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Michael We.

NIEDOWIERZANIE - erste Worte

Das Gegenteil von MÖTLEY CRÜE.


NIEDOWIERZANIE - erste Worte
Kategorie: Spezial
Wörter: 1965
Erstellt: 13.10.2015
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LÉO MAURY ist ein Phänomen. So beseelt und voller Geschichten die Musik des gebürtigen Franzosen klingt, so still ist es dahinter. Will heißen: Bis auf den – damals zur ersten NONPOP-Besprechung eines NIEDOWIERZANIE-Albums sehr mühsam zu recherchierenden – Nachnamen, ein paar Orte und wenige weitere Details gibt es so gut wie nichts über den Schöpfer der wehmütigen Soundflächen. Keine Homepage, kein Blog, keine Likes. Sympathisch irgendwie. Soweit ich weiß, existiert bislang auch kein Interview mit LÉO. Mit der Besprechung des aktuellen Albums "Paradies" (Artikel) entstand deshalb der dringende Wunsch, ein paar allgemeine und klärende Fragen zu stellen. Herausgekommen ist ein Interview, welches außerordentlich gut zur Musik passt. Weil es melancholisch, bisweilen hoffnungslos, verschroben und misanthropisch ist. Aber gleichzeitig auch ... sehr schön.



Hallo LÉO! Mir fällt auf, dass es kaum Infos zu Dir gibt. Selbst Deinen Nachnamen habe ich am Anfang kaum gefunden. Ist das Absicht, gehört das zum Konzept von NIEDOWIERZANIE?

Nun, eigentlich ist das kein Konzept. NIEDOWIERZANIE ist einfach ein Projekt, ich mache eben Musik. Mein 'Ego' steckt in dieser Musik, deshalb sehe ich keine Notwendigkeit, sie mit persönlichen Fakten zu verbinden. Klar würde ich als Hörer gerne ein paar abgedrehte Details erfahren, am besten in den Booklets. Aber für meine Alben, denke ich, würde das nicht passen. Am Anfang habe ich vielleicht noch ein bisschen so getan, als ob NIEDOWIERZANIE eine 'Band' wäre, oder so eine Art endlose Produktionsmusik-Maschine. Ohne Menschen dahinter, einfach nur gefühlige Übelkeit. Ich kann mich nicht mehr richtig erinnern ...

Vielleicht gibt es ja doch das eine oder andere Details aus Deinem Leben, das Du uns verraten kannst?

Weil es eben keine Band gibt, gibt es auch keine Enthüllungsgeschichten. Wahrscheinlich genau das Gegenteil von MÖTLEY CRÜE. Meistens schließe ich mich in einem Zimmer ein, nehme absurde Mengen an Musik auf, von denen manchmal ein bisschen was veröffentlicht wird. Man könnte es Besessenheit nennen. Ansonsten macht es mir höchstens Spaß, alle Arten von Musik zu hören – momentan vor allem "AmeriKKKa's Most Wanted" von ICE CUBE, "The Key" von NOCTURNUS und vieles von EGYPTIAN LOVER. Außerdem schaue ich mir viele, meist alte Filme an. Ab und zu noch eine Liveband. Der Rest meines Lebens ist ein Strudel aus Banalität. Nur während meiner Zeit in Berlin, da habe ich mich wirklich lebendig gefühlt, wegen dieser Eckkneipen-Kultur. "Futschi" ist der wahre Nektar des Lebens. (Anmerkung der Redaktion: ein Berliner Mischgetränk aus Weinbrand und Cola.) Dann habe ich noch viel nutzlose Zeit in Spanien verbracht, und momentan lebe ich in diesem Alptraum Frankreich und versuche aufzuwachen.

Seit wann machst Du Musik, und welche von den Instrumenten bei NIEDOWIERZANIE spielst Du selbst?

Ich habe schon sehr früh damit angefangen, Musik zu machen. In der Schule spielte ich Cello. Seit 2006 nehme ich Musik als NIEDOWIERZANIE auf, mit einer ungefähren Richtung, einer vagen Idee dahinter. Die meisten Instrumente werden tatsächlich irgendwie bespielt, nur die Drum Machine und die Synthie-Sequenzen programmiere ich. Je nach Stimmung stehen manche Instrumente mehr im Vordergrund, aber grundsätzlich verwende ich Cello, elektronische Mandoline, Trompete, elektrische Gitarre, Bass, Charango (ein südamerikanisches Zupfinstrument) sowie Keyboards und Synthesizer. Dazu kommen noch ein paar mehr oder weniger blöde, andere Sachen wie ein Kazoo, zum Beispiel. Wichtig ist mir dann vor allem die Produktion, das Bearbeiten des Klangs.
Ich habe schon andere Projekte gehabt, manche sind sogar noch aktuell. Teils psychedelisch, manchmal mehr elektronisch oder rhythmusorientiert. Aber ich habe nur ganz selten und sehr kurz in Bands gespielt.

Bei "Attendre" (Besprechung), Deinem Album von 2011, hätte ich gewettet, dass Du aus einer Seefahrerfamilie kommst. Weil die Musik diese weite Meeresmelancholie ausstrahlt, spätestens wenn das Akkordeon einsetzt. Liege ich richtig?

