Herrscht zurzeit in Bezug auf Konzerte im Neofolk-Bereich Sommerpause, so hat man ausreichend Zeit und Muße, sich auch mal wieder verstärkt anderen Veranstaltungen zu widmen und diese dem geneigten Lichttaufe-Leser unter dem Aspekt des Angebots der Erweiterung des musikalischen Horizonts nahezubringen.
So machte ich mich am Samstag, den 29.07., also zum 3. Neon-Welt-Festival ins Bochumer ZWISCHENFALL auf. Die Neonwelt-Festival-Reihe (wie auch die gleichnamige Party) widmet sich den elektronischen Klängen minimaler und obskurer Natur und ist gerade deshalb so interessant, weil hier und da auch alte Kult-Bands der 80er Jahre oft nach Jahren der Bühnenabstinenz aufspielen. Ein musikalisch derart gestreutes Feld wie bei dieser dritten Auflage gab es meiner Meinung nach bisher allerdings noch nicht. Der Abend wurde von den RADIERERN eröffnet, einer Band, die sich Anfang der 80er Jahre in der Post-Punk/Prä-NDW-Szene tummelte und mit "Angriff auf´s Schlaraffenland" sogar einen kleinen Hit für sich verbuchen konnte. Die musikalische Darbietung von alten und neuen Liedern in der Besetzung Gesang, Gitarre, Schlagzeug und Keyboard fiel dann auch entprechend uneinheitlich aus. Von simplem Deutschrock über NDW bis hin zu ganz klar DAF-beeinflussten Stücken reichte hier die Bandbreite. Ich muss zugeben, dass mich DIE RADIERER noch nie wirklich mitgerissen haben, sicher keine wichtige Band waren und mein Urteil dahingehend etwas getrübt ist, aber während die alten Lieder eine gewisse Authenzität erkennen ließen, überraschte es mich bei den neuen Stücken schon, dass man im Jahre des Herrn 2006 immer noch solche Musik und viel schlimmer, immer noch solche Texte produziert. Insgesamt war dieser Einstieg allerdings recht unterhaltsam, wobei mich mein Begleiter allerdings öfter darauf hinwies, dass das ein oder andere Stück ohne Gitarre und mit anderem Sänger und Text ein netter DAF-Track der Ära 81/82 hätte sein können. Der eigentliche Grund meines Festivalbesuchs bestand allerdings ohne Frage in dem Auftritt von DAS INSTITUT/MATTHIAS SCHUSTER, der nun seltsamerweise nicht als Headliner folgte. MATTHIAS SCHUSTER müßte eigentlich jedem, der an der deutschen Punk/New Wave-Ära Interesse bekundet, ein Begriff sein. Er war in seiner Hochphase zwischen 1978 bis 1982 sowohl Mitstreiter bei der Combo GEISTERFAHRER, von denen das legendäre ZICK-ZACK-Label von Alfred Hilsberg ("Punk bis zum Untergang!") seine erste Single überhaupt veröffentlichte, und war darüber hinaus auch solo elektronisch, später mehr NDW-mäßig unterwegs bzw. arbeitete für etliche New Wave/NDW-Bands. Seit einigen Jahren engagiert er sich zusammen mit seiner Freundin Traude Capra in dem Projekt DAS INSTITUT. Der Auftritt wurde dann auch sauber in zwei Abschnitte getrennt. Es begann DAS INSTITUT mit Matthias Schuster an den Maschinen sowie stimmlich am Vocoder und mit Traude Capra an den Maschinen, am Theremin und am Mikrophon. Die Musik von DAS INSTITUT ist sehr von den 80ern und dem Minimal-Sound jener Zeit geprägt. Dennoch versteht man es, die Musik mit einigen frischeren Rhythmen zu versehen. Das Live-Erlebnis ist sehr stark ausgeprägt, da viele Klänge live an den Maschinen erzeugt werden (sogar sehr sichtbar im Fall des Theremins). Der Gesang ist ausdruckstark, wobei er mir hier und da etwas zu durchdringend, ja auch für diese Art der Musik manchmal zu chansonhaft vorkommt. Dennoch boten DAS INSTITUT insgesamt eine überzeugende Live-Darbietung. Im Folgenden werden die Plätze getauscht und der langersehnte Live-Auftritt von MATTHIAS SCHUSTER, der ganz im Zeichen der Vergangenheit stehen sollte, beginnt. Gleich zu Beginn nimmt MATTHIAS SCHUSTER ein Megaphon zur Hand und intoniert "Im Namen des Volkes", das Titelstück der 1979 erschienenen Single. Nicht zum letzten Mal an diesem Abend erinnert die Wahl des Werkzeugs an THE KLINIK. Es folgen weitere Hits wie "Raumkrank" oder das kultige "Ich war da, leergebrannt". Zum Ende hin gab es schließlich nur noch einen würdigen Abschluss, um das euphorische Publikum in absolute Zufriedenheit zu versetzen. MATTHIAS SCHUSTER nahm eine Art Fanfare zur Hand (abermaliger Verweis zu THE KLINIK), um das Intro zu "Ritual IV", teil seiner "Ritual"-Single von 1980 zu gestalten. Nach diesem umjubelten Auftritt, der jeden an klassischer Untergrund-Elektronik Interessierten, angesprochen haben muss, folgte eine Art kalte Dusche in Form der seit einigen Jahren existierenden Minimal-Band ALIEN SKULL PAINT. Dieses Solo-Projekt ist hervorragend zur Benennung der Gründe, warum ich der Retro-Minimal-Szene skeptisch gegenüber stehe, geeignet. Insgesamt werden nette, tanzbare, keimfreie Lieder produziert, die sicherlich eine gewisse Eingängigkeit besitzen, die aber frei von jeglicher Untergrund-Attitüde sowie Ecken und Kanten (textlich sowieso) sind. Man kann sich sehr lange darüber streiten, ob solche Bands nicht eigentlich das verraten, was sie darstellen wollen. Der extrem blasse Live(?)-Auftritt passte da nur zu gut ins Bild. Vielleicht war der Unterschied zu den Live-Darbietungen der Vorbands auch einfach zu groß, aber warum überhaupt ein Keyboard auf der Bühne stand, erschloss sich mir bis zuletzt nicht wirklich. Ich will natürlich nicht unterschlagen, dass das Publikum sichtbar seinen Spaß hatte, wenn auch der Grad der Euphorie nicht mehr an das Maß beim Auftritt von MATTHIAS SCHUSTER herankommen sollte. Insgesamt muss ich aber sagen, dass ich bei noch recht angenehmen Temperaturen einem sehr interessanten und vielseitigen Festival beiwohnen durfte, das den musikalischen Fokus mal wieder etwas geweitet hat. Die Besucherzahl hätte sicher etwas höher sein können; dafür waren aber sicher auch der Termin und das Wetter verantwortlich.
Tony F. für nonpop.de
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