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Coil live

...in der Berliner Volksbühne am 12.04.2002


Coil live
Kategorie: Spezial
Wörter: 945
Erstellt: 14.04.2002
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Autor: Axel

Exklusiv der noch von den unmittelbaren Eindrücken geprägte Bericht der einzigartigen Aufführung von COIL, am Freitag, dem 12. 04. 2002 in Berlin...

Wie beginnt man eine Konzertrezension, wenn man selbst noch im Banne desselben, von Bildern und Tönen durchdrungen, Gefahr läuft, ausufernde Impressionen und imaginäre Astralreisen permanent zu durchleben? Denn der gestrige Abend war ein Erlebnis sondergleichen, der die vorfreudigen Erwartungen außerordentlich übertraf.

Die im Vorfeld lange angekündigte, aufgrund diverser gesundheitlicher Probleme John Balance’ verschobene Coil-Tour sah auch vier Deutschlandtermine vor, von denen der zweite, nach Hamburg, gestern in Berlin stattfinden sollte. So fanden sich denn gegen 21:30 Uhr allmählich die dunkleren Gestalten der Stadt vor den mächtigen Portalen der Berliner Volksbühne ein, um die Legende COIL erleben zu dürfen...Interessant war das durchwachsene Alter und die Optik der Audienz, welche von Oldschool-Fans aus SO 36/Atonalzeiten über chronische Gothics, Hardcore-Elektroniker bis hin jungen, hübschen (!) Studentinnen reichte.
Nach wiederholtem, aufforderndem Klingeln im Foyer (ja, so ist das in einem richtigen Theater... !) begab man sich nach Biergenuß o. ä. in den Saal, eingedenk der am Eintritt angebrachten schriftlichen Warnung vor COILs herb-bekannten Stroboskoplichtern, die wohl auch heute wieder zum Einsatz kommen sollten. Den relativ pünktlichen Beginn, kurz nach 22:00 Uhr machten TARWATER, ein elektronisches Duo, mir bis dato allerdings nur dem Namen nach geläufig, welches, im Hintergrund auf riesiger Leinwand leicht abstruse Filmchen zeigend, repetitive Rhythmen und teilweise analoge Sequenzen abspielten. Zwar klang das durchaus ganz eingängig für diese Art von Abendveranstaltung, aber für meinen Geschmack vermochten sie nicht wirklich etwas herauszureißen und wirkten auf der Bühne ziemlich statisch. Nach einer knappen Stunde war es dann auch vorbei und die Bühne wurde für COIL mit nur wenigen elektronischen Gerätschaften, den berüchtigten Scheinwerfern und zwei in Metallfolie gehüllten großen Boxen zu beiden Seiten hergerichtet.

Sleazy Peter Christopherson erschien, mittlerweile doch schon leicht ergraut, in weißer Kapuzenmontur mit Spiegel auf der Brust, von einigen COIL-Liveberichten schon bekannt, und startete das Intro aus verknarzten Stimmenloops, und die zwei Gastmusiker, Michael York mit keltischem Blashorn und Cliff Stapleton mit Drehleier traten hinzu. Zwischen Nebelschwaden wurde man schließlich zwei ebenso weiß gekleideter Gestalten gewahr, die sich mit archaisch anmutenden Tanzschritten näherten und den Eindruck zweier entlaufener Yetis boten, da jede eine längere weiße Fell -, Haar -, oder Watteperücke trug und mit Schellengerassel das nun beginnende Ritual eröffnete.
Die Ankunft von John Balance, in sichtlich guter Stimmung (ungeduldiges Hopsen, angedeutete sportive Tanzeinlagen) und Simon Norris (auch etwas älter geworden ?), beide nun ohne künstliche Haarpracht läutete das eigentliche Konzert ein, oder soll ich sagen Performance oder abgedrehtes Ritual oder, oder... ?
Wer in Leipzig beim WGT die Gelegenheit hatte, COIL live zu erleben, dem wird die eigentümlich entrückte Stimmung erinnerlich sein, die nicht zuletzt durch John Balance’ einzigartig verquere Bühnenpräsenz maßgeblich geprägt ist.

