MODE konnte MILLER sein kleines Unternehmen stetig ausbauen und in neue und unbekannte Bands investieren, die für ihn und seine Firma eine musikalische Bereicherung darstellen. Stets nach dem Grundsatz: was gefällt, wird veröffentlicht. Nach dieser Devise hat DANIEL MILLER schon immer gearbeitet, was ihn sicherlich vom 08/15-Plattenboss unterscheidet, der zunächst einen Marketingplan für viel versprechende neue Künstler erstellt, bevor Bands massenkompatibel und austauschbar für höchstmöglichen Gewinn zurechtgebogen werden.
Eine Plattenfirma zu gründen kam ihm jedoch nicht vor 1979 in den Sinn. Er wollte zunächst nur seine eigene Platte unter die Leute bringen. Die 2000 Pressungen der Single „Warm Leatherette/ TVOD“ (zunächst waren davon nur 500 Pressungen geplant) gingen weg wie warme Semmeln. Nachdem THE NORMAL praktisch ein Selbstläufer war, kam eins zum anderen. Demo-Tapes ambitionierter Musiker flatterten in Muttis Briefkasten. (Bis 1983 fungierte die Adresse seiner Eltern als offizielle Postanschrift des Labels.) Im ROUGH TRADE-Store traf er Gleichgesinnte, deren Werken er eine Plattform bieten wollte: FRANK TOVEY aka FAD GADGET, BOYD RICE aka NON und die DEUTSCH-AMERIKANISCHE-FREUNDSCHAFT. Freundschaften wurden geschlossen, die D.A.F.-Jungs wohnten während der Plattenaufnahmen mit Daniel sogar bei Mutter Miller im Haus. Bevor D.A.F. den Entschluss fassten, mit ihrer Musik „richtig viel Kohle einzufahren“ und zu VIRGIN RECORDS wechselten, veröffentlichte MILLER das Album „Die Kleinen und die Bösen“ als Katalognummer STUMM 1, sowie die Singles „Kebab Träume/ Gewalt“ und „Tanz mit mir/ Der Räuber und der Prinz“. („Tanz mit mir“ wurde übrigens in einer späteren Aufnahme mit CONNY PLANK zur Hymne „Verschwende deine Jugend“.)
Die erste Doppel-CD deckt die frühen Jahre von 1978 bis 1981 ab. Zu hören sind neben D.A.F. und THE NORMAL auch die SILICON TEENS, eine elektronische Boy-Girlband, hinter der auch wieder DANIEL MILLER steckte. JOHN PEEL war euphorischer Fan der elektronischen Umsetzung alter Schlager aus den 60ern, denen MILLER ein synthpoppiges Gewand verpasste: „Memphis Tennessee“, „Judy in Disguise“, „Just like Eddie“ und „Chip'n Roll“ sind einige der Nummern, die hier zu hören sind. Neben FAD GADGET finden sich auf Volume 1 auch frühe Aufnahmen von BOYD RICE und SMEGMA, einer amerikanischen Experimental-Noise-Band, welche mit NURSE WITH WOUND vergleichbar ist. Die Split 7-Zoll-Single von 1980 enthielt einige der bekannten RICEschen Endlos-Loop-Rillen, welche für diese CD logischerweise nur zum Reinschnuppern 1:30 Minuten lang eingespielt wurden. Mithilfe der A-B-Repeat-Taste des CD-Players lässt sich vielleicht noch ein annähernd ähnlicher Effekt simulieren, doch stößt der kleine Silberling hier im Vergleich zum guten Vinyl an seine Grenzen. Freunde von BOYD RICE und NON kommen dennoch mit der üppigen 10-CD-Box auf ihre Kosten. Mit „Mode of Infection“, „Knife Ladder“ und „Romance fatal dentro de un auto“ sind allein drei Raritäten aus den MUTE-Archiven der frühen NON vertreten. Vom „Black Album“ gibt es zwei Hörproben, die zum Vergleich nacheinander einmal mit 33- und 45 rpm zu genießen sind. In vergleichbar lärmige Gefilde drängt die Liveaufnahme von THE NORMAL in Zusammenarbeit mit ROBERT RENTAL vor, entstanden am 6. März 1979 auf dem West Runton Pavilion, dokumentiert auf einer limitierten Pressung von ROUGH TRADE im Jahre 1980. ROBERT RENTAL dürfte im Zusammenhang mit THOMAS LEER und INDUSTRIAL RECORDS ein Begriff sein, die beiden haben 1979 im Studio von THROBBING GRISTLE das Album „The Bridge“ eingespielt. Die 25-minütige Aufnahme gibt dem Hörer ein Gefühl, was DANIEL MILLER im Bezug auf THE NORMAL noch alles in petto hatte, leider (oder zum Glück) kamen ihm ein Jahr später DEPECHE MODE dazwischen. Über die Band schweige ich mich an dieser Stelle aus, die meisten Veröffentlichungen haben wir alle ohnehin schon im Schrank stehen. Gleiches gilt für YAZOO, die u.a. mit ihren frühen Hits „Don’t go“, „Only you“, „Situation“ und Liveaufnahmen von 1982 vertreten sind, in der die gewaltige Stimmkraft der ALISON MOYET bewundert werden kann. DANIEL MILLER hatte schon immer ein Faible für deutsche Künstler wie CAN oder KLAUS SCHULZE, so ist es nicht weiter verwunderlich, dass er 1982 auch den internationalen Vertrieb für ANDREAS DORAU und dessen „Fred vom Jupiter“ übernahm. Dieser Song war bereits in hiesigen Landen ein Ohrwurm der Neuen Deutschen Welle, die dann auch über andere Länder schwappte. Der DAF-Trommler ROBERT GÖRL schwimmt mit „Berührt verführt“ und „Mit dir“ durch ähnliche Gewässer, überzeugt jedoch im Duett mit Annie Lennox von den EURYTHMICS auf „Darling don’t leave me“ am ehesten. LIAISONS DANGEREUSES um BEATE BARTEL und CHRISLO HAAS (R.I.P.) steuern ihren kleinen Clubhit „Los ninos del parque“ und die noch bessere B-Seite „Mystère dans le brouillard“ bei. Auch die NEUBAUTEN stürzen hier wieder ein, in der Frühphase ihres Schaffens passt der Bandname jedenfalls noch zu deren Strategien gegen Architektur.
