ÄLGARNAS TRÄDGÅRD - Framtiden Är Ett Svävande Skepp, Förankrat I Forntiden
(1972, Schweden, Silence Records) Eine der interessantesten und eigenständigsten Musikszenen war Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger kurioserweise im alten Schweden anzutreffen. Die schwedische „Progg“-Bewegung kultivierte für etwa fünfzehn Jahre einen nahezu autarken Mikrokosmos, der zumindest in den Anfangstagen echten Untergrundcharme hatte und eine ganze Reihe von revolutionären Musiken hervorbrachte. Der Name „Progg“ lockt dabei jedoch auf eine falsche Fährte: Was hier passierte, war nicht oder nicht nur das skandinavische Äquivalent zur „progressiven“ Canterbury-Szene, sondern tatsächlich eine großflächige Jugendbewegung, eine konterkulturelle Plattform, die sich musikalisch in alle nur denkbaren Richtungen stürzte und dabei immer wieder über ein riesiges experimentelles wie subversives Potential verfügte. Die außerparlamentarische Linke war zu dieser Zeit in Schweden fast völlig deckungsgleich mit der Progg-Bewegung, der anarchistische Flügel überwog den kommunistischen und eher „grüne“ Themen wie Makrobiotik, Stadtflucht, Regionalismus und Folklore standen dabei wesentlich im Mittelpunkt. Gegen Ende der Siebziger schlug das Klima um, etwa zur gleichen Zeit, als sich in Ostasien die „Kulturrevolution“ totgelaufen hatte, und die Progg-Bewegung musste der großen, weltweiten Punkwelle weichen, die den Optimismus der letzten Jahre durch einen konsequenten Zynismus ersetze, während ein Großteil der Progg-Protagonisten den bequemen Notausgang ins Bildunsgbürgertum suchte. Angefangen hatte alles bereits Mitte der Sechziger. Als entscheidender Progg-Vorläufer war das Trio BABY GRANDMOTHERS, das seinerseits aus der R'n'B-Band T-BOONES hervorgegangen war, Zentrum einer kleinen Garage und Psych-Rock Szene, die sich zu der Zeit noch ganz auf Stockholm beschränkte. Die BABY GRANDMOTHERS waren hier vor allem noch vom progressiven Westküsten-Sound, von San Francisco Helden wie MOBY GRAPE, JEFFERSON AIRPLANE, QUICKSILVER MESSENGER SERVICE beeinflusst und konfrontierten das schwedische Publikum zum ersten Mal mit Fuzzgitarren, Hard Rock und psychedelischen Jams. Der heute legendäre, 1967 eröffnete „Klubb Filips“ in Stockholm, damals etwa ein Pendant zum „Matrix“ in San Francisco, etablierte sich schnell zum Dreh- und Angelpunkt dieser jungen Rockszene. Leute wie FRANK ZAPPA oder JIMI HENDRIX kamen hierher und jammten mit lokalen Bands, BO HANSSON gab hier noch mit Jazz-Drummer JANNE KARLSSON bekiffte Orgel-und-Schlagzeug-Sessions zum Besten, bevor er mit seinen ätherischen Tolkien-Kompositionen populär wurde und internationalen Ruhm erlangte. Auch das bekannteste und älteste schwedische Independentlabel SILENCE RECORDS, das sich später als größte Triebkraft hinter der Progg-Bewegung herausstellen sollte, nahm hier seinen Ursprung. Das Label wurde quasi im Klubb Filips von den beiden hauseigenen DJs JOSEPH HOCHHAUSER und ANDERS LIND, der zuvor das Privatlabel DECIBEL RECORDS unterhalten hatte, unter den Augen von BO HANSSON gegründet, der auch als erster Künstler für SILENCE verpflichtet wurde. Hochhauser und Lind hatten eine recht konkrete Vision davon, ein musikalisches Netzwerk aufzubauen, das sich völlig unabhängig vom Geschäft des Mainstreams und der großen Vertriebe bewegen würde. Das stellte sich schon im Sommer 1970 heraus, als die beiden mit einigen Künstlern aus dem näheren Umkreis das alternative „Gärdetfesten“ mehr oder weniger illegal veranstalteten. Das Gärdet war im Grunde die offizielle Geburtsstunde des Proggs, hier fanden zum ersten Mal Szenesozialisierungen auf einer breiteren Basis statt, während sich im Hintergrund schon das subversive und liberale „Programm“ der Bewegung herauskristallisierte. Diejenigen, die diesen musikalischen Paradigmenwechsel einleiten würden, waren jedoch PÄRSON SOUND, ein kleines Kollektiv von Anarcho-Intellektuellen