Prolog
Die Tatsache eines 20-jährigen Jubiläums des Wave-Gotik-Treffens kann zu verschiedenen Fragestellungen führen. Bin ich wirklich schon so alt und muss ich da eigentlich noch hin? Zumindest in Bezug auf die letzte Frage hat sich bei mir nie ein Gefühl der Gleichgültigkeit eingestellt, hatte ich eigentlich noch nie Probleme, mich vier Tage lang in Leipzig zu beschäftigen. Ganz im Gegenteil! Auch in diesem Jahr war das Programm wieder derart ansprechend, dass man gar nicht alles sehen konnte, was man gerne mitgenommen hätte. Tatsächlich gab es gerade in diesem Jahr einige sehr unglückliche Blockungen, wenn zum Beispiel am Samstagabend nahezu zeitgleich, TONY WAKEFORD, CAMERATA SFORZESCA oder SPIRITUAL FRONT spielten. So kam es, dass einem viele Bekannte je nach musikalischer Subgenre-Neigung nur durch Zufall über den Weg liefen, wo man sich früher einträchtig an einem jeweiligen Spielort getroffen hatte. Das WGT selbst ist bei aller Kritik hinsichtlich Kommerz und Karneval auch in seiner 20. Ausgabe ein Lichtblick. Gibt es doch kein schwarzes Festival in Deutschland, das derart viele eher unbekannte Bands im Line-up hat. Außerdem gibt es nach wie vor kein Festival, bei dem man in der Reichhaltigkeit Bands aus den Bereichen Neofolk, Dark Ambient oder Industrial zu sehen bekommt - oder eben auch Goth-Rock, Horrorpunk etc. Einer Anbiederung an den gewöhnlichen Festivalzirkus verweigert man sich jedenfalls seit Jahren, auch wenn man zum Jubiläum doch den Eindruck hatte, dass einige Szenegrößen mehr auf dem Programm standen. Neben der rein musikalischen Betrachtung darf man allerdings auch das Drumherum nicht vergessen. Auch in diesem Jahr fand ich in der vielgescholtenen Kommerzhalle einige schon länger gesuchte Platten - unter anderem alten amerikanischen und französischen Elektro - oder amüsierte mich auf Lesungen wie der im Darkflower wo, ALEXANDER NYM das Jubiläumsbuch zum WGT, das inhaltlich leider etwas schwach auf der Brust ausgefallen ist, vorstellte. Ein Wort der Kritik geht dieses Jahr allerdings eindeutig in Richtung PA-Technik. Was man sich an verschiedenen Spielorten hier dieses Jahr geleistet hat, war vielfach nur noch unterirdisch. Derart hilflose und ahnungslose Techniker hat man selten gesehen. In Erinnerung blieb mir nur noch ein angesichts nicht aufgezogener Mikrofone und anderer Probleme fast schon verzweifelt "Hello, earth calling!?!" fragender TONY WAKEFORD. Oder FRANK B. von MILITIA, der bei seinen Überbrückungsversuchen irgendwann erstaunlich ausgeglichen mitteilte, dass er nicht als Stand-up-Comedian gebucht sei. Obwohl, der Mann war sein Geld wert… Ein eher unguter Trend schleicht sich aus meiner Sicht in den letzten Jahren zudem vermehrt ein. Wenn man meint, dass das Starren auf einen Laptop-Bildschirm eine gute Performance darstellt, dann sollte man sich mal ins Publikum stellen. Leider haben die Möglichkeiten der Technik in den letzten Jahren immer mehr dazu geführt, dass man sich auch nur noch darauf in seiner minimalsten Art verlässt. Freitag Der Beginn des Festivals wurde am Freitag im Pantheon (früher Volkspalast) begangen, in dem die Bands abwechselnd in der Kuppelhalle und der Kantine spielten. Gleich zur ersten Band ZERO DEGREE betraten wir bereits die Örtlichkeit und wurden mit einigen