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Dominik T.

KAGEL: Rrr 8 Orgel-Stücke 10 Märsche

Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen


KAGEL: Rrr 8 Orgel-Stücke 10 Märsche
Genre: Avantgarde
Verlag: Aulos Musikado
Medium: CD
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Die hier besprochene Musik hat mit Neofolk gar nichts zu tun und ist ausserdem schon über 25 Jahre alt (1979), es gibt dennoch Gründe einmal auf dieses Werk in unseren Kreisen hinzuweisen, speziell die Fans des "Military Pop" sollten weiterlesen. Der Reihe nach, der Deutsch(jüdische)-Argentinier MAURICIO KAGEL, geboren 1931, ist einer der bedeutendsten noch lebenden klassischen Komponisten, der seit 1974 eine Professur an der Kölner Musikhochschule innehat. In die Annalen der Musik geht er vor allem aufgrund seiner Musiktheater ein, dessen künstlerische Weiterentwicklung im 20. Jahrhundert maßgeblich von ihm geprägt wurde. So ist das sogenannte "Instrumentale Theater", eine Theater bzw. Musikform, bei der theatralische Momente eine besonders gewichtige Rolle spielen,  vor allem eine Kagel Erfindung.  Bekannt ist z.B. seine Anti- Oper "Staatstheater", bei der sich die Darsteller frei nach dem Motto "Der Musikbetrieb ist unfreiwillig komisch" versuchen auf so "Instrumenten" wie Reißverschluß, Ventilpumpe, Flaschen, Tellern, Wecker usw. gegenseitig zu übertrumpfen. Es ist ziemlich sinnlos das Kagelsche Musikschaffen in ein paar Zeilen einer Rezension zu pressen, aber sein Werk liesse sich vielleicht dahingehend zusammenfassen, daß er immer wieder auf verschiedenen Wegen versucht(e) die Trennung zwischen der Rolle des Komponisten und der des Regisseurs aufzulösen. Dabei verursachte er so manchen Skandal, speziell einige "Rechte" versuchten desöfteren seine Auftritte zu verhindern (kommt mir irgendwie bekannt vor).  Selbstverständlich ist das aber nicht alles, u.a. machte sich KAGEL noch als Dirigent (u.a. auf FLUXUS Events, bei denen auch GENESIS P´ORRIDGE zugegen war), als philosophierender Musiktheoretiker, als Filmemacher und Instrumentenerfinder einen Namen. Für uns ist vor allem noch der Umstand interessant, daß niemand geringeres als RALF HÜTTER und FLORIAN SCHNEIDER (KRAFTWERK) einst KAGEL- Schüler (und STOCKHAUSEN- Anhänger) waren, das las ich zumindest so, beim Schreiben kommen mir allerdings leichte Zweifel, war das nicht vielleicht doch eher JOSEPH BEUYS? Düsseldorf statt Köln? KAGEL wiederum war zumindest als junger Komponist und Regisseur stark von JORGE LUIS BORGES beeindruckt und beeinflußt. Ihm, der auch durchaus sehr "Neofolk- kompatibel" ist, und wenn ich mich recht erinnere auch schon irgendwo von ALLERSEELEN vertont wurde, widmete KAGEL 1952 seinen ersten Filmversuch. Soviel zur Einleitung, nun aber konkret: Vorliegende CD fasst zwei unterschiedliche Werke KAGELS zusammen: 1. 8 Orgel Stücke und 2. 10 Märsche. Uns (?) oder mich interessieren hier aber vor allem die 10 Märsche. Was für eine Idee hinter den 8 Orgelstücken steht, sei aber auch kurz erwähnt. Die 8 Orgel Stücke sind in ihrer Gesamtheit im Titel "Rrrr" zusammengefasst, das deshalb. weil sie insgesamt aus 41 selbständig aufzuführenden Musikstücken bestehen, die alle mit den Buchstaben "R" beginnen. Musikalisch sind es, wie es bereits der Titel deutlich macht, Orgelkomposition. Natürlich nicht so, wie man das aus der Kirche kennt, sondern erweitert durch ein Thema, das der jeweilige Titelname vorgibt. Die 41 kurzen Musikstücke fangen nämlich nicht nur alle mit "R" an, sondern bezeichnen auch immer jeweils ein Begriff aus der Welt der Musik, z.B. "Rauschpfeife" (laut Erklärung im Booklet ein "Doppelrohrblasinstrument", welches im 16./17. Jahrhundert oft eingesetzt wurde). Dementsprechend hört man in diesem Stück neben der Orgel vor allem Rauschpfeifen. Andere Titel heißen z.B. "Raga" oder  "Ragtime" , Prinzip  verstanden? Insgesamt eine interessante, meist meditative Hörerfahrung, wer moderne Orgelkompositionen kennt, kann es sich vielleicht vorstellen.