um den Musikstudenten BO ANDERS PERSSON, das schon seit Mitte der Sechziger in der Avantgardeszene zugegen war und Kontakte zur FYLKINGEN-Stiftung für elektroakustische und experimentelle Musik unterhielt. PÄRSON SOUND, die sich später in INTERNATIONAL HARVESTER, dann in HARVESTER und noch später in TRÄD, GRÄS OCH STENAR verwandelten, hatten eine andere Vorstellung von Folk, Rock und Psychedelia als noch die angloamerikanisch beeinflussten BABY GRANDMOTHERS. Für Persson und seine Bandkollegen lieferte die skandinavische Tradition genügend Material, das für progressive, innovative Musik brauchbar gemacht werden könne, um so das nationale Kulturerbe zu neuem Leben zu erwecken und dem „Volk“ zurückzugeben. Das Konzept hieß also „spela själv“ („Spiel selbst!“) und „music of the people“ – Persson organisierte Ausstellungen und gab Seminare, die den Besucher zur aktiven Teilnahme an dieser neuen Form von Folk animieren sollten. Die Musik von PÄRSON SOUND und den Nachfolgeprojekten basierte daher auf sehr einfachen, leicht zugänglichen Strukturen, eine Art repetitiver, hypnotischer Drone-Rock, der unterschwellig jedoch heftig-psychedelisch und bisweilen sogar ziemlich noisig ausfallen konnte und ebenso Elemente der traditionellen nordischen Musik, wie z.B. der Nyckelharpa verarbeitete. Daraus ergab sich ein ziemlich eigenständiger Klang, der wegen seines nahezu tribalen Trancecharakters auch heute noch als typisch Schwedisch identifiziert werden kann. Anders Lind hatte das INTERNATIONAL HARVESTER-Album „Sov Gott Rose-Marie“ in seinem eigenen Tonstudio produziert und aufgenommen und TRÄD, GRÄS OCH STENAR avancierte Anfang der Siebziger zur wichtigsten und fackeltragenden Band auf dem SILENCE-Label. Andere Bands wie ARBETE OCH FRITID, FLÄSKET BRINNER, SAMMLA MAMMAS MANNA, die Songwriterin TURID LUNDQVIST und die Punk-Folker von GUDIBRALLAN hatten sich unterdessen zu einer richtigen Szene zusammengeschlossen. 1971 fand in Stockholm eine zweite Auflage des Gärdetfestivals statt und diesmal auch unter Beteiligung einer noch blutjungen und schrägen Psychedelic-Folk-Kombo aus Göteborg. Auf der anderen Seite von Schweden und daher etwas abgeschottet von den frühen Progg-Entwicklungen in Stockholm, hatte sich 1969 das merkwürdige Kollektiv ÄLGARNAS TRÄDGÅRD gegründet. Die beiden Initiatoren DAN SÖDERQVIST und JAN TERNALD waren zwei junge Musikverrückte, die von klassischer Musik und Elektroakustik, über Jazz und Folk zu den neuen Psych-Rock-Klängen aus Amerika und England einfach alles konsumierten, was sie nur zwischen die Finger kriegen konnten und sich in dem Göteborger Vorort Västra Frölunda die Zeit damit vertrieben, selbst ein bisschen auf der Gitarre herumzuschrammeln. Zusammen mit den Schulfreunden SEBASTIAN ÖBERG und ANDREAS BRANDT, die Cello und Violine spielten, mit DENNIS LUNDH, der bereits Schlagzeuger in der lokalen Band ALL THESE BLUES war und mit MIKAEL JOHANSSON, der gerade Bassspielen lernte, hingen sie häufig im berüchtigten Cue Club rum und begannen, mit all den Instrumenten, die ihnen zur Verfügung standen ziemlich chaotisch zu improvisieren. Ihren ersten öffentlichen Auftritt hatten sie dann unter dem Namen INNERST INNE in dem besetzten Haus „Hagahuset“. In Göteborg gab es, verglichen mit Stockholm, zu dieser Zeit nur eine kleine alternative Szene, die sich eben genau an diesem Ort traf. Das Hagahuset wurde sozusagen zur neuen Heimat des Sextetts, das sich nun ÄLGARNAS TRÄDGÅRD nannte und in immer verrückteren und ausgedehnteren Sessions mit geborgten Synthesizern, Orgeln und Effektgeräten experimentierte. Als sie im Spätsommer 1971 beim zweiten Gärdetfesten auftraten, wurden sie direkt von SILENCE unter Vertrag genommen und durften, die meisten von ihnen gerade erst frisch von der Schule gekommen, im labeleigenen Tonstudio ihre erste Platte unter Mithilfe von allen nur denkbaren elektronischen Zaubergeräten einspielen. Und