netten, elektronischen Sounds von zwei Herren begrüßt, die etwas unbeholfen hinter ihren Laptops standen. Mein Problem mit solcher Art von Performances möchte ich an dieser Stelle nicht verhehlen, zumal wenn auch keine mitreißende Visualisierung den Auftritt unterstützt. MERCYDESIGN zeigten im Anschluss schon eher, wie ein instrumentaler Auftritt aussehen kann, der sich auf eine starke, elektronische Basis stützt. Gleich fünf Musiker sorgten auf der Bühne für einen anständigen Blickfang und auch PHILLIP A. an der Elektronik werkelte mit einem Radio und verschiedenen Gerätschaften herum, um ein wirkliches Live-Erlebnis zu erzeugen. Leider wurde die Band ein erstes Opfer der Technik, war der Mann am Mischpult doch nicht in der Lage, einen anständigen Bandsound zu mischen. So waren Cello, Gitarre, Akkordeon oder Klarinette leider nur schwer hörbar. Die Elektronik blieb drückend überlegen. Für die letzten beiden Stücke holte man sich dann noch MATT HOWDEN auf die Bühne. Zunächst wurde etwas recht gefälliges in der Art von SIEBEN auf Elektronik gespielt, bevor MATT HOWDEN zum Abschluss über ein Stück zu improvisieren schien. In der Kuppelhalle stand danach der Auftritt von TAGC, einer Band aus dem CLOCK DVA Umfeld an. Obwohl TAGC eigentlich eher die Band ist, mit der sich ADI NEWTON die Zeit zwischen den beiden Inkarnationen von CLOCK DVA vertrieben hat. Tatsächlich spielten beide Projekte an dem Abend auch in gleicher Besetzung. Den Besucher erwartete in der Mitte der Kuppelhalle ein Kubus aus weißem Stoff, in dem die Musiker agierten und auf den während des Auftritts von allen Seiten Projektionen zu sehen waren. Der Auftritt begann mit ruhigerer, schwebender Instrumental-Elektronik, während die teils sphärischen Projektionen über den Kubus huschten. Die Musiker waren derweil nur - je nach dem, wie die Lichtverhältnisse waren - schemenhaft zu sehen. Erst gegen Ende des Sets wurde die Darbietung etwas druckvoller, als vermehrt griffige Sequenzen den Sound durchzogen. Ein absolut eindrucksvolles Live-Set hatte man aber nicht gesehen. Eine der Bands, die für dieses Festival bei mir ganz oben auf der Liste standen, war dagegen OWLS, die gleich nach den von uns mutwillig verpassten XABEC spielten. Nach dem absolut herausragenden Album "The Night Stays", das "The Cruellest Month", das neue Album von SOL INVICTUS, mehr als auf die Plätze verweist, konnte man sich auf einen Auftritt des Trios freuen. Vor einer absolut stimmigen Video-Projektion stellten TONY WAKEFORD an der Akustikgitarre, ERLADO BERNOCCHI an der E-Gitarre und LORENZO ESPOSITO FORNASARI an der Elektronik und mit seinen außergewöhnlichen Stimmakrobatiken das Album äußerst überzeugend vor. Während man sich mit "Hide & Seek", das mich beim ersten Hören der Platte an "In Days To Come" vom "In The Rain"-Album erinnerte, noch eher im SOL INVICTUS-typischen Klangkosmos warm machte, folgten gerade vom Titelstück "The Night Stays", aber auch von "God Is Right" absolut druckvolle und mitreißende Versionen. TONY WAKEFORD sang dabei engagiert und kraftvoll wie bei SOL INVICTUS schon lange nicht mehr. Die düsteren, zynischen Texte verlangen aber auch geradezu danach. LORENZO ESPOSITO FORNASARI war mit seiner effektbeladenen und ideenreichen Vocalperformance, die den Gesamtsound öfter aus