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BERLIN BRUIT 2008

SUTCLIFFE JUGEND, WERKBUND, COLUMN ONE ...


BERLIN BRUIT 2008
Kategorie: Spezial
Wörter: 1875
Erstellt: 23.10.2008
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Etwas zerknautscht kam ich bei der Jannowitzbrücke an. Ich hatte wenig geschlafen, da ich mir am Tag zuvor ein paar mäßige Aufwärmkonzerte gegeben hatte. Neben dem Eingang befindet sich ein Lidl und davor standen einige Typen mit GO- und Sloganshirts. Hier in der Nähe musste es also sein. Ich streckte mich noch mal und begab mich in das Bahnhofsgebäude. Ich war lose verabredet mit einer Dame, die extra aus Malaysia anreiste, um WERKBUND zu sehen. (Das nenne ich mal Konzerttourismus.) Tatsächlich lief sie auch schon ungeduldig vor dem Bäcker auf und ab. Hatte ich mich verspätet? Wir begrüßten uns und loteten die Lage aus. Wenn man das Gebäude durchquert, kommt man zur Spree, und links neben dem Eingang befindet sich das Eingangstor zur "Music Hall". Das war also der Veranstaltungsort. Einlass wurde noch nicht gemacht. Man sonnte sich oder stellte sich in den Schatten, schaute gelangweilt aus der Wäsche und wartete. Yin, die Dame aus Malaysia, und ich begaben uns zum Lidl. Zeit für ein erstes Bier. Ich war erst ein paar Minuten da und schon traf ich die ersten Vorbereitungen für eine klassische Tragödie. Prost!
Wir liefen gemeinsam auf und ab, und schließlich entschieden wir uns, vor dem Bahnhof zu sitzen. Wenn alle Leute panisch zum Einlass hechten würden, wäre es ein gutes Anzeichen, dass man die Räumlichkeiten der "Music Hall" betreten könnte. Ein weiteres bekanntes Gesicht – nennen wir ihn Tim – kreuzte mein Gesichtsfeld. Wir gaben uns die Hände und beschlossen teils getrennt, teils zusammen zu warten. Ich schaute mich um. Wagen säuselten im Leerlauf vor der Ampel, einige potenzielle Konzertbesucher betraten und verließen den Lidl. Andere Richtung. Die Spree plätscherte, man sonnte sich immer noch oder stellte sich in den Schatten. Ich diskutierte mit Yin die letzten Veröffentlichungen von WERKBUND an, dass Chemnitz eine tote Stadt sei, das allgemeine Befinden, ob SUTCLIFFE JUGEND gut sein würden. Es dürfte 19.00 Uhr gewesen sein, als die Tore geöffnet wurden. Groteskerweise hatten alle Besucher, die eine Karte vorbestellt hatten, das Pech, sich in eine lange Schlange stellen zu müssen, während Besucher ohne Karte innerhalb von zwei Minuten ihr Ticket und ihr Bändchen erwarben. Da ich zu den Leuten gehörte, die eine Karte reserviert hatten, wartete ich. Während des Wartens traf ich NONPOP-Redakteur Roy L. Wir wechselten ein paar Worte, stellten fest, dass er auch Yin kennt (Mademoiselle macht die Runde.), tauschten Erwartungshaltungen bezüglich der Konzerte aus.
Vor der Kasse angekommen, löste ich meine Karte ein, erhielt ein rosa (?!) Bändchen und bildete mir einen ersten Eindruck von den Räumlichkeiten. Im Eingangsraum befanden sich einige Sessel und eine kleine Bar, anschließend folgte ein Raum mit einer großen Bar und einer kleinen Tanzfläche und danach kam schließlich der Veranstaltungsraum. (Ja, an der linken Seite befindet sich auch eine Bar.) Dort fraternisierten Kabel, Boxen und Tontechniker. Ich rieb mir die Hände und begab mich zum Eingangsraum zurück. Dort traf ich einen Bekannten aus München, seine weibliche Begleitung (auch Redakteurin bei NONPOP) und seine Schwester. Es hieß jetzt erstmal ein Bier trinken, eine Zigarette rauchen und auf einen angenehmen Abend anstoßen.