Nun aber zu den "10 Märschen". Im Booklet wird erklärt, daß diese als Kontrapunkt zum Text des KAGEL Hörspiels "Der Tribun" (1979) gedacht sind. Bei diesem Hörspiel geht es um einen fiktiven Politiker, der, wie das in diesen Kreisen wohl üblich ist, lebt um gewählt zu werden, sich prostitutiert. So einer muss natürlich seine Auftritte als Redner vorher proben, dies tut er, in dem er sich die Zustimmung der Leute durch lauten Applaus vom Tonband einspielen lässt, während er z.B. vor dem Spiegel seine Mimik und Gestik einübt.  Unser Führer hat das bekanntlich auch so gemacht. Der Politiker lässt sich aber nicht nur den Applaus einspielen, Nein, um richtig in Fahrt zu kommen, benötigt er auch noch etwas Marschmusik und genau diese ist unter der Leitung von MAURICIO KAGEL hier zu hören. Der Clou und das Irre an dieser Marschmusik ist nun, daß sie zwar, wenn man nicht genau hinhört oder sich bereits die Gehörgänge durch so ARDITI- Quatsch ruiniert hat, klingt wie Marschmusik der zünftigsten Art, aber man unter gar keinen Umständen zu ihr marschieren könnte. Wollte man es versuchen, würde die gesamte Kompanie außer Tritt geraten und wie im Dick und Doof Film übereinanderpurzeln. Eine wahrlich lustige Vorstellung.  Musikwissenschaftler können sicher erklären, warum diese ulkigen Märsche diesen Effekt haben. Ich kann es nicht, sondern weiß nur, daß es eine interessante und überaus unterhaltsame Hörerfahrung ist, die ich jedem Fan einschlägiger "Military Pop" Projekte ans Herz legen möchte. KAGEL selbst schreibt zu seinen Märschen, denn er den Untertitel "Zehn Märsche um den Sieg zu verfehlen" gab:  "Seit  der Genfer Konvention  ist es Musikern und Krankenhelfern in Uniform nicht gestattet Waffen zu tragen. Dass die akustischen Werkzeuge unserer Zunft hier waffenähnliche Aufputschmittel sind, wird hier geflissentlich, weil die Wirkung ungefährlich erscheint, verschwiegen. Das Gegenteil ist der Fall: Musik kann sich in den Köpfen jener wirkungsvoll einnisten, die Sprengköpfe zu verwalten haben. Der Ausgang ist jedenfalls allseits bekannt."  Sicher geht hier KAGEL ausgesprochen simpel von einem zu einfachen Ursache Wirkung Prinzip aus, von der warnenden Zeigefinger Attitüde mal ganz abgesehen (wobei KAGEL natürlich bei seiner Kritik nicht irgendwelche subkulturellen Phänomene, sondern traditionelle Marschmusik im Sinn hatte), aber interessant wäre es dennoch zu erfahren, was jemand wie er wohl von unserer kleinen Welt halten würde. 
KAGELS Märsche bzw. das dazugehörende Hörspiel scheinen in der pazifistischen Grundintension fast etwas "antiquiert", gleichzeitig weckt jedoch seine mitimplizierte Kritik an den demagogischen Auswüchsen der Politik Erinnerungen an eher konservativ- elitäre Autoren, die bereits Jahrzehnte vor dem 3. Reich über Demagogie und "Masse" nachdachten, allen voran GUSTAVE LE BON, ELIAS CANETTI, ORTEGA Y GASSET oder der, einigen vielleicht von einem großartigen CLUB MORAL "Lied" bekannte belgische Sozialist und spätere Kollaborateur HENDRIK DE MAN, dessen Spätwerk "Vermassung und Kulturverfall" (1952) köstlich zu lesen (für manche ernsthaft für andere im Spaß) ist.
Wie auch immer, die "Zehn Märsche um den Sieg zu verfehlen" stählern auf eine ganz eigene Art, nach dem Genuss ist man doppelt bereit sich in den "Total War against Ignorance", gegen "People", " who don't know anything about anything, but seem to have a opinion about anything" zu stürzen....Aber, vielleicht "lassen die Siege auf sich warten". So oder so KAGELS Märsche sind dazu ein guter Soundtrack!
 

 
Dominik T. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» AULOS (das KAGEL Label)

Themenbezogene Artikel:
» MAURICIO KAGEL: Mimetics


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Zusammenfassung
Klassik- Avantgarde von 1979, Pseudo-Marschmusik im besten Sinne, 18 Stücke, dennoch nur knapp über eine halbe Stunde Spielzeit.

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