dem Bereich der Mainstream-Hörkondition herausschob, dabei deutlich mehr als nur eine nette Hintergrundstimme, während die wuchtige Elektronik ordentlich nach vorne drückte. Bei dem Auftritt kann man jedenfalls nur hoffen, dass es in Zukunft weitere Livetermine, aber auch Alben von dieser Kollaboration geben wird. Ebenfalls ein Highlight dieses Abends - und von einigen Fans sehnsüchtig erwartet - begann kurz danach der Auftritt von CLOCK DVA in der Kuppelhalle. Es musste allerdings jedem vor diesem Konzert klar sein, dass man weder einen Industrial/Post-Punk-Gig miterleben würde, der sich am Sound der Frühphase der Band orientiert, noch dass es eine Reunion der zweiten, rein elektronischen Inkarnation von CLOCK DVA mit DEAN DENNIS und ROBERT BAKER geben könnte, wenn man den teils kindischen Kleinkrieg der alten Bandkollegen in den letzten Jahren im Internet verfolgt hat - so blieb nur ADI NEWTON. Das Konzert wurde dann eine Blaupause des TAGC-Sets von vor ein paar Stunden. Der weiße Kubus stand also in der Mitte der Kuppelhalle, in der sich dieselben drei Musiker aufhielten und auf dessen Außenhülle Bilder und Graphiken projeziert wurden. Problematisch war an diesem Auftritt aber letztlich alles, so dass man schon von einer handfesten Enttäuschung sprechen konnte. Der Sound in der Kuppelhalle war matschig und uneinheitlich und ließ jeden Druck vermissen, was bei so einer Art von Musik tödlich ist. Zudem lehnte sich auch der Gesamtsound sehr an den TAGC-Sound an. Wer also unterkühlte Sequenzen, reduzierte, aber harte und staubtrockene Beats und eine aus der digitalen Vorhölle stammende Sprechgesangsstimme erwartete, bekam launige, teils New Age-angehauchte, zumeist instrumentale elektronische Musik, die immerhin hörbar in weiten Teilen live erzeugt wurde. An den meisten Hits spielte man ohnehin vorbei, so dass man das Publikum schier aufblühen sah, als endlich Kracher wie "Fractal 9" oder "Sound Mirror" gespielt wurden. Auch die Projektionen blieben hinter den Erwartungen zurück, hätte man doch mit hochtechnischen Mensch-Maschine-Motiven gerechnet und nicht mit netten Grafikspielereien. Wie so was richtig geht, konnte man am Montag ohnehin beim Kollegen LUSTMORD bestaunen. Am Ende des Konzerts gab es dann wenigstens noch den Überhit "The Hacker", der in der "Hacked"-Version aber auch eher uninspiriert vor sich hintuckerte. Wer wissen will, wie CLOCK DVA mal live geklungen haben, sollte sich also eher an Veröffentlichungen wie die Live-Platte "Transitional Voices" halten. Über Deutschland lacht die Sonne, über Grufties, und solche, die sich dafür halten, zumindest die Leipziger Internet Zeitung: „DIAMANDA GALAS spielt Oper Leipzig halb leer“, titelt diese. Recht hat sie: Während viele interessierte Gäste am Eingang des überfüllten Opernhauses abgewiesen werden, nehmen vor allem auffällig gekleidete Festival-Besucher nach den ersten Tönen der Grande Dame des avantgardistischen Vier-Oktav-Jazz-Goths lautstark reißaus. Der harte Kern erfreut sich an Klassikern wie „You don't know what Love is“, „Gloomy Sunday“, Ferdinand Freiligraths „Der Liebe Dauer“ oder der Jacques Brel-Interpretation „Dans le port d'Amsterdam“. Und ärgert sich über Dummheit, Arroganz und die Unfähigkeit, vor einem Konzertbesuch zumindest mal YouTube und