diese erste Platte stellte 1972 so ziemlich alles innerhalb und außerhalb der Progg-Bewegung auf den Kopf und hinterließ sicher schon damals einige staunende Gesichter. Der überlange Titel, der in etwa so viel bedeutet wie „Die Zukunft ist ein schwebendes Schiff, verankert in der Vergangenheit“, könnte dabei gar nicht besser gewählt sein. ÄLGARNAS TRÄDGÅRD haben eine fast beängstigend irrationale Geschichtsauffassung, in der die Zeitachse zu einem einzelnen Punkt zusammenschrumpft und alles sich gleichzeitig um die eigene Achse dreht. Mittelalter, Renaissance und Barock blitzen hin und wieder auf oder hängen wie ein bunter Wandteppich in den Korridoren dieser überirdischen Raumfähre. Mondlandungen, Saturnringe, Milchstraßenexpeditionen folgen Schlag auf Schlag. Findet das alles wirklich statt oder träumt hier ein uraltes Volk von Titanen von den kulturellen Errungenschaften einer kleinen unbedeutenden Gattung auf einem kleinen unbedeutenden Planeten irgendwo in den Ausläufern des galaktischen Sondermülls? Die A-Seite besteht aus zwei sehr langen Titeln, die fließend ineinanderübergehen und ihre Heimat so weit draußen hinter dem Horizont haben, dass selbst das entfernteste Echo des amerikanischen „far out“ nicht mehr hinüberreichen würde. Dabei nimmt es ganz proggig Anlauf: die Streicher üben Spannungsbögen spannen, das Schlagzeug taktet sich verhalten in den Vordergrund. Irgendwann, nach sechs, sieben Minuten muss es doch einmal richtig aus sich herausbrechen, denkt man, aber es passiert nicht, d.h. es passiert schon, aber auf einer Ebene, in der jedes pythagoreische Verständnis von Musik, ja Musik überhaupt, völlig ausgeschaltet ist. Und dann merkt man endlich: gut, die Streicher sagen die Wahrheit, man sollte ihnen gewissenhaft zuhören. Vielleicht liegt es gerade daran, dass die sechs Leute hinter diesem Projekt keine wirklich ausgebildeten Musiker waren, dass sie bisher überhaupt nur bedingt Musik- und Banderfahrung gemacht hatten und eigentlich nur einmal mit einem unvorstellbar großen Vorrat an Kreativität und Eigensinnigkeit dieses und jenes ausprobieren wollten. Diese sechs jungen Leute mussten sich in dem Studio, in dem sie ihr Album aufnahmen, wie in einem seltsam märchenhaften Wunderland fühlen, von dem man sich nie erträumt hätte, dass man es je mit eigenen Augen sehen würde. Und das hört man tatsächlich auf dieser Platte, man hört ihr Erstaunen über die instrumentalen Klanglandschaften, die sich gerade um sie herum entfalten und ein monströses Eigenleben entwickeln, man hört das Summen und Surren mehrerer Synthesizer und wie sich ihre säurehaltigen Seren durch die Zerrbilder antiker Geigen fressen, manchmal in Indien, manchmal in Västra Götaland und immer ganz nah bei den Sternen. Auf der anderen Seite der blauen Berge vernimmt man indessen ein scheinbar tausendjähriges schwedisches Lied, so seltsam erhaben und – das Verblüffen will kein Ende nehmen – im Grunde fürchterlich dilettantisch, naiv und liebenswert wie irgendein beliebiger Kinderreim. Dann wieder Geigen, Celli, Geigen, klassische Volkstänze in Zeitlupe und seltsame Gesänge, die futuristischen Gebete der Altvorderen, die nur als Sprungbrett dienen, für eine ausgedehnte, krautige Spacerockoper auf der Umlaufbahn fremder Planeten. Und dieser Trip ist noch der musikalischste. Der Rest besteht nur aus Bildern. Bilder wie sie Keyboarder und Organist Jan Ternald zu dieser Zeit ohnehin malte, für das Interieur des Hagahusets, für die Covergestaltung dieser Platte, wie übrigens auch für die Cover der BO HANSSON-LPs. Eigenartig barock-kubistische Konstrukte, in denen sich die Zeit irgendwie zu materialisieren scheint. In den letzten fünf Minuten verbleibt nur noch das ruhige, ortlose, richtungslose Schweben des Schiffes und so langsam ergibt sich das Panorama einer abstrakten Parallelwelt, die in keiner menschlichen Phantasie Fuß fassen könnte und in der die Relikte traditioneller