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Tony F.

ATTRITION - eine Werkschau


ATTRITION - eine Werkschau
Kategorie: Spezial
Wörter: 2145
Erstellt: 27.12.2008
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ATTRITION ist eine Band aus dem britischen Coventry, die irgendwie immer etwas zwischen allen Stühlen saß. Das Projekt von MARTIN BOWES wurde nämlich bislang mit den unterschiedlichsten Musikstilen wie Post-Industrial, EBM, Heavenly Voices, Dark Wave bis hin zum Ambient in Verbindung gebracht. Tatsächlich ist diese Bandbreite zum einen der Tatsache geschuldet, dass sich die 1980 gegründete Band seitdem schlicht immer weiter entwickelt hat, und zum anderen ließ sich ATTRITION nie in ein starres Konzept zwängen, sodass die Alben durchaus recht unterschiedlich klingen können, wobei man von einer songorientierten Hauptlinie und einer eher experimentellen Nebenlinie sprechen kann.

Auslöser für dieses Spezial war allerdings keine Neuerscheinung sondern die Wiederveröffentlichung zweier Alben, die man gut und gerne als Klammer im Schaffen der Band sehen kann. Zum einen handelt es sich um das erste, mit einem vernünftigen Budget aufgenommene Album „Smiling, at the Hypogonder Club“ von 1985 und zum anderen um das kommerziell recht erfolgreiche Album „The Jeopardy Maze“ von 1999. Natürlich wurde MARTIN BOWES auch gebeten, zu der einen oder anderen Frage Stellung zu beziehen.


Um sich ATTRITION ernsthaft nähern zu können, muss man allerdings noch etwas weiter in der Zeit zurückgehen. MARTIN BOWES tauchte zum ersten Mal 1979 in der englischen Musikszene auf, als er begann das Fanzine „Alternative Sounds“ zu veröffentlichen. Dieses Fanzine erschien bis 1981, und es wurde sogar eine Compilation zusammengestellt, die auf dem Kult-Label CHERRY RED RECORDS (u.a. DEAD KENNEDYS) veröffentlicht wurde. Im Jahr 1980 kommmt es schließlich zur Gründung von ATTRITION, als MARTIN BOWES in einem Club JULIA NIBLOCK (später WALLER) kennenlernt. Das ist insbesondere deshalb erwähnenswert, weil JULIA als Sängerin eine relativ konstante Größe im Bandgefüge von ATTRITION darstellt, das außer MARTIN BOWES eigentlich sonst seit jeher nur aus häufig wechselnden Musikern besteht. Spielte die Band zu Beginn noch in einer typischen Post-Punk Besetzung, so hielt 1981 endgültig die Technologie mit Synthesizern und Drum-Machines Einzug. Dazu MARTIN BOWES:

„Nun, als wir begannen haben wir uns eigentlich keine rechten Gedanken zur Instrumentierung gemacht. Wir experimentierten mit Maschinen, mit denen wir Geräusche erzeugten und nutzten Tape-Recorder für Effekte. Teilweise gebrauchten wir auch Instrumente. Ich hatte eine Weile eine Gitarre, obwohl ich sie nicht richtig spielte. Für gewöhnlich kratzte ich mit einem Ziegelstein über die Saiten und schleuste das dann durch verschiedene Delays. Dann spielte JULIA den Bass und ein Schlagzeuger stieg ein. Folglich traten wir bei den ersten Shows tatsächlich fast in einem traditionellen Band-Line-Up auf. Aber dann tauchten diese Maschinen, die man Synthesizer nennt, auf und sie wurden so billig, dass wir 1981 einen kauften – einen KORG MS-20, den ich heute immer noch benutze. Schließlich war unser Schlagzeuger im Urlaub, als ein Gig anstand, so dass ich mir eine Drum-Machine lieh – eine frühe, nicht programmierbare – und wir waren infiziert. DAS war der Weg, um neue und interessante, aufregende Musik zu machen. Und so ging es von da an weiter. Natürlich ließen wir unseren Hintergrund, der auf „realen“ Instrumenten basierte, niemals komplett hinter uns. Wir haben ihn immer eingearbeitet.“

In den nächsten Jahren nimmt man erste Cassetten auf, die teils dem Ambient zuzuordnen sind und teils einer künstlerisch experimentellen Linie folgen, und spielt einige Shows. 1983 stellen sich dann erste Erfolge ein. Man spielt den ersten London-Gig mit COIL und landet auf einem Vinyl-Sampler – zusammen mit Bands wie NURSE WITH WOUND, COIL oder PORTION CONTROL. 