Das Publikum war erwartungsgemäß recht homogen, das Rauchverbot hatte leider in der Lokalität Einzug gehalten, die Bierauswahl war ok. Der Vorraum und die angrenzende Spreepromenade leerten sich, weit hinten hörte ich etwas. Im Veranstaltungsraum stand ich dann idyllisch gespannt – Blick Richtung Bühne – WERKBUND traten auf. Ich sah jemanden auf dem Bretterboden und hörte eine Rede aus den Lautsprechern. Gleich musste es losgehen. Gleich. Jetzt wäre gut. Leider dauerte die Rede eine gefühlte Ewigkeit und die Krümmung zur Musik war nicht berauschend (im wahrsten Sinne des Wortes). Indigniert verließ ich mit gesenktem Kopf den Veranstaltungsraum und begab mich zur Bar. Von WERKBUND war ich persönlich sehr enttäuscht, es kam mir einfach lustlos und gelangweilt vor. Ich gestehe, dass ich den Inhalt der Rede nicht verfolgte, vielleicht ließe sich daraus der doch sehr mäßige Auftritt schlussfolgern, die Enttäuschung bleibt aber.
Als ich nicht umhin kam, die sanitäre Einrichtung zu benutzen, fiel mir eine echte Kuriosität auf. Anstatt eines weißen Plastikkastens, reichte mir ein Mann im weißen Kittel die Papierhandtücher. Also, ich habe ja solche Männer und Frauen schon desöfteren gesehen, aber mir war neu, dass sie einem sogar die Utensilien zum Händeabtrocknen reichen. Wie unvorteilhaft muss erst das Durchschnittspublikum dieses Clubs beschaffen sein, wenn man einen weißen Plastikkasten mit einem Mann in weiß saniert?
Z´EV begannen. Nicht wenige haben wohl sanguinisches, rösches Sandpapier-Gerumpel erwartet, dass profund Pression, Präzision pomadig plombiert. Denkste! Popelig, pointiert, possenhaft powern Paarreimstrukturen paradiesisch parzelliert, ohne dabei den Plafond phantasielos, putzsüchtig zu pflügen. Kein orgiastischer Wall of Sound, dafür eine ansprechende Dynamik innerhalb des Sets. Nichts wirkte spontan, dafür geschah auch nichts unkontrolliert. Jeder Schlag wurde von einem Kalkül beherrscht und das Gesamthörbare von einem tänzerischen Seitenthema untermauert. Ich empfand es als gelungen jedoch unspektakulär. Normalerweise verzichtet Z´EV bei seinen Konzerten auf Mikrofone zum Verstärken der Ausgangssignale. Nichts darf bei ihm den Klang verfälschen, es sei denn, er will es. Dieses Mal entschloss er sich dazu. Vielleicht erklärt das den leicht unangenehmen Beigeschmack, den sein Set hinterließ.
Ein weiteres Bier. Ich unterhielt mich über das Konzert und die Meinungen gingen (wie bei übrigens fast allen Acts) weit auseinander. Satzfetzen könnten lauten: "Das letzte Konzert war besser. Einfach stimmig. Hier war es so konzentriert. Ach ich weiß nicht." Oder: "Endlich mal was Anderes. Man dachte ja schon, dass er sich nur selbst kopieren würde." Ich hatte ein wenig Hunger, doch der Grill war noch im Aufbau begriffen. Für die Tankstelle hätte ich Treppen steigen müssen, also nippte ich weiter an meinem Getränk. Inkommodierende Langeweile setzte ein. Erschrocken und leicht irritiert informierte mich ein körniger Flyer über eine gleichzeitig stattfindende "And One"-Party. Das erklärte die schlechte Musik, die außerhalb des Veranstaltungsraumes erklang und diesen nicht sonderlich konziliant konvergierte. Ich entschloss mich, doch die Treppen hochzusteigen. Das Bild vor der Tankstelle glich einer Synode. Schlangestehen milderte die Langeweile ein wenig.
