Natürlich ist das Ergebnis eines solchen 'melting pots' bunter, lauter und rockiger als die meisten Produkte der eher zarten Folkverwandschaft. Die Bewohner des 'Imagined Village' lieben den klassisch britischen Folkrock, wie ihn STEELEYE SPAN geprägt haben, und mischen ihn unter der Anleitung von SIMON EMMERSON mit indischen und afrikanischen Klängen zu einem deftigen Folk-Fusion-Album. Dabei wird aber nie die Grenze zur Albernheit überschritten und der folkloristische Kern der Songs immer bewahrt. Wenn "John Barleycorn Reborn" der Blick zurück und ein Versuch ist, die Vergangenheit zum Leben zu erwecken, ist "The Imagined Village" sozusagen ein Gegenentwurf. Die CD präsentiert Vergangenes so, wie es in der Gegenwart stattfinden würde, also Folk auf den Straßen englischer Großstädte im Jahr 2007, eine Übersetzung in die Moderne.
Das Album beginnt mit den Worten von JOHN COOPER, einem der jüngeren Sprösslinge der COOPER FAMILY. Er erzählt von seinem Großvater, dessen Leben für die Folkmusik und seiner Bitte, die Nachfahren mögen die Familientradition am Leben halten. Diese Worte versprühen ein unbändiges Live-Flair, so als ob JOHN COOPER in meinem Wohnzimmer sitzt und mir die Geschichte persönlich erzählt. Dieser lebendige, 'echte' Eindruck hält sich das ganze Album durch. PAUL WELLER hat dann die Ehre, mit dem Klassiker zu eröffnen, er vertont "John Barleycorn" im Duett mit
ELIZA CARTHY. Abgesehen von den beiden Stimmen, der Gitarre und der Geige, die allesamt so überzeugend folkig klingen, als hätten sie nie etwas anderes musiziert, reiben sich Bass und E-Gitarre an Laute und Leier, so dass es mit ein wenig Konzentration sogar gelingt, dem Song entweder die klassische, alte Seite oder die neue, modernisierte abzuhören. Die heftigsten Kontroversen über dieses Projekt werden sich vermutlich an "Tam Lyn" entzünden, einer alten englischen Ballade, die schon im 15. Jahrhundert vorgetragen wurde. Sie erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens, das von einem Dämonen verführt wird. BENJAMIN ZEPHANIAH, der 'Dub-Poet', performt mit viel Hall in der Stimme zu einem Dub-Reggae den besessenen Liebhaber so eindringlich und mysteriös, dass er auch Folkpuristen zumindest ein anerkennendes Nicken abnötigt. Zwei Lieblinge der britischen Nu-Folk-Szene versöhnen die Grantler dann wieder:
TUNNG, die akustischen Folk mit zeitweiligen elektronischen Experimenten versehen, weben ohne Zweifel die schönste Version von "Death And The Maiden", die je gesungen wurde. Mehrere Stimmen und Gitarren, wie traumversunken am Lagerfeuer, schweben auf einem minimalistischen Elektronikbett ins Gehirn und verbreiten Magie. Und
CHRIS WOOD intoniert anschließend (zusammen mit ELIZA CARTHY) ein klassisches Folklied der 'working class', das von Erde, Heimkehr und Durch-die-Straßen-ziehen handelt. Die nächsten zwei Auftritte gehören der wunderbaren Stimme von
SHEILA CHANDRA, Engländerin mit indischer Abstammung, die Anfang der 1980er in Großbritannien schon mit einem leichten Popsong erfolgreich war. Ihre weiche Stimme mit Timbre ist für ruhigen Folk gemacht, sie singt zwei einfache, klare Lieder, begleitet von Harfe und Fiddle, die an die ersten zaghaften Gehversuche von CLANNAD in 'moderner' Folkmusik erinnern. Ein von EMMERSON selbst geschriebenes Folk-Ambient-Stück läutet den letzten Part der CD ein. Es gleicht einem romantischen Landschaftsgemälde zum Hören, mit weiten, grünen (Instrumental)Flächen und eingestreutem Silbengesang. Zum Abschluss der Vocal-Stücke darf BILLY BRAGG natürlich ein Lied mit politischer Aussage anstimmen, "Hard Times Of Old England", die Beobachtungen eines fliegenden Händlers über den Zustand seines Heimatlandes. BRAGG erledigt das zusammen mit der COPPER-Familie in bester POGUES-Schunkelmanier, und wie bei allen beschriebenen Songs wünscht man sich sofort zu einem Live-Auftritt dieser Fusion-Folk-Gruppe, denn Energie und Freude vibrieren aus den Lautsprechern und machen "The Imagined Village" auf der Bühne sicher erst recht zu einem Großereignis. Das gilt auch für die letzten beiden Stücke des Albums, zwei instrumentale Traditionals, etwas fiddle-lastig. Tatsächlich befindet sich die neue Folkkommune bald auf Konzertreise, natürlich ausschließlich durch England. Die Termine stehen am Ende des Artikels und immer aktuell auch auf der außergewöhnlichen Website des Projekts, mit vielen weiteren Infos über Künstler und Songs, etwa zu der EP, die schon vor diesem Album erschienen ist, als 'Testlauf'.
Wenn also der Barleycorn-Sampler, wie am Anfang erwähnt, eher dunklen und leisen Folk bietet, wie ein Gang durch die düsteren Wälder Britanniens, ist "The Imagined Village" ein Barfuß-Dauerlauf über eine saftige, grüne und selbstverständlich englische Landwiese, der einen atemlos und leicht berauscht zurücklässt.