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Roy L.

BRIGITTE FONTAINE & ARESKI: L'Incendie

Folkmusik 1964-1984 | Teil VI


BRIGITTE FONTAINE & ARESKI: L'Incendie
Kategorie: Spezial
Wörter: 1392
Erstellt: 10.02.2008
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BRIGITTE FONTAINE & ARESKI - L'Incendie
(Frankreich, 1974, BYG Records)



Sie ist das enfant terrible der französischen Musikszene: BRIGITTE FONTAINE, die Frau mit dem militanten Haarschnitt, Jahrgang 1940, Nachkriegsjugend, heute anarchische Diva und Sarkozy-Kritikerin. Links des Rheins sollte man sie kennen, in Deutschland und der übrigen Welt wird sich ihr Publikum auf eine eher kleine Schar von Menschen beschränken, die in Sachen Musikgeschmack gewissermaßen 'mündig' sind. Brigitte Fontaine ist vor allem eine lange Geschichte. Nicht eigentlich ein Star, aber doch seltsam präsent, entwickelt sie sich über mehrere Jahrzehnte hinweg von der intellektuellen Underground- und Theater-Chanteuse der späten Sechziger zur exzentrischen Avant-Pop Künstlerin, die den Mainstream mit schrägen Videoclips und gemeinsamen Arbeiten mit kommerziell erfolgreichen Antikapitalisten wie SONIC YOUTH und NOIR DÉSIR verwirrt.
Uns soll es im Folgenden eher um die frühe Phase ihrer Karriere gehen, die immer mehr dem Prozess der nachträglichen Verdunklung anheim fällt. Nicht von ungefähr taucht Brigitte in ANDY VOTELs Sammlung obskurer Folk-Kuriositäten „Folk Is Not A Four Letter Word“ neben LINDA PERHACS und ERICA POMERANCE auf. Ihr 1974er Album „L'Incendie“ wurde vor zwei Jahren noch einmal von dem Jazzlabel BYG RECORDS in einer edlen Vinylauflage frisch gepresst und scheint seitdem auf die junge 'New Weird' Generation großen Eindruck zu machen.