Konsorten zu checken. Samstag Am Samstag war es aufgrund einiger unglücklicher Blockungen recht schwierig, sich für etwas zu entscheiden. Relativ unproblematisch früh am Nachmittag starteten allerdings EMPYRIUM mit ihrem ersten Konzert in ihrer Bandgeschichte überhaupt. Die Kuppelhalle des Pantheons war dann auch mehr als gut gefüllt, als die Band bestehend aus Cellist, Violinistin, Schlagzeuger, Bassist und zwei Gitarristen (NEIGE von ALCEST und EVIGA von DORNENREICH) sowie natürlich ULF THEODOR SCHWADORF an der Gitarre und THOMAS HELM an den Keyboards loslegte. Der Auftritt wurde auch aufgezeichnet, so dass wohl mit einer DVD-Veröffentlichung oder einem Live-Album zu rechnen ist. Ich bin wahrlich kein EMPYRIUM-Experte, und mir ist die Musik auch oft zu pathetisch sowie der Gesang von THOMAS HELM einen Tick zu prätentiös, aber was die Band hier darbot, war musikalisch überwältigend. Bei den hervorragend ausgearbeiteten Stücken passte alles. Die Musiker waren allesamt versiert und leisteten sich kaum Patzer. Die Wechsel von ruhigeren Parts hin zu druckvollen Doublebass-Momenten zeigten einiges an Dynamik. Der Gesang der beiden Protagonisten stand sich teilweise gegenüber, es wurde geraunt, gesungen und gegrowlt. Alles wirkte wie aus einem Guss. Dass die Zuhörerschaft entsprechend begeistert war, muss man angesichts dieser Beschreibung wohl kaum erwähnen. Einer der Höhepunkte war wohl fraglos "Die Schwäne im Schilf", das eine enorme Dynamik und eine fesselnde Erzählweise besitzt, aber auch "Mourners" oder "The Franconian Woods In Winter's Silence" wurden gespielt. Das reguläre Set beendete man schließlich mit "Der Weiher", bevor man ohne groß die Bühne zu verlassen noch zwei Zugaben spielte. Am Abend zog es uns dann ins Heidnische Dorf, um den Auftritt von TONY WAKEFORD dort zu erleben. Leider erwies sich die Mannschaft an der Technik als absolut unfähig, den Auftritt vernünftig zu managen, so dass einzelne Musiker teilweise nicht zu hören waren oder andere Peinlichkeiten ertragen werden mussten. Musiker? Tatsächlich hatte sich TONY WAKEFORD, der mit minimalen Backings agierte, einige Unterstützung organisiert, so dass das Konzert einer Veranstaltung mit Freunden glich. Der ebenfalls beim WGT vertretene ANDREW KING war allerdings nicht dabei, was vielleicht schon auf den jetzt bekannt gewordenen Ausstieg bei SOL INVICTUS hindeutete. Wie TONY WAKEFORD traditionell in den letzten Jahren SOL INVICTUS-Konzerte eröffnet, so begann er auch an diesem Abend mit "Abattoirs Of Love" sein Set. Daran schlossen sich Stücke aus allen Phasen von SOL INVICTUS wie "Eve", "An English Garden" oder "Twa Corbies" an. Bei "Media" enterte der alte SOL-Mitstreiter MATT HOWDEN die Bühne - ebenso wie JOE BUDENHOLZER von BACKWORLD. Die beiden OWLS-Bandkollegen stellten mit TONY zwei Stücke ihres Albums in minimalistischerer Art vor. Und bei "Angels Fall" am Schluss des Sets versammelten sich dann noch einmal alle auf der Bühne. Auch neue Stücke wie "The Cruellest Month" und "The Bad Luck Bird" kamen zu Ehren und zeigten in diesem akustischen Gewand, was man aus den Stücken auf dem Album auch hätte machen können, statt sie so überzuproduzieren. Deutlich überrascht konnte man über das alte DEATH IN JUNE Stück "All Alone In Her Nirvana" sein, das ich von