Poppiger Synthsound paart sich mit elektronischer Kleinkunst, wie beispielsweise die Solo-Ausflüge der Mitglieder von WIRE: BRUCE GILBERT serviert minimalen Electro-Noise, mit GRAHAM LEWIS und erneut DANIEL MILLER bildete er 1983 DUET EMMO. Ein Anagramm aus DOME (GILBERT und LEWIS) und MUTE (MILLER). „Or so it seems“ ist eine düsterere, elektronische Ballade, eine Cuvée aus all den Dingen, für die MUTE RECORDS seit Jahrzehnten steht: Qualitative und äußerst vielseitige Veröffentlichungspolitik. NICK CAVE feiert seine BIRTHDAY PARTY, hier mit Songs der „Mutiny EP“ und von FAD GADGET hören wir u.a. einige Songs des legendären Hacienda-Konzerts in Manchester (vgl. FAD GADGET By FRANK TOVEY Retrospektive).
Zum Abschluss ein paar Worte zum Beiheft. Es dokumentiert auf 76 Seiten noch einmal alle wichtigen Eckdaten zu den einzelnen Veröffentlichungen (beteiligte Musiker, Cover der Vorder- und Rückseite etc.) und gibt einen Einblick über die einzelnen Jahre von 1978 bis 1984, denen jeweils eine Doppel-CD gewidmet ist. Der Labelchef berichtet umfassend aus seinem Leben, CHRIS BOHN (Editor vom THE WIRE-Magazin) kommt neben vielen anderen zu Wort. Promotionfotos, Konzertbilder, Berichte aus Zeitschriften, das Bewerbungsschreiben von ANDREAS DORAU und vieles mehr ist darin ebenso zu finden. Anzumerken bleibt, dass die Doppel-CDs dieser Box demnächst auch einzeln erhältlich sein werden, dann allerdings ohne den Bonus-Raritäten-Silberling, der u.a. bereits angesprochene Liveaufnahmen und Ausschnitte aus dem „Black Album“ von BOYD RICE enthält. Die Reihe selbst wird fortgesetzt, denn die Geschichte eines der erfolgreichsten Indie-Labels schließt nicht mit dem Jahr 1984. Erst in den folgenden Jahren sollte MUTE nämlich Acts wie LAIBACH, DIAMANDA GÀLAS, CRIME & THE CITY SOLUTION, MARK STEWART & THE MAFFIA, MIRANDA SEX GARDEN, JON SPENCER BLUES EXPLOSION an Land ziehen, welche es natürlich auch entsprechend zu würdigen gilt.
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Verweise zum Artikel:
» Komplette Tracklist
» Offizielle Webseite
» Mute@myspace
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Zusammenfassung
Eine Retrospektive über die ersten sieben Jahre von Mute Records aus London. Enthält sämtliche A- und B-Seiten der 7-Zoll-Singles aller Künstler dieses Zeitraums, sowie ausgewählte Songs aus Alben, von denen es keine Single-Auskopplungen gab.
Inhalt
CD 1+2: Volume 1 (1978 – 1981)
The Normal, Fad Gadget, Silicon Teens, D.A.F., Non, Robert Rental, Depeche Mode, Boyd Rice und Smegma.
CD 3+4: Volume 2 (1982)
Non, Depeche Mode, Fad Gadget, Die Doraus Und Die Marinas, Yazoo und Liaisons Dangereuses.
CD 5+6: Volume 3 (1983)
Depeche Mode, Duet Emmo, Robert Görl, Yazoo, Fad Gadget, The Assembly und The Birthday Party.
CD 7+8: Volume 4 (1984)
Einstürzende Neubauten, Fad Gadget, Robert Görl, Depeche Mode, Nick Cave & The Bad Seeds, I Start Counting, Bruce Gilbert, Boyd Rice und Frank Tovey.
CD 9+10: Raritäten CD (nur erhältlich in dieser Box)
The Normal und Robert Rental, Boyd Rice, Fad Gadget, Depeche Mode, Yazoo, Nick Cave & The Bad Seeds
128 Songs auf 10 CDs + 76- seitiges Booklet mit Infos zum Label und den Künstlern, Promo-Poster zur ersten Single von The Normal.
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Na, endlich mal eine längst überfällige Retrospektive.
Ich denke die Auswahl ist äußerst gelungen und stellt einen guten Querschnitt dieses "Ausnahmelabels" dar!