Brigitte Fontaines öffentliches Leben beginnt mit dem Theater. Nach dem Schulabschluss verlässt sie ihre kleine bretonische Heimatstadt und geht, von einer großen Schauspielkarriere träumend ins Paris der jungen aufstrebenden Künstler und Existenzialisten. Nach ein paar Jahren auf der Schauspielschule meint sie, dass sie nun doch lieber singen möchte und macht sich in den Cabarets am Montmartre einen Namen. Unterdessen bleibt sie dem Theater treu und führt 1964 gemeinsam mit dem späteren Rockstar JACQUES HIGELIN das experimentelle Stück „Maman J'ai Peur“ zunächst am La Vieille Grille, danach auch am renommierten Théâtre des Champs-Elysées auf. Fontaine und Higelin sind im gleichen Alter und befinden sich Mitte der Sechziger im Zentrum einer stetig wachsenden alternativen Theater- und Musikszene. Kontakte und Netzwerke sind rasch hergestellt. JACQUES CANETTI, der zuvor schon BREL, BRASSENS und GRÉCO quasi entdeckte, produziert die ersten Aufnahmen des Duos, die erst als Singles und kurze Zeit darauf zusammen auf der LP „12 Chansons Devant La Déluge“ erscheinen. Drei Jahre später ist es der von seinen Arrangements für SERGE GAINSBOURG bekannte JEAN-CLAUDE VANNIER, der Brigittes zweites Album produziert. Immer mehr profiliert sich Fontaine mit ihrer koketten aber doch tiefernsten Mädchenstimme als düstere Schwester der gefeierten FRANÇOISE HARDY und wird allmählich zur Galleonsfigur einer politisch involvierten, gesellschaftskritischen Untergrundpopkultur. Inzwischen macht Higelin die junge Künstlerin mit dem gleichaltrigen Musiker ARESKI BELKACEM bekannt, den er während seines Wehrdienstes Anfang der Sechziger in Algerien kennenlernte und mit dem er 1969 ein Album aufnahm. Die Begegnung ist folgenschwer, Brigitte und Areski werden sowohl musikalisch als auch privat ein Paar, Higelin bleibt dagegen gewissermaßen das fünfte Rad am Wagen. Dennoch wird er in den nächsten vierzig Jahren immer im Kosmos von Brigitte Fontaine präsent sein und gelegentlich als Gastmusiker oder Komponist auftauchen. Brigitte kann auch kaum von dem inspirierenden Einfluss Higelins lassen; in einem Interview nannte er sie einmal liebevoll „ma sœur“. Der Videoclip zu Brigitte Fontaines 94er Single „D'Ailleurs“ karikiert diese musikalische Menage-à-trois sehr amüsant und herzlich.
Gegen Ende der Sechziger sind Areski und Brigitte in verschiedene Theatergruppen involviert, veranstalten Happenings, inszenieren Stücke und schreiben Musik dazu. Zu dieser Zeit treffen sie auf die amerikanische Avant-Jazz Gruppe THE ART ENSEMBLE OF CHICAGO, die sich für einige Jahre in Europa aufhält und erst hier zu größerer Bekanntheit gelangt. Fontaine und Areski nehmen mit ihnen kurzerhand das Album „Comme À La Radio“ auf, ein atemberaubender Hörgenuss, der Jazz, Chanson und moderne Klassik Hand in Hand durch die staubigen Wüsten des Morgenlandes schickt und am Ende des Traumbildes in der Pariser Métro erwacht. Jacques Higelin leitete die Aufnahmen 1970 an den bekannten Filmkomponisten PIERRE BAROUH weiter, dessen gerade erst gegründetes Independentlabel (das erste in Frankreich!) SARAVAH schon bald zur neuen Heimat für das Künstlerkollektiv ARESKI/FONTAINE/HIGELIN werden sollte. Nur zwei Jahre später trieb das Trio auseinander und zerfiel schließlich, als Brigitte bei einem Skandalauftritt im Théâtre du Ranelag während des Konzertes die Bühne verlässt und verschwindet. Die Trennung erwies sich glücklicherweise nur als kurzes Intermezzo und nachdem Areski und Fontaine wieder zueinander gefunden hatten, brach für das Künstlerpaar bis in die späten Siebziger hinein eine äußerst kreative Phase an, in der insgesamt fünf Alben entstanden.

„L'Incendie“ ist von diesen Alben sicher das düsterste, sperrigste, zugleich aber auch jenes mit den größten folkloristischen Einflüssen. In dreizehn kurzen und äußerst sparsam orchestrierten Bildern konstruieren Fontaine und Areski eine neue hermetische Kammermusik, ein Schwarz-Weiß-Mosaik  abgründiger Folksongs, die in schweigsamen Nächten verhallen. Es ist eine Art Chanson ohne Glamour, ein tiefes Bad in den Wassern der Tristesse, angereichert mit barocken Todesobsessionen, mittelalterlichen Melodien, finsterem Trommelwirbel, afrikanischen Spielen und postmoderner Orientierungslosigkeit. Walzer tanzend treibt das Künstlerpaar auf den unterirdischen Flüssen der Bläser entlang, verliert sich im Gewirr flüsternder Stimmen und findet sich in feierlichen Gesängen wieder vereint. E-Piano und Bass wiegen einander sacht in todschwarze Fieberträume, während sich Brigitte im eleganten Dämmerlicht das Herz in kleine Fetzen reißt. Auch die Lieder sind klein, klein aber voll von Blut, Resignation und Wiederaufstehen. Manchmal ist es nur der flüchtige Hauch einer Concertina, die Ruinen einer Kathedrale, apokalyptische Szenen ohne Lärm oder der mondene Glanz einer Liebesnacht. Dann ein Feuer von Beduinentrommeln und wilden Flöten, Areski wird archaisch und erdig - „Les Borgias“ ähnelt einem psychedelischen Kopftanz durch tausendundeine Nacht. Am Ende kreist die Oboe nachdenklich durchs Zimmer, Gitarrensaiten werden zaghaft gezupft, Kerzen ausgeblasen.
Brigitte ist traurig, Brigitte ist einsam und lächelt dunkel, Areski singt mit verbitterter Stimme, aber es ist in ihr auch etwas Heiteres, Warmes. Auf den Bildern des Plattencovers wirkt er wie ein moderner Troubadour, mit Rucksack und Mantel, ein Nomade, der letzte Tourist in Europa. Genauso ist sein Gesang. Und genauso ist diese Platte. Wie eine Wanderung auf nirgendwo verzeichneten Pfaden, durch Orte mit fremden Namen, miteinander verwoben auf engstem Raum. „Ragilia“, eine Gewitternacht in den rotbraunen Bergen Nordafrikas, „L'Abeille“, eine höfische Ballade aus der keltischen Tradition. Interessanterweise entwickelt sich in Frankreich, anders als in England, erst Mitte der Siebziger eine echte Folkszene mit Bands wie MALICORNE, MARIPOL, FOLKDOVE oder SOURDELINE, die außerdem (wie Brigitte selbst) zumeist bretonische Wurzeln haben. FONTAINE und ARESKI sind hier wenige Jahre voraus, doch will ihre Musik keine traditionelle Folklore sein, kein Nacherzählen von Überliefertem, sondern ein Neuschöpfen von Geschichten, eine Rückprojizierung der Moderne auf die Ebene des Mythos. „L'Incendie“ wohnt in diesen mythischen Räumen, ohne Zeit, ohne festen Platz, schillernd im Dunkel der Mysterien.