Ein Schokoriegel und – Tamtam – COLUMN ONE – begannen. Die Visuals zeigten einen U-Bahnbogen irgendwo zwischen "Schönhauser Allee" und "Eberswalder Straße". Die Musik war eigentlich Begleitwerk. Ein Sprachfetzen wurde beschleunigt und der Inhalt verschwand. Ein wenig Rauschen, ein bisschen Fläche. Die Performance von COLUMNE ONE war wie immer vollkommen abweichend von der letzten. Diesmal waren es rote Kapuzen und der Versuch, ein Baumhaus huckepack aufzubauen. Irgendwo zwischen ROGER CORMAN und MARK TWAIN flog man tatsächlich, aber mit einiger Symbolkraft auf die Fresse. Herrlich! COLUMN ONE haben gegenüber etlichen ihrer Kollegen einen enormen Vorteil: Humor. Ihre Performance war ein gelungenes Stück Kabarett auf das Erbauen von Luftschlössern, ehrlichem Stein und dem Weg vom Einen zum Anderen.
Wieder draußen, Blick auf den Grill. Ich paffte durch die Lunge gefilterten Tabakdampf in die Luft und näherte mich diesem anmutsarmen Stück Rost. Dem Grillmeister war die Inkompetenz ins Gesicht geschrieben, doch meine Neugier war zu groß, sodass ich mich zu einer Bratwurst entschloss. Ich bedauerte es. Ich bedauerte es sehr. Es war mit Abstand, aber wirklich mit Abstand, das schlechteste Stück Grillgut, das ich seit Jahren gegessen habe. Einige Zeit später sprach die Polizei mit dem Grillmeister. Ich ahnte Furchtbares, schlecht wurde mir jedoch nicht.
LAST DOMINION LOST – ein Bekannter von mir meinte sinngemäß: "Die klingen immer noch wie ein paar 16jährige, die ihren Eltern das Equipment geklaut haben." Und genau da ist die Trennlinie, an der die einen sagen werden: "Ja super!" Und die Anderen: "Muss das denn anno 2008 noch sein?". Sicherlich, der Sound ist überholt, veraltet und irgendwie ist es nur bedingt prickelnd, Opas beim Noisezieren zu folgen. Manche meinten auch, dass GRAEME RAVELL fehle. Nun gut. GRAEME RAVELL fehlt uns allen, aber er wird wahrscheinlich auf die Bretter, die die Welt bedeuten, in der Art und Weise, wie wir es uns wünschen, nicht mehr zurückkehren. Also zurück zum Konzert. Die Visuals waren klasse. Einprägsam, hypnotisch, man musste sich schon von ihnen losreißen, und dann fiel der Blick sofort auf JOHN MURPHY – und hier können viele der Post(beamten)-Industrial-Acts dieser Welt noch was lernen: JOHN MURPHY stand sich nicht die Beine in den Bauch und versuchte möglichst grimmig zu kucken. Ein paar Pedale wurden gelaunt bedient, einige Trommelschläge verteilt. Ruppig, schnörkellos, bauchig, SPKesk. Schweinerock mit anderen Mitteln – irgendwo zwischen kurzer Hose/Holzgewehrromantik und Straßenpredigern, nicht besonders originell, geistreich oder schön, aber es passte und für das verwendete Equipment war es atmosphärisch dicht. Ich glaube, es wurden keine Hintergrund-CDs verwendet, was die Qualität der Musik in meinen Augen verbesserte. Wenn man sich darauf einließ, konnte man Spaß haben.