TONY, so weit ich weiß, noch nie live gehört habe. Als Zugabe gab es natürlich noch das immer wieder grandiose "Black Easter". Nach dem Auftritt machten wir uns dann auf den langen Weg in den Anker. Als wir eintrafen, waren MILITIA gerade beim Aufbau, der sich lange hinzog und zum Ergebnis hatte, dass die Band zum ersten Mal in ihrer Geschichte ohne Hintergrundvideoshow spielte, weil die Technik nicht in der Lage war, die Projektion hinzubekommen, und das vor dem Hintergrund, dass gerade die Videoprojektionen wichtig für das Verständnis der aufgeführten Musik von MILITIA sind. Frontmann FRANK B. meisterte die Verzögerungen allerdings mit seinen unterhaltsamen Einwürfen. Schließlich ging es dann doch noch los, und die fünf Männer und eine Frau umfassende Truppe schlug und trommelte wie üblich auf den aus Schrott selbstgebauten Schlagwerken zu düsteren oder bisweilen auch tribalartigen Backings. Trennschleifer wurden für rhythmische Elemente und natürlich für den Schauwert eingesetzt. FRANK B. brüllte dabei seine Parolen oder widmete sich auch mal seinem Didgeridoo. Natürlich wurden dabei vermehrt Stücke des neuen Albums "Power, Propaganda, Production!" eingebaut. Die Show von MILITIA war dabei wie üblich eindringlich, rau und hatte einen schier archaischen Charakter. Als Zugabe holten MILITIA schließlich, inspiriert durch den Auftritt von N.U. UNRUH, das Publikum - samt N.U. UNRUH - auf die Bühne, um die Meute zu ihrem Stück "Maschinenzimmer" Krach erzeugen zu lassen. Der folgende, unkoordinierte Lärm begleitete einen letztendlich noch in die Nacht hinaus. Sonntag Für den Sonntag hatten wir uns entschieden, den Anker zu besuchen, da hier vor allem der Auftritt von BACKWORLD interessierte und man sich die ein oder andere Band ansehen konnte, die einem vielleicht noch nicht so viel sagte. Wir kamen dann allerdings erst an (und hatten CAWATANA und ANDREW KING verpasst), als die Band ORCHIS schon spielte, die relativ langweilige und belanglose Musik von sich gab. Etwas nette Hausmannselektronik, ein schrammelnder Gitarrist und zwei Damen, die sich mit leidlichem Talent durch wenig abwechslungsreiche Lieder sangen. Nun ja. Die folgenden MANI DEUM aus Griechenland wirkten da schon mit Gitarren, Bass, Keyboard und Schlagzeug deutlich schwungvoller und professioneller, obwohl man nicht verbergen konnte, dass man SPIRITUAL FRONT auch schon einmal gehört hatte. Hinzugegeben wurde noch eine Note von südosteuropäischem Verständnis von Neofolk - erkennbar an Harmonien und Gesang. Eine Schwäche war allerdings der fast durchgängig gedoppelte Gesang bzw. Sprechgesang/Gesang, der nicht wirklich überzeugen konnte. Auch bei der Qualität und Griffigkeit in Bezug auf mitreißende Melodien bestand bei den Stücken noch deutlich Luft nach oben. Und wer wissen wollte, warum Neofolk tot ist, brauchte sich nur die nachfolgenden LARRNAKH aus Ungarn mit SÖRÖS GERGÖ von CAWATANA anzuhören. Mehr als totgespieltes Neofolk-Strumming auf der Akustik-Gitarre, mit Cello, Violine und Keyboardklängen nett verklebte Lieder, knödeliger Sprechgesang. Sicher, handwerklich gut umgesetzt und ohne Probleme nett anzuhören, aber viel zu oft gehörte und schon im Plattenschrank stehende Dutzendware ohne jede Ecke und Kante oder den herausragenden Song. Wäre Neofolk schon vor 20 