Zernikow ist ein Ortsteil von Großwoltersdorf, das wiederum nördlich von Berlin im schönen Ruppiner Land liegt. Friedrich der Große lebte hier für ein paar Jahre. Nachdem sein bester Freund Hans Hermann von Katte auf Drängen des Vaters hingerichtet worden war, heiratete Friedrich Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern und zog des Familienfriedens wegen auf das Gut. Er hielt es dort jedoch nicht lange aus. Nur vier Jahre später, also 1737, schenkte er es seinem Kammerherrn. Der starb 1758. Seine Frau heiratete wieder. Eine Tochter aus dieser Ehe heiratete den Freiherrn von Arnim. Und einer der Söhne aus dieser Ehe heiratete Bettina, die man als Autorin des Buches „Die Günderode“ sicherlich kennt.
Heutzutage wirkt Zernikow eher verschlafen. Doch auch jetzt noch wohnen hier Leute, deren Wirken der Rede wert ist und deren Aktivitäten ähnlich verstrickt sind wie das vorab beschriebene Stamm-Bäumchen-Wechselspiel. JÜRGEN ECKLOFF ist einer davon. Er organisierte das NNOI-Festival, das vom 30. Juni bis zum 02. Juli an der Zernikower Mühle stattfand.Angekündigt war das Ganze als „Festival fuer 12,756Tonmusik, Obskure Lehren & Organ der Weltbauchrednerloge“. Die Ausstellung „Waise Laien“ stand dabei im Zentrum. Gehörnte Montagen, kraftstrotzende Collagen, furchterregende, dunkel drehende Objekte von TOM PLATT, ROBERT SCHALINSKI und eben JÜRGEN ECKLOFF waren zu sehen. Drumherum fand das Festival statt.
Zunächst wurde am Donnerstag, den 01.07. der Film „Sieg der Vernunft“ gezeigt, bei dem DITTERICH VON EULER DONNERSPERG das Drehbuch schrieb und auch gleich noch die Regie führte. Sieht man genauer hin, erkennt man Herrn DONNERSPERG als obersten Führer. Auch ASMUS TIETCHENS übernimmt eine der Rollen. Beide waren auf dem NNOI zugegen. HERMANN BOHLEN gab dann am frühen Freitagabend in den Ausstellungsräumlichkeiten Unerhörtes zum Besten. Das jedoch hab ich bedauerlicherweise wegen meiner eher - sagen wir - analogen Ortskenntnisse nicht miterleben können. Schade. Denn das, was dieser Herr so macht, ist von abgründigem, horrorstückhaftem Humor.
Alles, was danach dann an Musikalischem stattfand, wurde auf freiem Feld an der Zernikower Mühle ausgetragen. Das Feld, nun, es war eine Wiese. Und diese war feucht. Außerdem leider eher spärlich besucht. Doch das ist nun mal so. Das Besondere findet im Gegensatz zum Gemeinen eben immer nur spärlichen Zulauf und Anklang... Zunächst spielte man sich etwas warm. Das war auch dringend nötig. Denn mit der untergehenden Sonne zog es kühl über die Wiese. Es begann RASHAD BECKER. Er betreibt in Berlin das Studio „Clunk“, in dem zum Beispiel schon Alben von BRANDT BRAUER FRICK oder das „Univrs“-Album von ALVA NOTO gemixt und gemastert wurden. BECKERs eigener Sound zischte, summte, brutzelte, brummte nicht minder. Währenddessen lief im Untergrund der nebenliegende Sumpf mit Nebel halbvoll.
Anschließend wurden fantastisch absurde Kurzfilme gezeigt. Einer zum Beispiel war eine Abrechnung mit der hehren, ach so schönen Kunst: Pippilotta pisst, die Abramovic ohrfeigt und bekommt dabei beinah einen Orgasmus, Murakami ist geldgeil, Koons poppt mit Chiccolina, Hurst sagt, Kontakte zu Kuratoren sind wichtiger als das, was man macht... Es waren auch Filme, die in der „Sibirischen Zelle“ entstanden, zu sehen. Oder ein Film über einen Türgeist, der in der Tür lebt und erscheint, wenn man gegen sie läuft. Ach, und auch Männergesichter waren zu sehen. Denen konnte man beim Wichsen zuschauen. Unter anderem war da das Gesicht von FELIX KUBIN. Und das von DITTERICH VON EULER DONNERSPERG. Der schloss musikalisch an Herrn BECKER an. Doch zunächst las er. Ein Satz davon ist mir im Gedächtnis geblieben: „Hass ist gut gegen Kälte.“ Es folgte Musik. Und die flog flächig über die Stille und dem nun mit Nebel nahezu vollgelaufenen Sumpf. Apropos fliegen. Während eine wirklich ruhigen Passage mischten sich zwitschernde Vögel mit in das Klangbild - für jemanden aus der Stadt ein idealer Moment, für Musikbegeisterte ein Beispiel für die Antwort auf die Frage, was alles Musik sein kann.