Ich verließ den Konzertraum. Die "And One"-Party war im vollen Gange. Bum Bum Bum Bum!!! Aaargghhh!!! Frische Luft. Der Grillmeister stand verunsichert hinter seiner Ware und schwitzte. Ich schaute auf die Spree. Ein Schiff plätscherte entlang. Hampelmänner hampelten zu Techno und winkten. Jetzt musste ich mir die Füße vertreten. An der Tankstelle erwarb ich ein Bier, passierte die ersten Partyleichen vor dem Lidl und traf auf bekannte Gesichter. nEGAPADRES 3.3.47 unterbrachen ein gutes Gespräch und dafür war ich ihnen nicht dankbar. Ich schaute mir das Elend etwa drei Minuten an. Ein Freund von mir meinte: "Kuck mal die kuscheln mit toten Tieren." Na fein. Das haben MAYHEM schon 15 Jahre früher getan und sie kuschelten besser. Die Musik war einfach imbezil und langweilig. Ich konnte da wirklich nichts Gutes entdecken. Ich nutzte also den vollen Konzertraum, um meine Platte zu erwerben und verstaute sie dann im Kofferraum eines Kumpels.
Als ich in den Konzertraum zurückkam, herrschte Stille. nEGAPADRES 3.3.47 waren verschwunden. Ebenso ihre Ersatz-Teddys. Es war ruhig, trotzdem empfand ich die Stimmung als recht angespannt. Der Plattenstand vereinsamte zunehmend. Klatschen und erstes Gröhlen setzten ein. Zwei Typen der Marke Alt-Hool betraten die Bühne. SUTCLIFFE JUGEND legten los. Der starke, naive Glaube an ihre Musik konnte das Publikum mitreißen und verdammt, sie rockten einfach. Die Luft wurde während des Konzerts immer dünner, und ich wollte nur kurz frische Luft schnappen, als ein Bekannter herausstürmte und meinte: "Ey komm wieder rein. Vor der Bühne prügeln sich 15 fette Kinder." Ich eilte und trotzdem verpasste ich das Geschehen. Gutes Konzert!! Neben COLUMN ONE waren SUTCLIFFE JUGEND definitiv der Höhepunkt des Abends.
Das war also die Berlin Bruit 2008. Anschließend wollte ich noch zu einer Breakcore-Party, aber die Müdigkeit leitete mich in mein Bett. Tage später hörte ich mir die Berlin Bruit-Platte an, und sie sieht nicht nur gut aus, sie hört sich auch gut an. Einige Acts enttäuschten live. WERKBUND sind mit intimen Konzerten in kleinen Locations glaube ich besser bedient. Der Charme ihrer Musik geht in zu großen Auftrittsörtlichkeiten wohl verloren. nEGAPADRES 3.3.47 sollten sich auflösen. Für LAST DOMINION LOST muss man in Stimmung sein. (Wenn es was Ehrliches sein darf und wenn man für MOTÖRHEAD noch zu nüchtern ist ). COLUMN ONE waren klasse. Wie eigentlich immer! Z´EV ebenso! SUTCLIFFE JUGEND waren SUTCLIFFE JUGEND.
Insgesamt: Der Sound war gut, aber für mein Empfinden ein wenig leise. Die zeitgleich stattfindende "And One"-Party war einfach nur lästig, aber das fiel wohl nicht in den Zuständigkeitsbereich der Veranstalter. Der Mann vor dem Klo tat mir einfach leid, und es war irgendwie grotesk einen dauergrinsenden Papierhandtuchspender zwei Schritte von der Bar entfernt zu wissen. Das Grillgut war eine Katastrophe. Ich werde den Eindruck nicht los, dass es ein Hinterzimmerfestival war, jedoch versuchte man das Beste daraus zu machen.


 
für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Berlin Bruit 2008 bei Ironflame

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Kommentare
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IRONFLAME.de (02-11-2008, 06:29)
die frage wie sich ein verriss von jemandem liest, den man entgegen seines wunsches nicht auf die gästeliste gesetzt hat, wäre damit also auch geklärt...
werk ist nicht gleich werk
[sven] (24-10-2008, 00:40)
in dem text hat sich ein kleiner fehler eingeschlichen :: werkraum sollte durch werkbund ersetzt werden :: ansonsten alles in allem sehr treffend das gesehene und gehörte in worte gefasst ::

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