Mit Johns Widmung an A. Crowley entwickelte sich nun das wunderbare „Amethyst Deceivers" mit seltsamen Spektralmustern und Farben auf der Leinwand.
Durch den brillanten Klang war jede auch noch so minimale Feinheit in der Frequenz und im Panorama äußerst gut zu vernehmen. Sleazy am Apple, Simon Norris am Synthesizer und Weihrauchgefäß (!), und John, sich trotz beachtlicher Körperfülle unaufhörlich bückend, wieder aufspringend, plötzlich drehend, fuchtelnd, betend, sich verrenkend, geheimnisvolle Handzeichen in überirdische Richtungen vollführend (manchmal hatte ich angesichts der wiegenden Schritt-Vor-, Schritt-Zurück-Aktionen den leisen, sehr leisen Eindruck eines „hospitalisierten Eisbärs"), verschmolzen mit der gesamten Szenerie.
Weiter ging’s mit dem live noch viel knackigeren „Slur" von der „Horse Rotorvator", begleitet von keltischem Dudelsack und Leier dezent aus dem Hintergrund, nicht ohne dass Balance es versäumt hätte, eine Hommage an William Burroughs und dessen Reminiszenz an Marokko zu bekunden. Spätestens jetzt war man gefangen von der unirdischen Welt, die COIL schon immer imstande gewesen waren, zu kreieren...

„This song is dedicated to all the prisoners in the world, especially to prisoners in conscience...".

Mit "A Cold Cell" und nie gesehenen Aufnahmen von Szenen aus russischen Gefangenenlagern hatte die Aufführung bereits eine Intensität erreicht, die ich persönlich kaum jemals erlebt habe. Die Verbindung aus nahezu elegischen, sich unerschöpflich wiederholenden Melodieabgründen im Kontrast zu jenen ABSOLUTEN Bildern in Slow Motion und John’s fast zerbrechlich wirkendem Gesang stellte meiner Meinung nach den ersten Höhepunkt des Abends dar, wenn man so etwas überhaupt definieren kann.

Weiterhin wurde neben „Broccoli" und „In Emergency" von der „Music To Play In The Dark II" und „...I" auch ein nicht enden wollendes, beinahe meditatives, mit orientalischen Anklängen unterlegtes Stück dargeboten. Dabei waren die versteckt okkult-rituellen Anleihen (Chaos, Zos Kia usw.) nicht unbedingt verständlich. John Balance verstand es jedoch, anhand seiner Mischung aus hintergründigen, oft auch Phantasiezeichen malenden Bewegungen und Wortspielen wie „...Death grows...Death flows...Horned Animals..." in Verbindung mit archaischen, erdverbundenen, phallischen Penetrationstänzen unklare Ahnungen hervorzurufen. Pulsierende, blutspendende, quallenartige Gebilde auf der Leinwand, in lilafarbenes Licht getaucht, taten ihr übriges.

Urplötzlich wechselte die Szenerie und ein brachialeres, schnell-rhythmisches Stück (Titel ist mir entfallen) riss mich aus der noch nachklingenden Atmosphäre. Simon Norris und Sleazy weiterhin statisch an den Geräten schraubend, John Balance, schwitzend mit wildem Ausdruck im Gesicht hin und her rennend, schreiend, qietschend, erschöpft niedersinkend; unglaublich, was der Mann für Energie aufzubringen vermag...
Mit „Backwards", eindeutiger Gestik, Strobolicht und sägenden Analogsequenzen verabschiedeten sich COIL schließlich, Streichmusik der Renaissance aus den Boxen ließ keinen Zweifel daran, dass diese Aufführung ohne Zugabe unweigerlich beendet war.

Während ich, vielleicht etwas traurig, realisierte, dass alles schon wieder vorbei war, trat mir gleichzeitig die Erkenntnis vor Augen, dass COIL zu den ganz Großen des Genres gehören und die Facetten, die sich bei einem derartigen Konzert auftun, eigentlich unbeschreiblich, zweifellos nicht imitierbar und mich selbst erschöpft, gegen 1:00 Uhr morgens dann nach Hause gehend, irgendwie ein bisschen verändert zurückließen...


Axel


 
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