„Die Musiker hinter COIL kannten wir nicht. Der Londoner Promoter buchte uns für unsere erste Show 1983 in London im Reccession Club in Hackney. Er buchte mit COIL einen unbekannten Support-Act dazu – zu dieser Zeit war das nur JOHN BALANCE Solo. Somit war es eine recht spezielle Show. Ich kann mich gut daran erinnern …unter ein paar Eisenbahnüberführungen. Eine Menge von den alten Industrial-Untergrund-Leuten waren da, von Magazinen, Labels und Bands.“

Richtig los geht es dann aber 1984, als eine Split-Single veröffentlicht wird, man die erste Tour in Kontinentaleuropa zusammen mit den THE LEGENDARY PINK DOTS spielt und nach London zieht, wo man mit den THE LEGENDARY PINK DOTS zusammen wohnt und ein Studio teilt. Das erste Album „The Attrition Of Reson“ wird veröffentlicht und es folgt sogar noch eine E.P.

“Zum ersten Mal haben wir EDWARD KA-SPEL 1983 auf dem UK Electronica Festival in Milton Keynes getroffen. An diesem Tag haben wir dort auch GARY LEVERMORE von Third Mind Records und CHRIS ´N COSEY, die dort an diesem Tag noch gespielt haben, getroffen. Ich blieb mit ED in Kontakt, weil ich die DOTS-Musik sehr mochte. Anfang 1984 fragte ich ED, ob er irgendwelche Kontakte hätte, um Gigs in Europa zu bekommen. Zu der Zeit hatten wir dort noch nicht gespielt und sie hatten dort bereits einige Touren absolviert. Er fragte uns, ob wir im April des Jahres nicht mit ihnen durch Holland und die Schweiz touren wollten. Natürlich haben wir das gemacht. Tatsächlich gibt es sogar ein Live-Album von dieser Tour. Nach dieser Tour waren wir mit allen gut befreundet, so dass wir uns entschieden haben, Coventry zu verlassen und nach London zu ziehen, wo die Sache für Industrial-Musik gut zu laufen schien. Also zogen wir in einige Häuser, die wir uns mit den PINK DOTS teilten. JULIA begann mit PHIL SILVERMAN auszugehen, worauf sie ATTRITION für ungefähr ein Jahr verließ, um bei den DOTS als Bassistin einzusteigen. Später trennten PHIL und sie sich wieder, sodass sie zu ATTRITION zurückkehrte. Aber in der Zwischenzeit hatte ATTRITION bereits mit meiner neuen Freundin MARIANNE als Sängerin weitergearbeitet, was schließlich im „Smiling, at the Hypogonder Club“-Album resultierte.“ 


Smiling, at the Hypogonder Club


Das Album ist, wie bereits erwähnt, das erste, welches in einem ordentlichen Studio aufgenommen wird, sodass der Sprung zu dem noch recht rauen und ursprünglichen Industrial-Klang des Debüts offensichtlich ist, was allerdings auch zur Folge hat, dass ein gewisser Charme verlustig geht. Der Sound der Platte ist eigentlich typisch für das, was man zu der Zeit aus dem elektronischen Untergrund von der Insel so gewohnt ist. Vielleicht kann man vom Geist her CABARET VOLTAIRE zu der Zeit – also Mitte der 80er – als Vergleich heranziehen, obwohl ATTRITION etwas extravaganter erscheinen. Das Klangbild ist aus heutiger Sicht also eigentlich recht poppig aber auch herrlich verschroben. Die recht organisch anmutende Elektronik ist dominierend, wenn auch durchgängig an den Post-Punk erinnernde Bässe, gespielt von PETE MORRIS, der auch später an PSYCHIC TVs „Jack The Tab“-Serie mitwirkte, auftauchen. Die Elemente, die die Musik von ATTRITION in den nächsten Jahren definieren werden, sind ebenfalls bereits vorhanden wie der männliche und weibliche Gesang oder typische Sequenzen wie gleich im Eröffnungsstück „Look Out! Hedonist“.

