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Roy L.

FOREST: Full Circle

Folkmusik 1964-1984 | Teil VII


FOREST: Full Circle
Kategorie: Spezial
Wörter: 1956
Erstellt: 17.02.2008
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FOREST - Full Circle
(1970, UK, Harvest)



Halbreale Waldwesen, Provinzhippies, naive Kinder der Natur, Engländer. FOREST waren, ohne dass es irgendwann einmal laut genug ausgesprochen wurde, eigentlich die Psychedelic-Folker der späten Sechziger par excellence. Mit rein akustischer Musik, traditionellen Wurzeln und einer leicht verdrogten Atmosphäre mit naturmystischem Tiefgang trug das Trio, bestehend aus den WELHAM-Brüdern MARTIN und ADRIAN sowie DEREK ALLENBY, wesentlich aber vermutlich unbewusst zu einem 'state of mind' bei, der erst Jahrzehnte später von einer neuen Wyrd-People-Bewegung expliziert wurde. Es geht um die Rückkehr zu den Quellen, Betonung des Irrationalen, der Glaube an eine schöpferische Intuition, Individualismus und Eigensinnigkeit... das alles sind Topoi, die auch dem Neofolk nicht fern liegen und die im Kosmos von FOREST nahezu in Reinform auftreten. Und tatsächlich scheinen ihre beiden Alben die erste Anlaufstelle für SOL INVICTUS- oder FIRE+ICE-Hörer zu sein, die einmal etwas in der jüngeren Vergangenheit folkloristischer Musik graben wollen.

