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Roy L.

TONY, CARO & JOHN: All On The First Day

Folkmusik 1964-1984 | Teil IX


TONY, CARO & JOHN: All On The First Day
Kategorie: Spezial
Wörter: 1390
Erstellt: 02.03.2008
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TONY, CARO & JOHN - All On The First Day
(1972, UK, Privatpressung)



Es ist immer wieder aufs Neue beruhigend, zu wissen, dass es in den letzten zwanzig, dreißig Jahren durchaus brillante Musiker gegeben hat, die sich nie auf das sogenannte „Musikgeschäft“ eingelassen haben und immer gewissermaßen autark geblieben sind.
In den archaischen Zeiten vor dem großen paradigmatischen Wechsel, der sich mit der Erfindung der CD-R und der parasitären Ausbreitung von mp3 und Netlabels vollzog, waren privat gefertigte und veröffentlichte Tonträger eher die Ausnahme als die Regel. Eine echte DIY-Tape-Kultur entstand erst Ende der Siebziger im Zuge der Post-Punk und Industrial Revolution. Folkies griffen ein Jahrzehnt zuvor eher auf Vinyl in kleinen Auflagen zurück. Aus England ist eine noch relativ überschaubare Anzahl an folk-relevanten Privatpressungen bekannt. Platten von Bands wie AGINCOURT (PETER HOWELL), STONE ANGEL/MIDWINTER, BEGGAR'S HILL oder SILVER BIRCH lieferten jahrelang reichlich mythischen Stoff für feuchte Sammlerträume, bis irgendwann Bootlegs auftauchten oder großherzigere Zeitgenossen die Alben offiziell, d.h. mit Zustimmung der Bands (oder mit den Masterbändern in der Hinterhand) wiederveröffentlichten. Ein paar solcher ungehobener, jungfräulicher Schätze werden – wenn wir mal optimistisch sind – in den nächsten Jahren sicher noch zum Vorschein kommen. Aber schon jetzt lässt sich zweifelsohne veranschlagen, dass das interessanteste Werk unter diesen obskuren Raritäten aus den Händen des verspäteten Hippie-Kommunen-Trios TONY, CARO & JOHN stammt.

TONY DORÉ und JOHN CLARK lernen sich Anfang der Sechziger in den zahlreichen Höhlen der hügeligen Landschaft von Derbyshire kennen (die archaischen Zeiten!). Zwei elfjährige Grünschnäbel mit seltsamen Interessen – der eine wird später Geologe, der andere studiert Chemie in Sheffield. Ein paar Jahre nach den Höhlen kommt die Musik. Tony und seine Clique gründen eine Reihe von Schülerbands mit „thought-provoking“ Namen wie THE FABULOUS DRIFTING SANDS oder THE EJOGS. John ist mehr der Techniker und Roadie, aber irgendwann wird er zum Bassspielen gezwungen und seitdem soll er das Instrument zeitlebens nie wieder aus der Hand gegeben haben. Gegen Ende der Sechziger wird es Zeit für die Folkclubs, in denen Tony und John eher anecken und nicht die traditionellen Kriterien erfüllen. Da Tony zum Studieren nach London geht, ist mit dem Duo ohnehin vorerst Sense. Von den Folkclubs aber kommt der Geologiestudent dort nicht so schnell los und hier trifft er auch CARO, die später (und nacheinander!) die glückliche Ehefrau von sowohl Tony als auch John werden wird.
Inzwischen neigt sich die Ära der blumigen Liebessommer dem Ende entgegen und nur hier und da trauen sich ein paar vereinzelte Prog- und Hardrockverweigerer noch zur Akustikgitarre zu greifen. Als arbeitsloser Akademiker sucht John 1970 bei dem frisch vermählten Paar Tony und Caro Asyl. Die drei Post-Hippies leben nun kommunenartig zusammen, schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch, stellen Kerzen her, tragen Batikhosen und brüten über verrückten musikalischen Ideen. John ist immerhin stolzer Besitzer eines primitiven Tape-Recorders und Tony findet auf dem Flohmarkt eine Geige. Im Hintergrund vernimmt man den säuselnden „Blues For The Muse“ der STRING BAND und einen letzten Nachhall des verheißungsvollen „anything goes“. In den nächsten zwei Jahren versüßt sich das Trio mit aufwändigen Wohnzimmersessions die Freizeit. An einen Plattenvertrag ist gar nicht zu denken. Eine kleine Auswahl der Aufnahmen lassen TONY, CARO & JOHN privat auf Vinyl pressen, das Plattencover entsteht – natürlich – in Handarbeit. Die einhundert Exemplare von „All On The First Day“ sind schnell an Freunde und Angehörige verteilt, danach verschwindet die Platte faktisch für dreißig Jahre aus dem Gedächtnis der Musikwelt.

