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Christian S.

KENNETH ANGER: Puce Moment

Braunroter Moment: USA, 1949


KENNETH ANGER: Puce Moment
Kategorie: Spezial
Wörter: 1259
Erstellt: 25.06.2010
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Um sich das Lebenswerk des 82jährigen KENNETH ANGER vorzustellen, denke man an ein Spinnennetz, das hinter den Hügeln Hollywoods aus unzähligen Fäden zusammenläuft. Bei der Vielfalt der angesammelten, teils noch zappelnden, teils mumifizierten Körper, fällt es nicht leicht, den Überblick zu behalten. Beim Näherkommen erkennt man die Perfektion des konzentrischen Gebildes, in das sich jedes noch so kantige Element harmonisch einfügt. Der interessanteste Ausschnitt des Netzes ist der innerste Kreis, obwohl er auf den ersten Blick am unspektakulärsten erscheint: Spätestens nach dem Collegeabschluss entschied sich ANGER gegen Hollywood und prägte es dennoch mehr als andere, die sich ihm mit Haut und Haar verschrieben hatten. Angesteckt von den Stummfilmschwärmereien seiner Großmutter sammelte er als Kind jeden Artikel über die Traumfabrik. Besonders faszinierten ihn Geschichten über Drogenexzesse und spektakuläre Todesfälle, die im Kontrast zur idealisierten Glitzerwelt noch morbider schienen. Angewidert von der Filmbranche und der Kommunistenhetze zog es ANGER zu Beginn der 50er nach Frankreich, wo bereits sein künftiger Mentor JEAN COCTEAU auf ihn wartete. COCTEAU war von der symbolistischen Vergewaltigungsphantasie "Fireworks" (1947) so begeistert, dass er den exotischen Amerikaner in vielen Projekten unterstützte. Trotz des Aufblühens inmitten der kreativen Pariser Dynamik blickte ANGER weiterhin an den westlichsten Rand der Welt und verfasste die erste Version seines kultigen Gruselarchivs „Hollywood Babylon“. Zynisch kommentierte er die Favoriten seiner Zeitungsartikelsammlung und wurde damit zum Pionier der Klatschpresse.

Auch der Kurzfilm "Puce Moment", ein sechsminütiger Ausschnitt aus dem Alltag einer fiktiven Stummfilmschauspielerin, entstammt ANGERs Liebe zum alten Hollywood. Im Gegensatz zu "Hollywood Babylon" sind hier die tiefen Abgründe durch funkelnde Seide verschleiert und lassen sich darunter nur schemenhaft erkennen. Beschworen wird das Lebensgefühl eines vergangenen Sommernachmittags, ein Traum zwischen ausschweifender Dekadenz und opiatgedämpfter Langeweile. Gespielt wird die Diva von ANGERs Cousine YVONNE MARQUIS, die mit dem schwarzen Lockenkopf und dem runden Gesicht glatt als fleischgewordene Betty Boop durchgehen könnte.
Mit den ersten zwei Minuten erhält man einen besonderen Einblick in ihren Kleiderschrank, dessen üppiger Inhalt in Totalaufnahme vor der Kamera tänzelt. Nacheinander werden die flatternden Abendkleider nach oben gezogen, wobei sie das jeweils Darunterliegende enthüllen.
Letztendlich entscheidet sich MARQUIS für ein schwarzes Seidenkleid mit eingewebten Silberstreifen, das sie sich euphorisch um die Fäuste wickelt. Ihr hysterisches Lachen und das übertriebene Wimpernflattern haben dabei etwas Starres, beinahe Insektenhaftes an sich. Vermutlich bewegte sich die Actrice vor der Kamera in Zeitlupe, um dann wiederum durch den Zeitraffer ein eigenartiges Zittern annehmen zu können. Nachdem ihr das Kleid von Geisterhand übergezogen wird und sie in passende Stöckelschuhe geschlüpft ist, parfümiert sie sich in wundersamen staksigen Posen. Dann gleitet sie auf der treibenden Wohnzimmercouch in einen seichten Mittagsschlaf. Als würde sie aus dem Fenster eines rüttelnden Zugwaggons blicken, huschen unförmige Schattengerüste über ihr Gesicht. Zuletzt findet sie sich auf der Terrasse vor den grünen Hügeln Hollywoods wieder und spannt vier Windhunde für einen Spaziergang an die Leinen.