Alles beginnt in Lincolnshire. Von klein auf begeistern sich Martin und Derek für Musik und Gesang und schon während ihrer Schulzeit singen sie Folksongs und treten in kleineren Clubs ihrer Heimatregion auf. Nach einigen ungelenken musikalischen Versuchen mit verschiedenen Mitstreitern stößt 1967 Martins Bruder Adrian hinzu und das Trio begreift sich unter dem Namen FORESTERS OF WALESBY zum ersten Mal als richtige Band. Nun gestaltet sich auch die Beschäftigung mit der englischen Folklore ernsthafter. Martin und Derek beginnen, die Liedersammlungen von CECIL SHARP zu studieren und lokale Bibliotheken nach Liedmaterial zu durchforsten. In dem gerade erst ins Leben gerufenen Grimsby Folk Club treten die FORESTERS OF WALESBY regelmäßig auf und beeindrucken ihr Publikum mit dreistimmigen Interpretationen. Das geschieht natürlich zu einer Zeit, da sich in Englands junger Generation Folkmusik als durchaus konkurrenzfähige Alternative zur Beat-Kultur etablieren kann. Die im ganzen Land blühenden Folk Clubs werden vor allem von jungen Leuten besucht und sie sind selbstredend Brennpunkte an denen sich musikalische Zirkel, ja ganze Szenen entwickeln. Folkfamilien wie die WATERSONS gelangen Mitte der Sechziger schnell zu nationaler Bekanntheit und üben mit ihrer charismatischen, intelligenten Folkphilosophie einen beachtlichen Einfluss auf ihre Generation aus, der auf einmal die Möglichkeit gegeben ist, sich in einer ganz lebendigen und konstruktiven Weise mit Tradition zu beschäftigen.  Die FORESTERS gedeihen genau in diesem Umfeld, die WATERSONS sind nicht allzu weit entfernt und generell könnte man Lincolnshire als folkenthusiastische Region bezeichnen.
Bei einem ihrer regelmäßigen Auftritte im Grimsby Folk Club trifft die Gruppe auf die aus London stammenden Trad-Folker YOUNG TRADITION, deren Auftritt einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Interessanterweise beschreibt Martin Welham die drei YOUNG TRADITION -Mitglieder Pete, Roy und Heather als buntgekleidete Hippies, was dem gängigen Vorurteil vom Trad-Folker als bravem Konservativen etwas Einhalt gebietet. Auch sind es YOUNG TRADITION, die Martin, Adrian und Derek in die Londoner Folkszene einführen, ihnen dort sogar prestigereiche Auftritte verschaffen und die Drei mit obskureren zeitgenössischen Folkplatten vertraut machen.       
Parallel dazu vertieft sich das Trio in eine naturverbundene, mystische Selbstsuche, aus der sich die spätere klangliche Anderswelt von FOREST ableitet. In der kaum öffentlich genutzten und einsam auf einem Hügel thronenden alten Kirche von Walesby finden sie einen Ort, dessen genius loci ihrem Gesang eine überrationale Resonanz und Räumlichkeit verleiht. Hier entsteht das Grundgerüst ihres Volksliedrepertoires, von dem die FORESTERS noch zu ihrer Studienzeit in Birmingham zehren. Der Bedeutung der ehrwürdigen Church of Walesby, die nicht nur symbolisch das spirituelle Moment in FORESTs Musik repräsentiert, wird später in JOAN MELVILLEs kongenialer Covergestaltung zum zweiten Album „Full Circle“ Rechnung getragen.
An einen wichtigen Wendepunkt gelangen Martin, Adrian und Derek als sie sich 1968 gemeinsam in Church Lane in Birmingham niederlassen. Zu dieser Zeit treiben THE INCREDIBLE STRING BAND die Psychedelisierung des Folks ins Extreme, auch DONOVAN und die BEATLES sind bereits auf Acid umgestiegen und einflussreiche Folkmusiker wie BERT JANSCH zeigen, dass im Volkslied mehr stecken kann, wenn man aufhört, es Note für Note nachzuspielen. Auf der Suche nach einer eigenständigen Position verabschieden sich die FORESTERS aus der Welt der Folk Clubs und beginnen, eigene Songs zu schreiben. Im damals noch immens geförderten kulturellen Umfeld der Universität ergeben sich dabei problemlos alternative Auftrittsmöglichkeiten. Der für das Kult-Untergrundmagazin International Times arbeitende MARK WILLIAMS wird bei einem Festival auf die Band aufmerksam und unterstützt sie daraufhin als Manager. Williams zieht die richtigen Fäden. Er verkürzt den Bandnamen zu FOREST, promotet das Trio in London und  macht sie mit dem populären Radiojournalisten JOHN PEEL bekannt, der sie prompt zu BBC Sessions einlädt und sogar für sein geplantes Label DANDELION unter Vertrag nimmt, was später hinfällig wird, da sich die Labelgründung etwa um ein Jahr verzögert. Ein Angebot vom Majorlabel PHILIPS lehnen FOREST unterdessen ab und entscheiden sich letztendlich für MALCOM JONES' junges HARVEST Label, das EMI RECORDS als Independentnische einrichtete und der Band mehr Verständnis und Freiheiten garantierte. Unter JONES nehmen die drei Psych-Folker zwei Alben im renommierten Abbey Road Studio auf und einem dritten hätte nichts im Wege gestanden, wäre Jones nicht abgesetzt worden und in der Labelpolitik ein genereller Umschwung eingetreten. Die beiden Alben jedoch, die der Nachwelt erhalten sind, bewegen sich in einer derart idiosynkratischen Sphäre, dass Vergleiche zu anderen Folkbands dieser Ära schwerfallen, und dennoch sind es gerade FOREST, die dem heutigen Verständnis von psychedelischer Folkmusik vor knapp vierzig Jahren eine konkrete Form gegeben haben.