In der Musik von TONY, CARO & JOHN treffen sich amateurhafter und mitunter genialischer Pioniergeist, romantische Love'n'Peace Vibes und ein derber anarchischer Humor, wie er für das England der frühen Siebziger typisch ist. Sardonic-Folk wäre hier eine Bezeichnung, die es sowohl semantisch wie auch phonetisch auf den Punkt bringt. Ein Großteil der Songs wirkt dabei tatsächlich so, als hätten die Drei die INCREDIBLE STRING BAND bei sich zuhause gehabt, auch Tonys Stimme klingt etwas nach ROBIN WILLIAMSON, nur männlicher und mit verschmitztem Unterton. Durchweg herrscht eine herrlich ungezwungene, lockere Sofaatmosphäre. Johns Bass lebt immer noch in den Sechzigern, zwischen Akustikgeschraddel, Wah-Wah Attacken und simplen Riffs erzählt Tony absurde Abenteuer- und Nonsensegeschichten oder prophezeit fürchterliche Weltuntergänge. Faszinierend dissonante Flöten, eine grausam verstimmte Geige, die nie den Ton trifft, Seemöwensamples und ein paar fiese elektronische Effekte vervollständigen das Klangbild. Richtig psychedelisch geht es dabei jedoch nicht zu, das Instrumental „Snugglyug“ erinnert eher an eine halbtrunkene Jazzimprovisation und nur „Sargasso Sea“ tritt mächtig über die Ufer und endet in einem far-out Knäuel verzerrter Saiten. Es ist insgesamt eher eine Art non-konformer Folk-Pop, der „All On The First Day“ ausmacht und in der Außenseiterhymne „There Are No Greater Heroes“ eine wahre Sternstunde erlebt. Die bukolischen Liebeslieder „Waltz For A Spaniel“ und „Hole In My Heart“ und Caros naiver Mädchensopran gemahnen dagegen an die traditionellen (und ländlichen) Wurzeln des Trios. Auch das Thema Folkclubs wird noch einmal aufgegriffen: in dem satirischen (anti-)sing-along Hit „Don't Sing This Song“ wird die Band unter übertriebenem Applaus als SALOMÉ AND THE NIHILISTS angekündigt und der gesamte Liedtext besteht aus bösen verbalen Attacken auf das Publikum („Yes, you there sitting in the front of the place, you can wipe that smile off your silly face. Go and buy the drinks, don't stay here to applaud us, 'cos the last thing we want is for you to laud us.“).
Eine Platte wie „All On The First Day“ hätte in keinem Tonstudio der Welt entstehen können. In nicht ganz vierzig Minuten durchstreift man einen unglaublich flexiblen Kosmos, der von Rimbaud über Monty Python bis zu Londoner Vorstadtmonotonie und leicht verspäteter Hippie-Attitüde reicht und ständig tragikomische Gratwanderungen vollzieht. Dabei ist es nicht einmal die Musik selbst, die das Album so außergewöhnlich macht, denn hier sind TONY, CARO & JOHN, von den schrägen Elektronikspielereien mal abgesehen, nicht sonderlich progressiv oder experimentell, sondern im Gegenteil eher altmodisch. Aber in den Aufnahmen, die trotz der primitiven track-to-track Technik erstaunlich professionell und sauber wirken, steckt viel von dem anarchischen Kommunengeist des Trios, der zudem mit einer ganz persönlichen und authentischen Note vermittelt wird. Alles wirkt vollkommen echt und in dieser Hinsicht auch emotional, was schon damit beginnt, dass Tony und John, obwohl sie tatsächlich exzellente Musiker waren, nie einen Gedanken daran verschwendet haben, mit ihrer Musik das große Geld zu verdienen.

Was letztendlich ja auch nie der Fall gewesen ist. Nach den Aufnahmen zu „All On The First Day“ stoßen der talentierte Gitarrist SIMON BURRET, der schon im Umfeld der bekannten PRINCIPAL EDWARDS MAGIC THEATRE arbeitete und der Keyboarder ROD JONES, der ebenso aus Derby stammt und Tony und John von Kindeszeiten an kennt, hinzu. Daraus entwickeln sich die rockigere Liveband FOREVER AND EVER und zahlreiche andere halbernste Projekte mit lustigen Namen wie THE POLYPHONIC TADPOLES, TONE DEAF AND THE PHILISTINES oder THE AGEING HIPPIES. Bis in die späten Siebziger hinein gibt es endlose Jamsessions zwischen Folk, Punk, Rock, Blues und Jazz, zahlreiche Auftritte und für Tony beinahe einen Stromschlag auf der Bühne. Als Tony für einige Jahre nach Norwegen geht und die anderen sich über ganz England verstreuen, existiert die Band nur noch lose bei gelegentlichen Treffen. Erst in den Neunzigern finden sich Tony, John, Rod, Simon und ihre Frauen wieder in London vereint und FOREVER AND EVER jammen wieder regelmäßig und mit ungebrochenem Enthusiasmus, bis John im Oktober 2005 verstirbt.

Vier Jahre zuvor hatte das deutsche Re-Release Label SHADOKS MUSIC „All On The First Day“ neu herausgegeben und so zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Wiederveröffentlichung wurde zudem mit fünf exzellenten und hörenswerten Bonusstücken aus der frühen FOREVER AND EVER-Phase versehen.
Mehr als ein bloßes persönliches Zeitdokument, ist „All On The First Day“ auch ein lebendiges Denkmal für Musik, die sich abseits der großen und kleinen Labels durch freie Räume bewegt und sich ihre eigenen Gesetze schafft. Ein köstliches Hörvergnügen bietet die Platte dazu ohnehin.

Don't sing this song
And don't try to sing along
We don't need your appreciation
So, don't sing this song


Titel:
A
The Snowdon Song
Eclipse Of The Moon
Meg II
Sugglyug
Apocalypso
Sargasso Sea

B
Swordsman Of Samoa
There Are No Greater Heroes
Waltz For A Spaniel
Hole In My Heart
Morrison Heathcliff
Don't Sing This Song
Homecoming

37min


Erstauflage:

keine Kat.-Nr. | 1972

Re-Release:
2001: Shadoks Music | Shadoks CD 021

 
Roy L. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Forever And Ever / Tony

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