Eigentlich war ein Langfilm namens "Puce Women" geplant, der schließlich als unzusammenhängende Fragmentsammlung auf den kurzen "Puce Moment" reduziert wurde.
Im Gegensatz zu "Lucifer Rising" (1972) oder "Invocation of my Demon Brother" (1969) spielen bei "Puce Moment" mythische Bezüge und ritualmagische Rekonstruktionen kaum eine Rolle. Vielmehr behandelt der Film eine außergewöhnliche Zeiterscheinung und ihren vorausgesetzten Objektfetisch, ebenfalls ein Faible, das sich durch ANGERS Werk zieht. In "Kustom Kar Kommandos" (1965) und "Scorpio Rising" (1964) werden jugendliche Auto- und Motorradgangmitglieder bei der innigen Begegnung mit ihren motorisierten Götzen gezeigt. Dabei ging es nicht darum, die Objektophilie der Darsteller dokumentarisch festzuhalten, wie es andere Vertreter der amerikanischen Avantgarde getan hätten. ANGER kürte die Jugendbewegungen zu etwas Höherem, indem er ihre Riten als Liebesakte und Gottesdienste inszenierte. Auch bei „Puce Moment“ sind die Fetischgegenstände "Parfüm" und "Kleidung" Metaphern für das Unbekannte, das in der Lage ist, die Schauspielerin in einen narkotischen Rauschzustand zu versetzen. Düstere Ahnungen lassen Erinnerungen an die Schauergeschichten "Hollywood Babylons" wach werden: Widmete ALMA RUBENS nicht ihre letzten Lebensjahre dem Heroin? Wurde VIRGINIA RAPPE nicht im Rausch mit einer Sektflasche zu Tode penetriert?
„I’ve always considered movies evil; the day that cinema was invented was a black day for mankind.“ Dieses Zitat macht ANGERs Einstellung zum Medium Film besonders deutlich: In „Rabbit’s Moon“ (1950) erscheint Satan mit einer Laterna Magica, die den Protagonisten ins Verderben stürzt. Dieses berühmte Motiv geht auf die Ursprünge des Kinos, auf Magier wie GEORGES MÉLIÈS und SEGUNDO DE CHOMÓN, zurück. Bereits in diesen trickbeladenen Urfilmen ist der Belzebub als gefährlicher Illusionist eine immer wiederkehrende Figur. Im herrlichen Buch „The Satanic Screen“ (des hier wohlbekannten satanischen Schwiegersohns NIKOLAS SCHRECK) wird sich sehr ausführlich mit diesem Phänomen beschäftigt.

Jedes noch so unauffällige Detail kann bei ANGER eine wichtige Schlüsselfunktion besitzen. Wenn man bedenkt, dass "rosa" und "hellblau" in "Kustom Kar Kommandos", laut ANGER den Farben des Krebses entsprechen und den Konflikt des Metalls und des Fleisches hervorheben sollen, bietet "Puce Moment" allein durch seine Farbpalette eine unerschöpfliche Interpretationsfläche. So ist es sicher kein Zufall, dass sich die Stummfilmschauspielerin von all den bunten Abendkleidern für ein Schwarzes, einen stilisierten Nachthimmel, entscheidet.
Das hyperkolorierte 16mm-Material bewirkt bei den gefilmten Gegenständen ein inneres Leuchten, vergleichbar mit den Lichtbrechungen in Edelsteinen. Verstärkt wird diese Optik durch für Anger typische Kunstgriffe wie das erwähnte Zittern. MARQUIS statische Körperhaltung erinnert beim Einparfümieren stark an FRANZ VON STUCKs „Salome“ und wird durch eine Unschärfe des Bildes unterstrichen. ANGERs Verhältnis zu Farbe ist sehr intensiv, was auch bei seinen späten Filmen „The Man We Want to Hang“ (2002) und „Brush of Baphomet“ (2009) deutlich wird, in denen er CROWLEYs Ölbilder weihevoll mit der Kamera abtastet. Luzifer, der „Patron des Künstlers, des Lichtes und der Farbe“, wie ihn ANGER nennt, ist hier in jeder Aufnahme präsent.

„Puce Moment“ ist ANGERs femininstes Werk und steht im extremen Gegensatz zum aggressiv maskulinen Vorgänger „Fireworks“. In einem Interview bezeichnete er den Film als „die heterosexuelle Liebeserklärung an die Stummfilmschauspielerinnen seiner Kindheit" und sogar als deren „Geisterbeschwörung“.
Doch das Feminine zeigt sich auch woanders:
Zwei wichtige amerikanische Avantgardistinnen kann man, der eindeutigen Bildzitate wegen, nicht als Inspiration für „Puce Moment“ leugnen. Die Gemälde der Surrealistin FLORINE STETTHEIMER zeigen meist Frauen, die Nickerchen auf roten Samtkanapees halten und sich dabei die umliegende Landschaft erträumen. Auch MAYA DERENs berühmter Kurzfilm „Meshes of the Afternoon“ erzählte bereits sechs Jahre vor „Puce Moment“ von mysteriösen Zeitverschiebungen zwischen den Hügeln Hollywoods.

1966 lösten zwei Songs des kaum bekannten Musikers JONATHAN HALPER die eigentliche Begleitmusik, eine Verdioper, ab und rückten den Film vor allem durch die Texte in einen neuen Kontext. "I am A Hermit" und "Leaving My Old Life Behind" sind psychedelische Folkrocklieder, die man mit SIMON FINN und PEARLS BEFORE SWINE vergleichen kann und die für den amerikanischen "Prä-Woodstockfolk" äußerst modern klingen. Bereits die Songtitel unterstreichen ANGERs Rolle des, "in der Gegenwart isolierten Nostalgikers", wie er im Filmbuch „Moonchild“ treffend bezeichnet wird.
Verwunderlich ist, dass über HALPER fast keine Informationen im Internet zu finden sind. Lediglich eine Myspaceseite und einige Foreneinträge sind seinen zwei Liedern gewidmet.

Man kann von Glück sprechen, dass der Film zu jenen gehört, die ANGER der Öffentlichkeit zugänglich machte. Heute kann man ihn sogar als Teil einer Sammlerbox bestellen oder ihn auf Youtube bewundern. Dennoch ist der Einfluss dieses kleinen Moments auf die Ästhetik nachfolgender Filme unterschätzt. Ich bin mir sicher, dass es ein „Blue Velvet“ ohne diese sechs Minuten nicht gegeben hätte.


 
Christian S. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Puce Moment in annehmbarer Qualität


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