Uralter Musikerwitz, der so oder ähnlich durch viele Foren wandert. Sagt der eine Musiker: "Was ist eigentlich neu an Neuer Musik?" Sagt der andere: "Was ist an Neuer Musik eigentlich Musik?"
Um Sinn oder Unsinn von Begrifflichkeiten geht es – unter anderem – auch im Interview mit WENDELIN BÜCHLER. Er ist selbst, ja, Elektronikmusiker? Elektroakustiker? Zeitgenössischer Performer? Vielleicht belassen wir es einfach bei 'Künstler'. Zusammen mit der Italienerin ALESSANDRA ERAMO betreibt er das kleine Berliner Label CORVO RECORDS, welches wir anhand von zwei aufwändigen, optisch-akustischen Veröffentlichungen jüngst vorgestellt haben. WENDELIN BÜCHLER / ALESSANDRA ERAMO (Labelfoto)
Hallo WENDELIN! Ich finde es oft schwierig, sich moderner Musik zu nähern, weil die Begrifflichkeiten so unklar sind. 'Neue Musik', 'Elektroakustik', 'Experimentelle Musik', das ist alles sehr weit gefasst. Lass es uns vielleicht mit ein paar Definitionen versuchen. Ein 'offizieller' Hinweis auf Eure Arbeit findet sich auf Eurer DISCOGS-Seite. Dort steht, dass Ihr Euch um 'Zeitgenössische Musik' kümmert. Was ist, ganz allgemein, Deine Definition von 'zeitgenössisch'? Eine Annäherung über Begrifflichkeiten finde ich von vornherein problematisch. Vielmehr gehe ich immer den umgekehrten Weg und versuche, durch das Hören eine Einordnung vorzunehmen, welche aber auch immer flexibel bleiben sollte. Meine Plattensammlung zum Beispiel ist nicht alphabetisch, sondern stilistisch sortiert, was immer wieder zu Irritationen, nicht zuletzt bei mir selbst, führt. Die Sammlung ist also immer in ständiger Veränderung, Platten wandern zwischen den Stilen hin und her, je nach dem, wo ich sie gerade einordne und welche Werke daneben stehen. Als ich mit mehreren Kollegen in Stuttgart in einer Mediengalerie die Veranstaltungsreihe "Plattform für aktuelle Musik" betrieb, wurde vom wissenschaftlich sozialisierten Galleristen eingewendet, dass der Begriff unklar sei, denn BRITNEY SPEARS wäre ja auch aktuelle Musik. Daran kann man sehen, wie schnell aktuelle Musik zu unaktueller Musik wird, was nicht bedeutet, dass man in aktueller oder zeitgenössischer Musik nicht BRITNEY SPEARS sampeln kann und ihr dadurch wieder den Rahmen der Aktualität verpasst. Das heißt also ganz konkret – welche Musik finden wir bei CORVO RECORDS? Musik, die ähnlich dem Free Jazz spontan improvisierend im Prozess entsteht, wie zum Beispiel bei der ersten Platte "PopeWAFFEN", welche mehr die individuellen Charaktere und Fähigkeiten der Gruppenmitglieder berücksichtigt als ein kompositorisches, musikalisches Konzept. Aber auch Klangpoesie und erweiterte Vokaltechniken in Verbindung mit Field Recordings und elektronischen Klängen, vereint in einem hörspielartigen Konzeptalbum der italienischen Künstlerin ALESSANDRA ERAMO. Ein weiterer Bereich sind organische Turntable-Collagen wie bei THORSTEN SOLTAU oder dem Wiener Klangkünstler DIEB13, welche, um sich zu entfalten, ganze Plattenseiten einnehmen. War nicht vieles schon mal da, was heute möglicherweise als 'neu' bezeichnet wird? Field Recordings, Musique Concrète, Turntablism (als 'Scratching' ab Mitte der 70er) ... Was ist also (wie in dem Witz oben) das Neue an Neuer oder Moderner Musik? Es liegen ja heute schon 100 Jahre Neue Musik hinter uns. Das sind 100 Jahre, die in ihrer Polystilistik natürlich schon einen immensen Raum abdecken. Vielleicht kann man die Entwicklung der Neuen Musik mit der Besiedlung der USA vergleichen. Mit jedem Schritt Richtung Westen wurde quasi Neuland betreten, unsichtbare Grenzen wurden überschritten, und im Windschatten der Pioniere entwickelte sich eine Formensprache, die experimentell das Neue suchte, es immer wieder mutierte, veränderte, verarbeitete, ein Territorium absteckte und Begriffe etablierte. Was ja nicht bedeutete, dass bei Ankunft der Ersten am Pazifik sich hinten nichts mehr tat. Zurück zu den Begriffen: Field Recordings finden sich ja schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den Musikologen JOHN und ALLAN LOMAX, auf welche dann später die Klangcollagen WILLIAM S. BURROUGHS oder die von Dir angesprochene Musique Concrète der frühen 50er Jahre aufbaute. Eine weitere Neuerung ist natürlich auch die Verbindung von Musik und Bildender Kunst, welche mich natürlich sehr interessiert, beispielsweise in der Fluxusbewegung. Oder bei den