Jahren so langweilig gewesen - aus dem Genre wäre nie etwas geworden. Von den vorgelagert spielenden Bands doch leicht enttäuscht - zumindest wenn das die Zukunft von irgendetwas sein soll -, musste es am Ende dann JOE BUDENHOLZER mit BACKWORLD herausreißen. Leicht irritiert nahm man die beiden an Laptops angeschlossenen Keyboards wahr, aber angesichts der kleinen Europa-Tournee von BACKWORLD war das wahrscheinlich die logistisch am besten durchführbare Variante - auch wenn man sich während des Konzerts doch hier und da einen Bass oder eine Violine gewünscht hätte. Trotzdem war die minimalistische Darbietung des Trios mit JOE BUDENHOLZER an der Akustikgitarre für mich eines der eindrucksvollsten Konzerte des Festivals. Die beiden Keyboarder lieferten schwebende Akkorde, Glocken- oder auch Percussionklänge, während JOE BUDENHOLZER, der sichtlich gealtert schien, im Grunde das Konzert mit seinem Spiel und seinem Gesang trug. Gleich zu Beginn stieg er mit dem Klassiker "Come With Joy" vom Debutalbum "Holy Fire" ein, dem einige Stücke des neuen, recht düsteren und introvertierten Albums "Come The Bells" wie das Titelstück oder "Night Of The Senses" folgten. Aber auch alle Klassiker, die man erhoffen konnte, wie "Heaven’s Gate", "After The Fall", "Pleasure Park" oder vor allem "Leaving The Isles Of The Blest" waren im Set vertreten. JOE BUDENHOLZER trug die Stücke - laufend penibel seine Gitarre stimmend - in seiner ruhigen, charismatischen Art vor, wobei die Sehnsucht, die aus den Liedern spricht, förmlich greifbar war. Zweimal musste JOE BUDENHOLZER für Zugaben auf die Bühne zurückkommen, was er allein tat, um natürlich "Devil’s Plaything" und zuletzt "Come Sunday Morn" vom vorletzten Album "Good Infection" zu spielen. Für meinem Eindruck war dies wie gesagt eines des eindrucksvollsten Konzerte auf diesem WGT und es ist schade, dass man BACKWORLD in unseren Breiten so selten zu Gesicht bekommt. Nach ruhigen Tönen von BACKWORLD zog es viele Gäste vom Anker in die Agra-Halle zu RECOIL. Der Bruch zu Backworld hätte – auf den ersten Blick – nicht größer sein können: Hier ein schüchterner, introvertierter und mit seinem Akustikinstrument hadernder JOE BUDENHOLZER, da das kraftvolle Ego-Paket ALAN WILDER (ex-DEPECHE MODE), der erst zu den letzten Klängen des Intros aus den Händen seines Kompagnons PAUL KENDALL die Bühne betrat, um die Ovationen des Publikums entgegen zu nehmen. Kraftvolle Hintergrundfilme, denen man im Vergleich zu anderen Backings des Festivals ihr hohes Budget zu jeder Sekunde ansah, untermalten magische Klänge Marke „A strange Hour“ oder „Jezebel“. WILDER ist ein alter Show-Hase, der nicht nur gekonnt an den Knöpfen seines Korg-Synthesizers, sondern auch mit den Emotionen des Publikums spielt, indem er immer wieder DEPECHE MODE-Versatzstücke in das Set einbaut. DOUGLAS McCARTHY (NITZER EBB) mimt dazu nicht nur den „Family Man“, sondern auch den „Faithhealer“. Gegen die Müdigkeit kämpfte hier, im Gegensatz zu vielen Mitternachts-Spezials der Vergangenheit, sicherlich niemand an. Groß! Montag Am Montag war schließlich wieder das Pantheon angesagt. Als wir eintrafen, bildeten sich bereits enorme Schlangen, die sich hinterher in die Kuppelhalle ergossen, um dem Auftritt von IN THE NURSERY beizuwohnen. Zunächst standen