Oh je, nein, auf den Gedanken wäre ich nicht gekommen, dass meine Vorfahren am Meer gelebt haben sollen. Andererseits ist das einzige, was ich an Marseille mag, der Klang der Schiffshörner im Hafen. Für mich spielt das Meer nicht so eine große Rolle, es ist eher das Gefühl eines nutzlosen Lebens, welches ich auch mit 'südlichen' Gegenden verbinde. Im August in Marseille Black Metal zu hören, ist die perfekte Kombination totaler Vergammeltheit. Tango mag ich übrigens sehr ...

Wie arbeitest Du für Deine Alben, wie entstehen Deine Soundflächen?

Kommt immer darauf an, wie viel Trübsal ich gerade blase ... Es gibt kein Konzept, nur endlose Lamentiererei. Die Albumtitel sind ein erste Schritt. Auf "Attendre" habe ich auf etwas gewartet, "Felicita" war mein Versuch, glücklich zu sein. Wenn ich Zeit zur Verfügung habe, nehme ich einfach stundenlang Musik auf. Manchmal gibt es in diesen Flächen einen Anfang und ein Ende. Manchmal kommen dabei nur ein paar wenige Songs raus, aber die letzte dieser fiebrigen Phasen dauerte zwei Jahre, und am Ende hatte ich 40 Stücke. Mit "Attendre" fing ich an, kurz bevor ich Marseille verließ, und beendete das Album erst in Berlin. Gleichzeitig nahm ich "Influences Errantes" und "Cosa Fare" auf. Scheint total konfus zu sein, macht aber nach und nach Sinn. Außerdem hatte ich immer Vertrauen in das Team von TREUE UM TREUE / REUE UM REUE, sie haben etwa die Reihenfolge der Tracks für die Alben festgelegt, die ich dort veröffentlicht habe.

Woher stammen Deine Field Recordings?

Tatsächlich verwende ich gar nicht so viele Field Recordings. Auf der ersten LP waren einige, die aus Indien stammten. Manchmal nehme ich einfach ein bisschen Raumatmosphäre auf, oder zufällige Sounds; einmal zum Beispiel einen Klempner bei der Arbeit im Bad. Oder meine Nachbarn, wie sie an Silvester tonnenweise Böller zum Fenster rausgeworfen haben. So was halt. Heute mache ich das eigentlich nicht mehr, weil ich es vermeide, nach draußen zu gehen.

Du warst, wie Du ja eben auch angedeutet hast, länger in Indien, auf der Split-Kassette mit STAUB ("Influence Errantes") hast Du Dich mit einem Leben nach dem Tod beschäftigt. Wie wichtig ist für Dich, um einen sehr allgemeinen Begriff zu wählen, Spiritismus?

Mein persönlicher Mangel an Spiritualität ist meine Bestrafung, denke ich. Fühlt sich an wie eine leere Flasche, die sich fortwährend quält. Wir sind doch alle verlorene Kretins ohne Moral, Anstand und Struktur. Mich beeindruckt Spiritualität immer, aber ich habe keine 'Praxis' darin, außer vielleicht, dass ich SUN RA höre. Um ganz ehrlich zu sein: das Konzept von "Influence Errantes" stammt von LASZLO und SOFIA von TREUE UM TREUE. Als ich ihnen die Geisterstücke schickte, die irgendwie mit toten Leuten zu tun hatten, schlugen Sie Titel, Text und Artwork der Veröffentlichung vor. Wahrscheinlich können sie sehr viel mehr über Spiritualität sagen als ich ...



Dein aktuelles Album heißt "Paradies" – wie viel Ironie schwingt da mit?

Oh, überhaupt keine Ironie. Es geht um das natürliche Bestreben, glücklich zu sein, wie immer. Und Berlin, zu dieser Zeit, schien für mich ein Paradies zu sein. Einer der Songs auf dem Album hat einen direkten Bezug zu dem wunderbaren Film "Lost Horizon" von FRANK CAPRA, wo es um Shangri-La geht (Anmerkung der Red.: einen fiktiven paradiesischen Ort). Ich frage mich, was für eine Art von Musik man dort machen könnte. Wahrscheinlich würde das gar nicht nach Musik klingen. Auf jeden Fall hoffe ich, dass das Paradies existiert, irgendwo, eine Insel voller Bananen und Calypso-Bands. Oder ein Keller mit großer Anlage und einem Acid House-DJ. Auf jeden Fall sollte das Paradies ein genaues Gegenteil von Marseille sein.

Du bist Franzose, lebst in Deutschland, Dein Projekt hat einen polnischen und das aktuelle Album einen deutschen Namen. Hat das eine Bedeutung? Oder spielen Wörter und Sprachen in Deiner fast rein instrumentalen Musik keine Rolle, und Du suchst Dir Titel und so eher nach dem Klang aus?