Anders als das ungestüme, spontane und wild gewachsene Debüt von 1969, bei dem die jungen Musiker einfach alle möglichen Einflüsse, die sie bis dahin aufgeschnappt hatten, zusammenwarfen, ist das nur ein Jahr darauf erschienene Album „Full Circle“ ein Zyklus von präzise ausgeformten Songs, die die Grenze zwischen Folk, Pop und Psychedelia leichtfüßig transzendieren. Und auch wenn sich das insgesamt erhabenste und bewegendste FOREST Stück – „Fading Light“ – auf der ersten Platte befindet, so stellt „Full Circle“ dennoch das eigentliche, konzeptuellere, elaboriertere Werk der Band dar, das vor allem vom individuellen Songwriting der einzelnen Bandmitglieder lebt.
Die Musik von FOREST besteht im wesentlichen aus einem dichten Flechtwerk von Akustikgitarren und Gesang, das durchgehend von weiteren Zupf- und Streichinstrumenten, Flöten und hin und wieder einem dunklen Piano ausgefüllt wird. Die Instrumentierung kennt weder Bass noch Schlagzeug und spart somit bis auf ein paar leichte Perkussionen sämtliche Rhythmuselemente aus. Damit ist FOREST von allen nicht-traditionellen Folkbands ihrer Zeit sicher diejenige, die von der kulturprägenden, populären Rockmusik am weitesten entfernt ist. Das Primat der Melodie wird hingegen von der Stellung und harmonischen Schichtung des mehrstimmigen Gesangs expliziert, der sich an der durchaus nicht naiven Struktur des Volkslieds übte und formte und nun in  experimentellere Räume dringt. Als Autodidakten verkörpern FOREST in gewisser Weise Folkmusik als traditionale Handwerkskunst, aber die Art und Weise, wie sie ihr Handwerk gebrauchen, lässt sie weit aus dem Areal der Folkpuristen heraustreten. Und so entdeckt man auf ihren beiden Platten sehr wohl auch Spuren, die der zuckersüße britische R'n'B der frühen Sechziger und noch viel mehr die ausufernden Bewusstseinserweiterungstrips der INCREDIBLE STRING BAND hinterlassen haben. Im Gegensatz zu HERON und WILLIAMSON, die ja vor allem damit beschäftigt sind, Elemente aus der orientalischen Tradition über ein offenes System in die westliche Musik zu integrieren, sind die Kompositionen von FOREST jedoch durch und durch englisch, wenn auch von überzeitlichem, mythischen Charakter. Man durchwandert einen pseudo-mittelalterlichen Kosmos von Waldgeistern, verführerischen Zigeunermädchen und verstoßenen Jünglingen. Die Beleuchtung ist spärlich, die Stimmung düster, zuweilen auch pilzig, doch hin und wieder gelangt man zu einer erfrischenden Lichtung und dann erstrahlt der Forst in einem saftigen und unerschöpflichen Grün. FOREST konstituieren hier eine Art ökologischen Eskapismus, der Bandname ist dabei natürlich Programm.
Eine Eigenart von „Full Circle“ besteht darin, dass die Songs alle für sich und partikular arrangiert wurden, wodurch dem Risiko, am Ende nur eine zusammenhanglose Abfolge von einzelnen Titel zu erhalten, sicher Vorschub geleistet wird. Diese Gefahr konnte allerdings durch die relative Konstanz des charakteristischen FOREST-Sounds, der ständig zwischen Tradition und Psychedelia pendelt und letztendlich weit über beide Lager hinausgeht, umschifft werden. Dennoch erkennt man den einzelnen Stücken leicht ihre jeweiligen Urheber an. MARTIN WELHAMs Titel „The Midnight Hanging Of A Runaway Serf“, „Do Not Walk In The Rain“ und „Autumn Childhood“ sind bis ins letzte Detail durchkomponierte, virtuose Meisterwerke, die mehrere Passagen und Taktwechsel durchlaufen und dem Album damit einen schwerverdaulichen Unterton verleihen. Eingängiger  wirken DEREK ALLENBYs lockere Songs „Hawk The Hawker“, „Gypsy Girl & Rambleaway“ und „Much Ado About Nothing“, die zusammen mit dem traditionellen „Famine Song“ (davon gibt es bekannterweise auch eine SOL INVICTUS Version – der „Praities Song“ auf „In A Garden Green“) für damalige Folkhörer am ehesten musikalische Anknüpfungspunkte gewesen sein dürften. Aus den beiden Titeln „Bluebell Dance“ und „Graveyard“ von ADRIAN WELHAM dringt endlich der magische, spirituelle Hauch, durch den die alten Lebensgeister wieder zu Sprache kommen. Hier strömt der letzte Überrest des romantischen Zauberklangs: Nachtwind, der ein holziges Aroma mit sich führt, später Vogelsang, Herbstlaub und Kindheitserinnerungen, seltsames Lichtspiel am Horizont und das Gefühl einer höheren Ordnung, das sich sämtlich der Ratio entzieht.