Am Samstag betrat gegen 21:00 Uhr ASMUS TIETCHENS die Bühne. Vor ihm Hi-Fi-Gerät. Herr TIETCHENS setzte sich auf einen Stuhl, rückte ein wenig neben seine Geräte, drehte hier und da... ertönt eine synthetische Fläche mit Folgen, die sich wie Zikaden angehört haben. Danach eine sehr laute und extrem verfremdete Stimme, etwas, das sich nach Atem anhörte und morseartig Töne, die in den Tonhöhen schwankten. Dazu wieder die Stimme. Dann Schnitt. Und noch eine Fläche. Künstlich und kühl wie die Umgebungstemperatur. Dazu wieder ein Zwitschern aus dem nebenliegenden Wald mit Sumpffläche. Als die Musik an ihrem Ende angekommen ist, sagt Herr TIETCHENS: „O.k., von mir kommt jetzt nix mehr.“ ... Die Leute klatschten. Doch dann macht er doch noch ein Stück. Erst danach verlässt er die Bühne.
Es folgt eine Ansage. Ein Fabian bedankt sich für die Einladung und gibt zu verstehen, er mache Dinge, die bereits in den 1920er-Jahren viele in quasireligiöse Verzückung versetzten. Er bat die PARABELLES fünf Leute zu suchen, die für ein Experiment bereit wären. Die fünf wurden bald gefunden. Sie sollten je eine Kugel aus einem Beutel ziehen. Vier davon, sagte Fabian, seien schwarz. Und nur eine wär eine weiße. Die vier, die je eine der schwarzen Kugeln gezogen hatten, sollten lügen. Und die eine Person mit der weißen wurde gebeten, die Wahrheit zu sagen. Die Frage, die dann gestellt wurde, war: Wo warst Du am elften September?... Ein Psychospiel... Man erkennt einen Lügner an verdrückten Lachern, an Augen, die zur Seite gehen und so weiter... Bei den letzten zwei Leuten war sich Fabian nicht so ganz sicher. Entlarvt hat er letztlich dann aber alle. Das zweite Spiel: Wiederum einige Leute sollten vorher einen Tiernamen auf einen Zettel schreiben. Er würde sie alle erraten. Und tatsächlich, er lag nie daneben.
Dann kam FELIX KUBIN auf die Bühne. Es folgte eine musikalische Lektion in Sachen Küchenutensilien, Knochenbrüchen und Herztönen. Danach kam der Film „Entr´ acte“ von RENÉ CLAIRE (1924). Mit dabei MARCEL DUCHAMP, MAN RAY und so weiter. Die Musik schrieb einst ERIK SATIE. Doch nun vertonte KUBIN das Geschehen. Und wie. Das war, würde ich sagen, meisterlich und nicht minder surreal, wie zu Zeiten der Herren um den später alles überschattenden ANDRÉ BRETON.
Anschließend gab es wieder Filme zu sehen. Unter anderem einer der der Verbindung von Alkoholismus und Sumo nachging. Im Abspann konnte nachgelesen werden, dass dies ein weiterer Film war, der aus der „Sibirischen Zelle“, die COLUMN ONE um 2000 herum in Berlin betrieben, stammte. Großartig! So wie die Filme von und mit FELIX KUBIN, die über den Zeitraum von 1994-2008 entstanden und hier zur Aufführung kamen. Weit nach Mitternacht lief mir die Nase. JÜRGEN ECKLOFF, mit dem ich mich leider nur kurz unterhalten konnte, war im Dunkeln nicht mehr zu finden. Und meine in Anbetracht der Kälte unangemessene Kleidung zwang mich dazu, den Rückweg zur Unterkunft anzutreten. Leider verpasste ich deshalb am Ende noch die PARABELLES ...
Alles in allem bleibt die Feststellung, dass es Veranstaltungen gibt, die trotz Überinformation aber auch trotz ihrer multiplen Großartigkeit unbeachtet und unbesucht bleiben. Dies sollte aufhören! Also, beim nächsten Mal - und das ist meine dringliche Empfehlung - sollte das, was eine Klasse für sich und darüber hinaus auch noch NNOI ist, auf keinen Fall verpasst werden.
Bitte bewerte den Artikel fair und nach sachlichen Gesichtspunkten. Deine Stimme gibt dem Redakteur eine wichtige Rückinformation über seine Arbeit.