Die Bandbreite der Stücke reicht eigentlich über die poppigeren „The Game Is Up“ oder „Feel The Backlash“ über das ruhig, dark-wavige „Fusillade Part 1“ bis hin zum recht druckvollen „Fusillade Part 2“, dessen wuchtiger Bass wie von einer REVOLTING COCKS-Platte entsprungen klingt. Langeweile kommt aufgrund des Facettenreichtums und der vielen guten Ideen eigentlich nicht auf.

Als Dreingabe gibt es auf dieser CD-Version dann noch die „Shrinkwrap“-Single sowie „Fusillade Part 3“, die sich nahtlos in das Klangbild einpassen.

Auf die Frage, ob dieses Album aufgrund des höheren Budgets als erstes wirkliches Album von ATTRITION zu sehen ist, antwortet MARTIN:

„Nein, es ist einfach nur das zweite Album. Das erste Album „The Attrition Of Reason“ wurde auf einem 4-Spur-Gerät aufgenommen und ich denke immer noch, dass es auch heute noch etwas vorstellt. Es ist nicht so professionell und glatt, aber es hat viel Gefühl und Seele, was letztlich durchscheint. Ich mag beide Alben… aber aus verschiedenen Gründen.“ 

...

Das 1988 auf dem belgischen ANTLER-Label erschienene „At The Fiftieth Gate“-Album dokumentiert den Weg der Band in Richtung des damaligen belgischen Elektrosounds, der zu der Zeit aus Ermangelung anderer vernünftiger Begriffe umfassend mit dem Etikett EBM versehen wurde. Heute versteht man unter EBM öfter etwas anderes, obwohl man damals Bands von FRONT 242 über À; GRUMH…, A SPLIT SECOND bis hin zu THE KLINIK darunter einordnete. Da JULIA pausierte, fehlt auf diesem Album der weibliche Gesang völlig. Dafür tauchen neben der nun kühleren und trockeneren Elektronik Gitarren auf.

Richtig elektronisch-knackig fällt dann allerdings das 1991er Meisterwerk „A Tricky Business“ aus. MARTIN BOWES ist endgültig bei seinem bis heute gepflegten tiefen, raunenden Gesang angelangt, der nun in der wieder integrierten weiblichen Stimme einen interessanten Kontrast findet. Neben echten Knallern mit dominierenden staubtrockenen Basssequenzen wie der Single „Thin Red Line“, „Scenario“ oder dem druckvollen „The Rising Tide“ werden aber auch ruhige, balladeske Töne angeschlagen. Das als Heavenly Voices einordbare „A Girl Called Harmony“ wird ebenfalls ein Hit und auch das eher neoklassisch, orchestral angehauchte “Legitimate Son” ist ein Höhepunkt des Album.

“Nun, dieses Album war tatsächlich das erste, das ich so gut wie alleine geschrieben habe, wobei das Aufkommen der Computer sehr geholfen hat, sodass dieses Album einen Wechsel des Stils darstellte. Tatsächlich dauerte diese Wechselhaftigkeit eine Weile an, da ich mit neuen Ideen experimentierte. Es war nicht so, dass ich jeden Stil ausprobierte… wie immer folgte ich nur meinen Herzen und schrieb das, was ich schreiben musste… und Begriffe wie „Heavenly voices“ kamen nach dieser Periode überhaupt erst auf.“

Die 90er Jahre verlaufen musikalisch eher zweigeteilt. Auf der einen Seite erscheinen typische ATTRITION-Alben wie „The Hidden Agenda“ oder „Three Arms And A Dead Cert“, die wieder den einen oder anderen Hit bereithalten, wohingegen auf der anderen Seite auch Soundtrack- oder klassische Arbeiten wie „Ephemera“ oder „Etude“ erscheinen. 