in der Kantine aber die kanadischen AUN auf der Bühne. Leider ohne Saiteninstrumente angereist, bearbeitete das Duo die mitgebrachten Laptops vor einer unterstützenden Videoshow, die sich teilweise auch auf Elemente ihres Albums "Black Pyramid" bezog, das natürlich auch musikalisch Berücksichtigung fand. Klanglich wusste man jedenfalls mit zupackenden Drones und hin und wieder auch eingestreuten Rhythmen zu begeistern. Der Hauptteil der Besucher im Pantheon war zu dieser Zeit allerdings wegen des bevorstehenden Auftritts von IN THE NURSERY vor Ort, die in der rappelvollen Kuppelhalle eine regelrechte Best-of-Show zeigten. Tapfer und mit bestem Ergebnis gegen den aufgrund der Architektur zum Überhall neigenden Raumklang ankämpfend, brachte die vierköpfige Band jedenfalls einige Energie auf die Bühne. Man hätte vielleicht erwarten können, dass das hervorragende neue Album "Blind Sound" stärker bedacht werden würde, so blieb es aber lediglich bei "Crepuscule" und dem kräftigen "Artisans Of Civilization", was aber sicher auch dem verkürzten Festivalauftritt geschuldet war. Daneben gab es eine Reise zum vorletzten Album "Era" mit "Blueprint" bis zurück zu den Frühphasen der Band mit "Mistery". Der Live-Auftritt war wie immer bei IN THE NURSERY perkussiv und druckvoll und wirkte bei der Umsetzung wie aus einem Guss. Aufgrund des 30-jährigen Bestehens spielte man am Ende schließlich sogar noch das post-punkige "L’Esprit". Zugaben waren wegen des engen Terminplans dann allerdings leider nicht mehr möglich. Zugegeben, ERALDO BERNOCCHI (SIGILLUM S) hat mich im Anschluss nicht so richtig vom Stuhl gerissen. Ruhige bis rhythmische, instrumentale Elektronik auf dem neuesten Stand der Technik unterstützt von einer Videoshow wurde geboten, wobei mit allerlei Effektgeräten gespielt wurde. Mir persönlich war das dann doch alles etwas zu austauschbar, als dass es wirklich einen Eindruck hinterlassen hätte. BRIAN WILLIAMS hatte mit seinem Projekt LUSTMORD im Folgenden mehr Erfolg, was aber in erster Linie daran lag, dass er eine gigantische Videoshow anbot, die in der Kuppelhalle auf eine riesige Leinwand projeziert wurde. Das musikalische Live-Erlebnis hielt sich dagegen doch eher in Grenzen. Den Rahmen bildete "Songs Of Gods And Demons", wobei die Projektionen eine Dualität zum Ausdruck brachten, die den vermeintlichen Gegensatz zusammenführte. Im ersten Teil der Performance wurden animierte Wolkengebilde gezeigt, die tatsächlich räumlich, greifbar wirkten und einem, ob Einbildung oder nicht, Gesichter in den Formen zu zeigen schienen. Dieser Teil endete schließlich mit der Darstellung von stilisierten Blumen und tierischem Leben. Es folgten ebenso animierte Feuerwolken und Flammen. Am Ende wurde in diesem Fall eine undefinierbare metallische Figur gezeigt. Ganz zum Schluss sah man schließlich eine feuerglühende Kugel, die man auch als gerade entstandene Erde deuten könnte, wenn man die Gesamtheit der Performance als dargestellten Schöpfungsakt verstehen möchte. Die Musik passte perfekt zu der hochprofessionell umgesetzten Videoshow, wobei einen die extreme Lautstärke und der heftige Bass schon ordentlich durchrüttelten. Insgesamt aber eine spannende Performance an einem perfekten Ort. Ähnlich wie ERALDO BERNOCCHI schafften es danach auch INADE