Diese Namen ploppten einfach in bestimmten Situationen auf. Es ist ähnlich wie bei der Musik: Ich habe mir diese Art von Musik nicht ausgesucht ... Das Wort "Niedowierzanie" habe ich als Grafitti in Warschau gesehen, und als ich die Bedeutung herausgefunden hatte, wollte ich es behalten. "Paradies Neukölln" hieß ein Matratzenladen in der Nähe meines früheren Appartements in Berlin. Vielleicht ist das Paradies ein riesiger Matratzenladen? Es geht mir nicht unbedingt um den Klang der Wörter, da ich nicht in der Lage bin, korrekt polnisch oder deutsch zu betonen. Die Namen tauchen einfach auf, oft sind sie total blöd, aber manchmal behalte ich einen, weil so ein Wort dann die lose Idee oder das Gefühl eine Liedes widerspiegeln. Ich mag auch die sehr konkreten Titel von Produktionsmusik.

Musikalisch sind mir immer wieder Parallelen zu DEMIAN und Ô PARADIS aus Barcelona aufgefallen. Er hat Deine aktuelle Veröffentlichung auch abgemischt. Wie gut seid Ihr befreundet, und hast Du Kontakte zu weiteren Musikern – wie zum Beispiel NOVY SVET, die ja auch mal in Barcelona gelebt haben und durchaus auch ähnliche Musik wie Du machen?

Ich kenne DEMIAN seit ein paar Jahren, und klar mag ich seine Musik. Ich bin mir aber nicht sicher, ob er den Vergleich mögen würde. Seine Musik klingt sehr sauber und produziert, und meine nach chaotischem Lo-Fi-Durcheinander. Vielleicht ist diese traurige südländische Stimmung ein gemeinsamer Anknüpfungspunkt. Aber ich mache ja auch gar keine 'echten' Songs, ich benutze meistens gar keine Vocals und keine Sprache, also sind unsere Absichten grundverschieden. Ich wusste von ihm aber, dass er sich mit digitaler Produktion auskennt, also habe ich ihn bei meinem neuen Album einfach danach gefragt, und er war einverstanden. Außerdem haben wir natürlich ein paar Drinks zusammen bestellt, als ich in Barcelona war, gemeinsam mit SERGIO von ESCAMA SERRADA. Ich kenne die Musik von NOVY SVET, aber hatte bis heute noch keinen Kontakt zu ihnen.

Wäre es nicht naheliegend, mit einem befreundeten Projekt eine gemeinsame Veröffentlichung zu planen?

Ach, ich weiß nicht. Vielleicht wäre es zu naheliegend. Aber ab und zu mache ich gerne Musik mit anderen Leuten. Außerdem glaube ich, dass DEMIAN genug mit seiner eigenen Musik zu tun hat. Ich würde ihn gerne mal zu einem Latin-Disco-Stück singen hören, zum Beispiel, wie etwa "Santa Esmeralda", aber auf spanisch. Oder ein Schlager über Mallorca. Vielleicht wäre das ein Riesenerfolg, und wir würden die ARENA BERLIN vollkriegen, wer weiß?

Ganz allgemein: Wie stellst Du Dir die musikalische Zukunft von NIEDOWIERZANIE vor?

Demnächst habe ich ein paar Auftritte mit den besten Bands des Universums, 1997EV und SOLAR SKELETONS, wir spielen in Genf am 22. Oktober und in Lyon am Tag darauf. Anschließend spiele ich ein bisschen Mandoline für MUSHROOM'S PATIENCE, auf diesem Industrial-Festival in Warschau. Eigentlich ist auch ein neues Album fertig, mit Cover und allem, aber wegen Problemen bei der Herstellung weiß ich nicht, wann es wirklich rauskommt.
Ich habe außerdem ein höllisches Delirium von zwei verwünschten Jahren hinter mir, daraus wird eine Art Box namens "Morale", die drei Alben beinhaltet, poppiger und elektronischer. Sie heißen "Humiliés", "Tous Unis Contre La Vie" und "Mauvais Signe". Ein Tagebuch dessen, was jeden Tag schlimmer und schlimmer wird. Im Gegensatz dazu hört sich die Musik fast lustig an. Vielleicht bringe ich das auf meinem eigenen Tapelabel OBSCÈNE & ANÉMIQUE raus, vielleicht nicht.
Außerdem kommen auf dem angesprochenen Label wohl ein paar Sachen raus, zuerst ein Splitalbum mit BRANNTEN SCHNÜRE und SWESOR BHRATER. Dann das berüchtigte "Funhammer"-Tape, welches die rauschhafte Zeit auf Tour mit MUSHROOM'S PATIENCE feiert. DIAMANTENER OBERHOF, TZII und NIEDOWIERZANIE. Und noch ein weiters Split-Tape mit TEATRO SATANICO und ESCAMA SERRADA. Und auch gerade fertig geworden: etwas, das sich mehr auf Synthesizer fokussiert, mit zwanghaften Sequenzen. Ich weiß aber momentan noch nicht, was es bedeuten soll.
Nun, ich hoffe es passiert etwas. Wahrscheinlich aber nicht.

LÉO, vielen Dank für das Gespräch!

 
Michael We. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» NIEDOWIERZANIE @ Discogs

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