The Jeopardy Maze

Dieses Album beschließt die Entwicklung der 90er Jahre eigentlich vortrefflich. Es berücksichtigt die Abschwächung des musikalischen Härtegrades hin zu zurückhaltender, akzentuierter, moderner Elektronik. Zudem ist auch die Viola klanglich präsent, die mit den letzten Alben Einzug in das Klangbild gefunden hat. Der musikalische Ausdruck ist in der Basis wie gewohnt eher kühl und trocken, wobei diese Linie immer wieder durch den weiblichen Gesang und eben die eingesetzte Viola aufgebrochen wird und dadurch menschlicher wirkt. Insgesamt fällt „The Jeopardy Maze“ gewissermaßen zweigeteilt aus. Einerseits besteht die Platte aus typischen ATTRITION-Songs wie „Atomizer (Custom Mother)“ oder „I Am A Thief“, andererseits wird gerade in der zweiten Hälfte aber auch der Soundtrack/Ambient-Liebe gefrönt. Aus meiner Sicht fehlen dem Album aber dann doch die griffigen Hits früherer Platten, was „The Jeopardy Maze“ in meiner Favoritenliste doch eher ins Mittelfeld rücken lässt.

Wer sich ohnehin schon fragt, ob angesichts der Beschreibungen der Musik eine Nähe zu einer Band wie DIE FORM besteht, dem sei gesagt, dass man eine solche auf den ATTRITION-Alben der 90er Jahre durchaus feststellen kann. Der teilweise etwas theatralische weibliche Gesang, die mit Technoanleihen spielenden Soundstrukturen und nicht zuletzt die Cover-Gestaltung lassen einen gewissen Vergleich ohne Frage zu.

Die Neuauflage des Albums beinhaltet mit „Infant Joy“ ein zusätzliches Stück, welches aber doch recht unauffällig ausfällt. Interessant ist vielleicht noch, dass man gerade bei der Wiederveröffentlichung einen Titeldreher auf dem Cover produziert hat. 

...

Das neue Jahrtausend beginnt für ATTRITION zunächst eher beschaulich. Nach einigen Compilations und Raritätensammlungen kommt erst 2004 mit „Dante's Kitchen“ wieder ein reguläres Album heraus, das an „The Jeopardy Maze“ musikalisch anschließt, aber im Gegensatz zu diesem nicht so instrumental ausfällt. Ein eigenes Label namens TWO GODS wird 2006 gegründet und 2008 erblickt schließlich die Konzeptarbeit „All Mine Enemy's Whispers – The Story Of Mary Ann Cotton“ – also die Geschichte über die britische Massenmörderin des 19. Jahrhunderts das Licht der Welt.

“Also da gab es immer diese Familiengeschichte über diese viktorianische Serienkillerin MARY ANN COTTON. Sie vergiftete über zwanzig ihrer eigenen Kinder und Ehemänner und wurde schließlich 1873 gefasst und gehängt. Sie wurde von einem Vorfahren von mir verhaftet, einem Polizei-Sergeant TOM MCCUTCHEON, der in den Besitz von MARY ANNs Nähkasten kam, der dann in meiner Familie weitergegeben wurde. Ich war von dieser Geschichte immer fasziniert, sodass ich vor ein paar Jahren zu dem Schluss kam, ein Album darüber zu machen. Sie ist relativ unbekannt und ich wollte die Geschichte in einer sehr emotionalen Art darstellen – als einen düsteren Ambient-Soundtrack. Ich habe „All Mine Enemy's Whispers – The Story Of Mary Ann Cotton“ Anfang dieses Jahres veröffentlicht. Interessanterweise ist das Album als Soundtrack für eine Dokumentation über MARY ANN COTTON benutzt worden, die erst kürzlich im britischen Fernsehen lief.“

Und was haben wir in Zukunft von ATTRITION zu erwarten?

„Einiges Altes und einiges Neues. Es ist immer viel zu tun… immer irgendwas zu tun. Ich veröffentliche unseren Backkatalog auf unserem eigenen TWO GODS-Label wieder – inklusive einigem raren und unveröffentlichtem Material. Und gleichzeitig schreibe ich mit meiner neuen ATTRITION-Partnerin SIN D’RELLA ein neues Album, während wir regelmäßig in Europa und in den USA touren werden. Erwarte also noch mehr von ATTRITION. Und dann sind da noch meine Produktions- und Masteringaktivitäten und SIN's Band IMPRINT, für die ich nun live die Synthesizer bediene. Wir sind glücklich…“


 
Tony F. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Attrition-Homepage
» Attrition-myspace-Seite
» Imprint-Myspace-Seite

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