nicht, mich nachhaltig zu beeindrucken. Zwar setzte das Duo nicht nur auf ein paar Effektgeräte und Laptops, sondern hantierte auch mit Saiteninstrumenten oder man nutzte auch mal das Mikrofon. Letztlich ist diese Art von Musik aber aus meiner Sicht eher etwas für den häuslichen Musikgebrauch. Den Abschluss des diesjährigen WGTs bildete dann für uns der Auftritt von CHRIS & COSEY. Seit ich 1987 zum ersten Mal ein Stück von ihnen gehört habe - das damals neue, aber erz-banale Stück "Exotika", hege ich eine gewisse Skepsis gegen das Duo, das sich auch in späteren Jahren nicht auflöste. Auch hier stand CHRIS CARTER an einem Keyboard, das an ein Laptop angeschlossen war, während COSEY FANNI TUTTI ins Mikrophon hauchte, eine Gitarre bearbeitete oder ins Cornett blies. Geboten wurde moderne, keinesfalls verstaubte elektronische, tanzbare Musik, die man vielleicht auch als "Hot On The Heels Of Love" mit modernen Mitteln bezeichnen könnte. Aus meiner Sicht kein spektakulärer Auftritt, aber dennoch ein würdiger Abschluss für ein Festival, das alles in allem die Erwartungen wieder einmal erfüllt hat.
Tony F. für nonpop.de
Themenbezogene Artikel: » 21. Wave-Gotik-Treffen 2012 (WGT) » PETER MURPHY auf dem 18. WGT » WGT 2007 Bericht III » WGT 2007 Bericht II » WGT 2007 Bericht Themenbezogene Newsmeldungen: » 18. Wave Gotik Treffen in Leipzig
Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln ausschließlich die Meinung des jeweiligen Verfassers bzw. Interviewpartners wieder. Nachdruck (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung durch den Betreiber dieser Seite.
|
bzgl. Diamanda Galas:
ich hatte das Vergnügen, diese Ausnahme-Künstlerin dort zu erleben; und gerade die extremeren Gesangs-Passagen gefielen mir besonders; somit bin ich der festen Überzeugung, genau das richtige Konzert mir für den Freitag ausgesucht zu haben. In der Tat ist es unverständlich, warum sich scheinbar eine ganze Reihe von Leuten nicht vorher mal mit Diamanda Galas beschäftigt haben, und deshalb dann nach den ersten Stücken die Oper verließen (allerdings taten es die meisten wenigstens leise).
Am Samstag war ich dann im Schauspielhaus, wo ich mir einen klassischen Abend gönnte; ich war schon früh dort, so daß ich auch noch die 12 Thüringer Cellisten mitbekam, eine sehr gelungene Vorführung und die richtige Einstimmung auf das folgende: Rosa Rubea, Etheral Dark Orchestra (ein Projekt des Violonisten von Argine) und schließlich Camerata Sforzesca; alle bekamen zurecht stehende Ovationen.
Nach dem "italienischen" Samstag war mein Sonntag "spanischer" Natur: zunächst das tolle Konzert von Narsilion (u.a. mit der Sängerin von Arcana) und dann Trobar de Morte im Schauspielhaus, die mit Violinistin und dafür ohne Keybords das komplette Album "Beyond the woods - the acoustic songs" darbrachten, was in gewisser Weise eine Art "Best of" darstellte - gefiel mir ebenfalls ausgesprochen gut!
Montags war ich dann ebenfalls im Pantheon. Bzgl. In The Nursery möchte ich noch erwähnen, daß sie auch das alte Stück "A to I" gespielt haben, daß zumindest ich noch nie von denen live gehört hatte, eine schöne Überraschung; Chris & Cosey haben mir persönlich auch sehr gut gefallen - und dachte zurück an das Konzert am 21.2.1988 in Aachen im Carlton - lang ist's her ...