Die gemeinsamen Alben von FONTAINE und ARESKI, die im Laufe der Siebziger zunehmend orientalisch werden und sich in Richtung Ethno-Avantgarde bewegen, finden bei ihrem Erscheinen die wohlwollende Resonanz einer treuen Fangemeinde. Richtig bekannt wird Brigitte erst mit ihrer 1988er Comeback-LP „French Corazon“. Es folgen Videoclips zu den Hits „Le Nougat“, „D'Ailleurs“, „Ah, Que La Vie Est Belle“ und anderen Singles. In den Neunzigern wird sie häufig im Fernsehen interviewt, publiziert kontroverse Bücher und überrascht mit ständigen Imagewechseln. Auf dem 1995er Album „Genre Humaine“ experimentieren sie und Areski zum ersten Mal mit Dub- und Techno-Elementen und mit „Kékéland“ erscheint 2001 ein knallbuntes Rock-, Pop- und Funk-Manifest, das bis zum Rand mit prominenten Gastauftritten gefüllt ist und Brigittes erste goldene Schallplatte wird. Auf „Libido“, dem 2006 erschienenen Album, das wieder in Zusammenarbeit mit JEAN-CLAUDE VANNIER entstand, beweist die heute fast siebzigjährige Chanteuse, dass sie künstlerisch immer noch interessant ist, auch wenn der konterkulturelle Untergrundcharme der frühen Platten sicher längst verflogen ist.
BRIGITTE FONTAINEs Oeuvre ist im Grunde in seiner Gesamtheit hörenswert und der Entdeckung würdig, doch gerade das dunkle und isolationistische „L'Incendie“ sticht hier mit seiner verkopften Mischung aus Chanson und 'Weltmusik' hervor. Ein tiefgründiges und forderndes Meisterwerk, das ganz gewiss zu den spannendsten und richtungsweisenden Folkplatten im Frankreich der Siebziger zählt.


Titel:
A
Le Six Septembre
Ragilia
Il Pleut Sur La Gare
Déclaration De Sinistre
Les Murailles
L'Engourdi

B
Nous Avons Tant Parlé
Les Borgias
Les Petites Madones
L'Abeille
Après La Guerre
La Tête Bandée
Le Chant Des Chants

31min


Erstauflage:
BYG 529 026 | 1974

Re-Releases:
1995: Spalax | 14815 | CD (Neupressung 2003)
2005: BYG Records | 529 026 | LP

 
Roy L. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Brigitte Fontaine bei Discogs

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