Folklore genauso antiquarisch und ananchronistisch wirken, wie die Mäander aus Acidgitarren und Moog-Sequenzen. Nachdem das Album erschienen war, tourten ÄLGARNAS TRÄDGÅRD lange Zeit im eigenen Autobus quer durch Schweden und wurde dabei manchmal von der Theater- und Lichtshowgruppe THE SPOTLIGHT KIDS unterstützt. Ihr Live-Sound, das hört man heute noch auf ein paar erhalten gebliebenen Mitschnitten, fiel deutlich weniger experimentell aus, war gitarrenintensiver und noch um einiges psychedelischer als ihre entrückten Studiokompositionen. Als das Sextett zwei Jahre später wieder ins Studio ging, hatte sich ihre Musik zu einer spacigen Mischung aus Raga-Folk, Psych- und Prog-Rock entwickelt. Eine Veröffentlichung der Aufnahmen blieb damals jedoch aus, das Material wurde erst 2001 unter dem treffenden Titel „Delayed“ von SILENCE nachgereicht. Weil die musikalischen Interessen und Einflüsse innerhalb der Band inzwischen zu weit auseinandergingen, löste sich die Gruppe nur kurze Zeit nach diesen Aufnahmen auf. Söderqvist, Brandt und Johansson traten jedoch noch bis 1976 als Trio oder mit Gastmusikern unter dem Namen ÄLGARNAS TRÄDGÅRD auf. Jan Ternald widmete sich nun vollzeitmäßig seiner Malerei und arbeitet heute als 3D-Grafiker und Künstler. Gemeinsam mit dem Cellisten Sebastian Öberg war er kurzzeitig in die Psych-Rock Band FLÄSKET BRINNER involviert. Öberg tauchte dann erst Mitte der Achtziger wieder als Gastmusiker bei der eigenartigen Frauen New-Wave Band TANT STRUL auf und ist heute Teil des experimentellen Streichquartetts FLESH QUARTET. Der Schlagzeuger Dennis Lundh verstarb bereits 1980 an Krebs. Gitarrist Dan Söderqvist wechselte Ende der Siebziger direkt vom Progg zum Punk über und gründete mit COSMIC OVERDOSE eine der ersten schwedischen Elektro-Punk Bands, aus der später das heute immer noch aktive und recht populäre Synthie-Pop und Electronica Projekt TWICE A MAN hervorging. So, wie vor 35 Jahren die einen diese Platte wie eine göttliche Offenbarung durchfuhr und die anderen nicht und niemals zu begreifen in der Lage waren, was in diesen vierzig Minuten genau vor sich geht, so spaltet „Framtiden Är Ett Svävande Skepp...“ auch heute noch die Geister und Gemüter. Tatsächlich scheint hinter dem Album etwas Übermenschliches zu stehen, etwas wahrlich Gigantisches, das Verstand und Wahrnehmung übersteigt. Wie verschlüsselte Signale und kryptische Botschaften aus einer anderen Zeitrechnung dringen die Bilderfluten, die uns ÄLGARNAS TRÄDGÅRD – man möchte meinen unbewusst (oder über-bewusst?) – hier hinterließen, in unseren Kosmos herüber. Und selbst innerhalb der so fortschrittlichen und avantgardistischen Progg-Bewegung waren sie den Musiken anderer Künstler einfach um Lichtjahre voraus. Titel: A Två Timmer Över Två Blå Berg Med En Gök På Vardera Sidan, Om Timmarna ... Alltså Det Finns En Tid För Allt, Det Finns En Tid Då Även Tiden Möts B Möjligheternas Barn Tristans Klagan Viriditas Saturnus Ringar Framtiden Är Ett Svävande Skepp, Förankrat I Forntiden 40min Erstauflage: Silence SRS 4611 | 1972 Re-Release: 1995: Silence Records | SRS 3611 | CD
Roy L. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » Älgarnas Trädgård @ MySpace Themenbezogene Artikel: » Das Jahr der Seele: PENTANGLE » JAN DUKES DE GREY: Mice And Rats ... » PAUL GIOVANNI: The Wicker Man O.S.T. » SUBWAY: s/t » COMUS: First Utterance » GARY HIGGINS: Red Hash » HÖLDERLIN: Hölderlins Traum » DR STRANGELY STRANGE: Kip Of The Serenes » CAN AM DES PUIG: The Book Of Am » C.O.B.: Moyshe McStiff ... » ALAN SORRENTI: Aria » TONY, CARO & JOHN: All On The First Day » PERRY LEOPOLD: Experiment in Metaphysics » FOREST: Full Circle » BRIGITTE FONTAINE & ARESKI: L'Incendie » SYNANTHESIA: s/t » MAGICAL POWER MAKO: Super Record » SPIROGYRA: Bells, Boots & Shambles » EXTRADITION: Hush » SHIRLEY COLLINS & DAVY GRAHAM: Folk ...
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