italienischen Futuristen mit LUIGI RUSSOLO, welche ja sehr stark mit der Malerei verbunden sind. Der abstrakte Expressionismus eines JACKSON POLLOCK wiederum inkorporiert den Gestus der freien Tonalität im 50er-Jazz und ist in seiner Prozesshaftigkeit, wenn man will, ein Vorläufer aktueller Tendenzen wie der sensorbasierten biophysikalischen Tanzperformance eines MARCO DONNARUMMA. Man könnte hier noch endlos weitermachen, aber dafür gibt es exzellente Musikologen, die das besser können als ich. Das Neue liegt meiner Meinung nach immer in der eigenen Perspektive und Wahrnehmung. Und natürlich auch in der eigenen Offenheit, das Neue zu suchen oder zu sehen, zu hören. Neue Musik im Sinne von Noch-Nie-Dagewesenem existiert heute natürlich nicht mehr, ich empfinde es aber auch nicht als die Aufgabe eines Künstlers, dies zu erfüllen. Wie würdest Du interessierten Hörern empfehlen, an Eure Veröffentlichungen heranzugehen? Braucht es eine bestimmte Vorgehensweise, oder gar eine Vorbildung, Wissen über die Entstehungsgeschichte zum Beispiel? Natürlich entdecken Vorgebildete andere Dinge als jemand, der mit einer naiven Unvoreingenommenheit unsere Veröffentlichungen hört. Mich interessiert unabhängig vom Stil immer die Entstehungsgeschichte eines Kunstwerks, und dies sollte auch bei CORVO-Veröffenlichungen im Mittelpunkt stehen, denn jedes Kunstwerk ist auch immer die Frucht eines oder mehrerer Menschen, der in einem mal langen, mal kürzeren, aber immer intensiven Prozess etwas erschafft. Diesen Prozess versuche ich auch immer in der Veröffentlichung zu transportieren und wahrnehmbar zu machen. Grundsätzlich würde ich aber dem interessierten Hörer empfehlen, die Platte aufzulegen und – zusammen mit dem Visuell-Grafischen – den Klängen zu lauschen. Ist es nicht paradox, dass Du zeitgenössische Musik ausschließlich auf Vinyl veröffentlichst? Tatsächlich scheint es paradox, es ist aber kein fancy Vintage, sondern eine bewusste Entscheidung für ein Medium, welches mich als sinnliche Form schon immer begeistert hat, ein Medium, welches in einer Zeit der grenzenlosen Machbarkeit seine Limitierungen hat und eine Reduktion aufs Wesentliche fordert. Es sind aber nicht nur Platten mit zeitgenössischer Musik, denn auf dem CORVO RECORDS Sublabel GLOBAL POP FIRST WAVE werden demnächst erstmalig historische, restaurierte Stücke aus den 60er- und 70er-Jahren, der Blütezeit des türkischen Beat, Funk und Psychedelic, auf Vinyl veröffentlicht, sehr skurrile und hochinteressante Sachen – und tanzbar. Da während der türkischen Militärdiktatur die meisten Plattensammlungen dieser Art vernichtet wurden, sind hierbei die menschlichen Schicksale als Metaebene sozusagen in das Vinyl gepresst. Brauchte Neue Musik zwingend weitere Sinne, das Haptische, das Optische? Wären Eure Veröffentlichungen ohne die aufwändigen 'Verpackungen' unvollständig, oder sogar nicht zu begreifen? Aufgrund meiner Studien an der Kunstakademie bin ich eben sensibilisiert für den visuellen Aspekt. Für mich persönlich bekommt jede Veröffentlichung eine Art Mehrwert dadurch, was aber nicht als monetärer Mehrwert zu verstehen ist, im Gegenteil. Der Aufwand und die Kosten der Produktionen steigen natürlich dadurch. Ich denke, dass CORVO RECORDS dadurch ein Alleinstellungsmerkmal aufweist, und nach dem Feedback der Presse und der Käufer zu urteilen, besteht ein Bedürfnis nach hochwertigen, individuellen Produkten. Wir haben uns jetzt aber entschlossen, auch Downloads der LPs anzubieten (und zwar auf http://www.subradar.no), was von den meisten aber als Zusatzoption zum Vinyl wahrgenommen wird. Der Katalog von CORVO RECORDS (Labelfoto)
Kannst Du uns ein oder zwei Deiner Lieblingskombinationen aus Akustik und weiteren Sinnen auf CORVO RECORDS beschreiben? Die aktuelle Veröffentlichung von DIEB13, "Trick 17" (NONPOP-Besprechung) ist genau genommen eine einseitig gepresste Platte. Auf der zweiten Seite hat der Künstler mittels eines Programms einen Soundschnipsel geloopt und in eine Grafik umgewandelt. Die auf den ersten Blick völlig normal aussehende B-Seite enthält bei genauerem Hinschauen also eine Spirale, in welche Buchstaben eingepresst sind. Diese Grafik bedingt dann den Klang, eine Art infernalisch lärmender Loop. Oftmals wird diese versteckte Grafik übersehen, es ist also ein 'vinyl hidden track', und ein Journalist