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WHITETREE: Cloudland
Ludovico Einaudi und die Lippoks
Genre: Neue Musik
Verlag: Ponderosa...
Erscheinungsdatum:
15.5.2009
Medium: CD
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Kategorie: Rezension
Erstellt: 17.05.2009
Wörter: 797
Artikelbewertung:
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Es muss irgendwann ‘81 gewesen sein, als ich erstmals mit ERIC SATIE in Berührung kam. Zu diesem Zeitpunkt war das Klavier in der relevanten zeitgenössischen Musik verbrannt. In der Vergangenheit hatten die beiden Johns, Cale und Cage ihr bestes getan, um das Instrument für die kommende Avantgarde interessant zu machen. Drei Jahre später gelang es Cale, während eines legendären, vernichtenden Rockpalast-Auftritts, seinem E-Piano in einer gnadenlosen, tief zerrütteten Version von “Heartbreak Hotel” ganz neue Seiten “abzuringen” – ein Lehrstück in Sachen handgreiflicher Dekonstruktion. Doch 1981 sah das noch ganz anders aus, jegliches Tastengedaddel weckte bestenfalls den Ikonoklasten in einem. Das Epitom: Die “Köln Concerts” von Keith Jarrett, ein Doppelalbum, erschienen auf dem geschmäcklerischen ECM-Label, deren Slogan “The Next Best Sound to Silence” als bestformulierter Euphemismus für Langeweile, Beliebigkeit und Kitsch gefeiert werden darf, nein, muss! Das weiße Doppelalbum mit dem Wuschelkopf (nicht echt ohne den goldenen Aufkleber der “Deutschen Phono-Akademie”) erfreut sich inzwischen eines heftigen Revivals, wie alles, was schon in den Siebzigern geschmacklos, blutleer und aufgebläht oder wahlweise selbstgefällig, dekadent und verkokst war. Ein Platte, die einem das Grauen lehrt, die unbeabsichtigt eine bestimmte Art von Horror Vacui inszeniert, gegen den damals nur extrem überfüllter Free Jazz, räudiger Anarcho-Punk oder der bis dato unerreichte Noise-Klumpen in Form von Lou Reeds Doppelalbum “Metal Machine Music” helfen konnte.
Und dann, plötzlich Satie – der Urvater des Ambients. Auf der 1981 veröffentlichten Compilation “The Fruit of the Original Sin” des wesentlich geschmackssichereren, belgischen Labels LES DISQUES DU CRÉPUSCULE diente eine seiner sparsamen Piano-Mediatationen als Hintergrund für ein Interview mit Jeanne Moreau (auf der Re-Issue spielt übrigens dafür Cécile Bruynoghe “Gymnopedie no. 1”). Um das zu bemerken, war schon damals etwas detektivisches Geschick gefragt, der anschließende Gang zum Klassik-Höker blieb dennoch erfolglos. Über Jahrzehnte hinweg blieb der Mann vergessen, bis seine Musik, in der Werbung angekommen, als Soundtrack für betrügerische Kreditinstitute und dekorative Kosmetik Karriere machte. Seitdem kann man Satie an allen Ecken kaufen, ab 4.99 aufwärts, je nach Marktwert des Interpreten.
Der 1955 in Turin geborene Pianist und Komponist LUDOVICO EINAUDI gehört nun wiederum, auch ohne entsprechende Einspielungen, sicherlich zu den Profiteuren des Satie-Revivals. Der Italiener, Star eines jeden Klassik-Senders, macht viel Filmmusik und zeigt sich sehr umtriebig, neugierig, kurz, er ist immer offen für ein musikalisches Abenteuer. So weit, so gut. Aber wenn er nicht aufpasst, verzettelt er sich hoffnungslos und seine beschaulicheren Stückchen schlittern seifig-schmierig in den Kitsch. Trotz seines Willens zur Absonderlichkeit (präpariertes Klavier, Tonbandmanipulationen u.ä.), wirkt Einaudi in vielen Momenten seiner sechs mir bekannten Studioalben wie infiziert vom Schlapp-Virus, von der erschreckenden Willenlosigkeit eines Jarretts. Oft ist das auch nur eine Frage von ein paar Tönen zu viel. Nirgendwo rächt sich das mehr als in diesem musikalischen Rahmen, der Ambient, Minimales, behutsame (Neo)Klassik und etwas Kunst(gewerbe) begrenzt. Denn dieser Rahmen definiert sich u.a. durch Negative Space, durch das, was unsere asiatischen Freunde “Wu wei” (China) oder “Ma” (Japan) nennen. In beiden Kulturen steht der jeweilige Begriff sowohl für die Gestaltungs- als auch die Handlungsmaxime, nicht zu viel zu machen – für eine Kunst der Auslassung. Theoretisch müsste also ein Projekt von Einaudi mit zwei anderen Musikern die Sache nur noch etwas schwieriger machen. Aber von wegen.
Begleitet von den LIPPOK-Brüdern (ORNAMENT & VERBRECHEN, TO ROCOCO ROT) ist Einaudi mit "Cloudland" sein bisher bestes Album gelungen. Der Name ihres gemeinsamen Projekts entleiht sich einer Erzählung von AMOS TUTULA, der bereits 1981 mit seinem Buch “My Life In The Bush Of Ghosts” BRIAN ENO& DAVID BYRNE zu ihrem gleichnamigen Meisterwerk inspirierte. In seinem Roman “Der Palmweintrinker” bezeichnet er mit ‘Whitetree’ ein paradiesisches Refugium, und das passt gut zu dem Gefühl, das Einaudi bei den Aufnahmen im Berliner Traditionsstudio Planet Roc beschlich. Im holzgetäfelten, ehemaligen Hauptquartier des ostdeutschen Rundfunks fühlte er sich, als würde er “in abstrakten Gemälden nach Figuren und Formen suchen” oder “Gefühle aus Wolken herausziehen.” Das kommt zumindest meiner flüchtigen Vorstellung von einem Paradies schon recht nah und vermittelt vielleicht einen vagen Eindruck von der Leichtigkeit und zugleich Tiefe dieser Musik. Mit einer ungeahnten Zurückhaltung beschränken sich Roland und Robert Lippok auf das Äußerste; sie lassen sich eben nicht gehen und wollen uns eben nicht einlullen, sie plätschern eben nicht im Kielwasser umher, sondern schaffen mit wenig Mitteln wunderbare Räume, was schon immer eine ihrer Spezialitäten war. Große Räume für schönes Mobiliar. Für den Ambient, den Satie meinte.
P.S.: Das wäre ein schöner Schlusssatz aber “Cloudland” ist mehr als musikalisches Möbel, und sei es auch noch so schön. Denn neben vorsichtigen Störgeräuschen, verhaltenem Gezirpel und verhalltem Gemauschel zur einen Hälfte, liefern die beiden auch im selben Maß, in Stücken wie “Tangerine” und “Kyril” einen rhythmisches Knochengerüst, an dem sich Einaudi entlang tasten kann. Auch das gehört zu den grandiosen Momenten eines unvergesslichen Albums. Nachhaltig empfohlen.
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Zusammenfassung
Als hätte es Keith Jarrett nie gegeben ...
Inhalt
Digipack
46.44 Minuten
10 Tracks:
Slow Ocean
Kyril
Other Nature
Koepenik
Mercury Sands
Light On Light
Ulysses And The Cats
Tangerine
Drereks Garden
The Room
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