FORESTs atmosphärischer, melodienreicher Psych-Folk ist, obwohl er mit konventionellen Mitteln arbeitet, nur schwer in Worte zu fassen. Die beiden Alben verkauften sich trotz JOHN PEELs amüsanten Linernotes nicht besser als die Veröffentlichungen anderer 'sekundärer' Folkbands zu dieser Zeit. Für die WELHAMs und ALLENBY spielte das im Grunde keine Rolle, für sie stand im Mittelpunkt, abseits jeder Popularität, ihr naturmystisches Ideenreich in Musik zu verwandeln, und das ist ihnen auf „Full Circle“ von Anfang bis Ende gelungen. Für ein Label wie HARVEST reichte das letztendlich nicht aus – ein dritte LP, wie es vertraglich vereinbart gewesen war, kam nicht zustande. Nachdem Derek die Band verließ, um sich wieder seinem Studium zu widmen, spielten Martin und Adrian nur noch eine Handvoll Konzerte mit den Gastmusikern DAVE PANTON und DAVE STUBBS und begruben das Projekt dann im ewiglaunischen Sand der Musikhistorie.

Ausgegraben wurde es erst knappe fünfundzwanzig Jahre später, als BGO RECORDS eine von EMI lizenzierte Doppel-CD Ausgabe der beiden Alben auflegte. Heute ist FOREST als originärer Psych-Folk Einfluss für die junge Weird-Folk Szene kaum mehr zu unterschlagen. Für die frühen Soloaufnahmen des umtriebigen ESPERS-Songwriters GREG WEEKS spielten FOREST eine wesentliche Rolle („...there's a part of one of the songs on the first record that's definitely kind of me vamping on their record Full Circle...“). JOSH ALPER von der Folk-Kommune WHYSP entdeckte das erste FOREST-Album einst durch Zufall in einem Plattenladen in San Francisco und war sofort davon hingerissen und zwar so sehr, dass er die ehemaligen Bandmitglieder ausfindig machte und kontaktierte. MARTIN WELHAM hatte zu diesem Zeitpunkt schon begonnen abseits der Öffentlichkeit mit seinem folkbegeisterten Sohn Tom an dem Projekt THE STORY zu arbeiten. ALPER schlug ihm kurzerhand vor, eine Split-LP aufzunehmen und so kehrte Welham nach über dreißig Jahren ins Musikgeschäft zurück. Nach dem Splitalbum „The Dawn Is Crowned“ erschienen von THE STORY bisher die zwei Alben „Tale Spin“ und „Arcane Rising“, und beide sind in der seltsam überrationalen düsterbritischen Green-Man-Welt angesiedelt, die FOREST einst mehr oder weniger neu begründete. Nicht von ungefähr tauchen THE STORY daher neulich auf Samplern mit Künstlern wie ANDREW KING, TONY WAKEFORD oder WHILE ANGELS WATCH auf. Hier schließt sich also der Kreis zwischen Psych- und Neo/Dark-Folk und auch der Kreis zwischen den Generationen, denn Martin Welham ist mit der Arbeit an THE STORY im Begriff sein musikalisches Erbe und auch seinen eigensinnig individualistischen Anspruch an die  Musik an seinen Sohn weiterzureichen, der über großes Songwriterpotential zu verfügen verspricht.


Titel:
A
Hawk The Hawker
Bluebell Dance
The Midnight Hanging Of A Runaway Serf
To Julie
Gypsy Girl & Rambleaway

B
Do Not Walk In The Rain
Much Ado About Nothing
Graveyard
Famine Song
Autumn Childhood

43min


Erstauflage:
SHVL784 | 1970

Re-Releases:
1994: BGO Records | BGOCD236 | 2CD (maßgeblich)
2007: Toshiba EMI | TOCP-70342 | CD       

 
Roy L. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Forest @ MySpace

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