interpretierte den Klang kürzlich als einen Loop, der den sich ewig wiederholenden Unsinn in der Welt widerspiegelt. Das finde ich als individuellen Zugang eigentlich sehr schön. Wird Musik, wie Ihr sie veröffentlicht, nicht langsam zum Massenphänomen, bezogen auf die vielen jungen Musiker, die es gibt? An zig Hochschulen wird zum Beispiel inzwischen der Studiengang der Elektroakustik angeboten. Also anders formuliert: Wer setzt sich da durch? Es ist natürlich eine großartige Sache, dass solche Studiengänge inzwischen Standard sind und ich hoffe, dass sich der audiovisuelle Bereich noch erweitert, denn ich erinnere mich an eine Anekdote aus meiner Studienzeit: Als ich im Rahmen eines offiziellen Austauschprogramms zwischen der Stuttgarter Kunstakademie und der Musikhochschule zu meinem verbrieften Recht kommen wollte, das Studio für elektronische Musik in der Musikhochschule zu nutzen, wurde ich von der Sekretärin (!) angeraunzt, was ich denn als Kunstakademiestudent hier wolle, denn hier werde doch 'große Kunst' gemacht. Das hätte andersrum natürlich genauso passieren können. Diese Arroganz und Ignoranz gegenüber dem Anderen ist leider immer noch sehr verbreitet. Aber ich schweife ab: Den jungen Absolventen der Hochschulen, Kunst wie Musik, würde ich raten, ihr eigenes Ding durchzuziehen, sich von Übervätern und den ja leider ungleich weniger vorhandenen Übermüttern nicht erdrücken zu lassen. Ein Massenphänomen ist das, was ich mache, aber noch lange nicht. Es bleibt ein Nischenprodukt, wie die 300er Auflagen unserer Platten zeigen. Und wie findet Ihr die Künstler, von denen Ihr schlussendlich Alben macht? Da wir wenige Veröffentlichungen pro Jahr rausbringen, legen wir großen Wert auf individuelles Verständnis und kreative Zusammenarbeit zwischen Musiker, Coverkünstler und Label. Letztendlich muss einfach die Chemie stimmen. Du arbeitest auch als Kurator für EMIHAL, eine "Veranstaltungsreihe für raumbezogene Klang-Performance". Worin besteht da genau Dein Job, und was passiert schlussendlich vor Publikum? Tja, und da wären wir wieder bei den verdammten Definitionen, die sich durch unser Gespräch ziehen: EMIHAL = Experimentelle Musik Im Haus Am Lützowplatz. Ich bin der Initiator dieser Berliner Reihe, der Organisator und zusammen mit ALESSANDRA ERAMO der künstlerische Kurator. Die Performances finden immer ohne Bühne, interaktiv im Publikum oder in der Bewegung durch den Galerieraum statt. Das Publikum befindet sich also unmittelbar in der Performance, in diesem Sinne ist der Raumbezug zu verstehen. Wie sieht Dein persönlicher Werdegang als Musiker aus? Hier liegt der Schlüssel zu meiner schubladenfernen Auffassung der Musik, die ich produziere, und auch zu dem audiovisuellen Ansatz von CORVO RECORDS. Meine frühe musikalische Sozialisierung lag in der klassischen Gitarrenausbildung, wie auch im Hardcore / Metal, worin ich einige Veröffentlichungen hatte. Parallel dazu genoss ich eine Ausbildung im klassischen Schüler / Meister-Verhältnis bei einem Maler und Grafiker. Studiert habe ich an der Kunstakademie, wo ich in Kontakt mit Werken des Fluxus, namentlich NAM JUNE PAIK, mit DIETER ROTH oder auch KIKI SMITH kam. Diese Sensibilisierung führte natürlich schnell zur New Yorker No Wave-Szene. Und für mich zur Hinwendung zur präparierten Gitarre. Neben Performances in Europa und den USA kuratierte ich in Stuttgart und Ludwigsburg die Musikreihen "Max.Experimentell" und "Serious Entertainment" und war Initiator und künstlerischer Leiter des "S'Block Festival 2009" für Performancekunst und erweiterte Musik. Sowohl CORVO RECORDS als auch EMIHAL sind für mich die konsequente Zusammenführung von visueller Kunst und Musik im weitesten Sinne. Meine eigene künstlerische Arbeit bewegt sich in unterschiedlich starken Wellenschlägen zwischen Grafik und Klang. Welches Album aus Deinem Plattenregal könnte die Leser dieses Gespräches wohl am meisten verschrecken? Hmm, ihr habt ja eine recht breit gefächerte Leserschaft. Vielleicht "Die Gesänge der Buckelwale"? WENDELIN, danke für das Interview und viel Erfolg mit CORVO RECORDS!
Michael We. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » CORVO RECORDS » EMIHAL » GLOBAL POP FIRST WAVE (Sublabel) Themenbezogene Newsmeldungen: » Türkische Beats der 60er auf Sublabel von CORVO
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