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Roy L.

Rückschau: KRLJA Fest

Something Is Coming!


Rückschau: KRLJA Fest
Kategorie: Spezial
Wörter: 1904
Erstellt: 19.02.2007
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09./10. Februar
 SKWHAT Club / Sisak, Kroatien


Nachdem ich letzte Woche das zweitägige KRLJA FEST heil überstanden hatte, ging mir die etwas beschämende Frage nicht mehr aus dem Kopf, wann ich das letzte Mal ein Industrialkonzert erlebt hatte. Hatte ich überhaupt vorher schon mal? Ja gut, GREY WOLVES, GENOCIDE ORGAN, PROPERGOL und ein paar andere Gelegenheiten, bei denen Knöpfchen gedreht, Agitationsvideos gezeigt, Parolen artikuliert und Skimasken getragen wurden. Aber das ist kein Industrial. Industrial heißt paradigmatischer Wechsel, heißt Aufbrechen des Zeitlineals mit Dampfhämmern, heißt Anfang und Umbruch. Industrial ist also auch eine Hand voll junger Leute, die früher Punks waren und es im Geiste auch heute noch sind, die sich aus dem Nichts heraus ihren ersten Auftritt organisieren, ohne damit ein gewisses Publikum ansteuern zu wollen. So etwas ist in Westeuropa heute absolut nicht mehr zu finden. Und dieser Satz ist nicht als Kritik oder Schmähung hier eingefügt worden, er soll vielmehr heißen: es ist rein faktisch unmöglich. Die Zeiten sind vorbei. Wir hatten unseren Anfang und haben vieles, vielleicht nicht alles, ausgereizt, was auszureizen war. Wenn heute etwas neu und revolutionär erscheint, ist es auch nur Umstrukturierung bewährter Formen. Wir wissen das und wir wissen auch, dass es noch lange kein Grund ist, den Spaß daran zu verlieren.
Kroatien kannte in diesen Ausmaßen dagegen noch keine Industrial-Subkultur. EBM, Electro und sogar Neofolk werden dort zwar häufiger als vermutet gehört, es gibt ein paar rare Tanzveranstaltungen, aber insgesamt geschieht das eher unverbindlich und nebenbei, weshalb sich bisher keine wirkliche produktive, eigendynamische Szene entwickeln konnte. Es fehlte auch an eigenen Projekten, die der Jugend eine gewisse Szeneidentität hätten vorzeichnen können. Konzerte von DEATH IN JUNE und DER BLUTHARSCH wurden verhältnismäßig gut besucht, haben vielleicht auch ein paar Einzelne infizieren können, aber im Grunde betrachtete man das nicht als subkulturellen Durchbruch. Ein solcher muss auch von innen heraus entstehen und im Augenblick liegen über Zagreb wenige aber vielversprechende Samen verstreut, aus denen eine wirkliche Plattform für innovative Tonkunst, nicht nur für Kroatien oder den Balkan, sondern für ganz Europa hervorgehen kann. Ein 17 Zugstunden entferntes Festival besucht man also nicht ohne Grund und große Erwartungen.

Die ein paar Kilometer südöstlich von Zagreb gelegene Kleinstadt Sisak zeigt sich abwechselnd  dörflich und industriell, was hin und wieder einen irritierenden Eindruck hinterlässt. Kupa und Save fließen hier ineinander und teilen sich die Schadstoffe der ansässigen Erdölraffinerie und diverser Chemiebetriebe. Die Flammen pulsieren über den Hochöfen und spiegeln sich ungeduldig auf der Wasseroberfläche, die Straßen sind meist menschenleer und trotzdem von seltsamer Energie erfüllt. Die ganze Stadt ist voller mächtiger Brücken und Scharen schwarzer Krähen. Sisak ist gewissermaßen die Heimat des kroatischen Electros. Auch Saša von dem Projekt ZARKOFF stammt von hier. Gemeinsam mit der Damenband DEKOLAŽ (ebenfalls aus Sisak) und dem UŠUŠUR-Magazin veranstaltete er vergangenes Wochenende im SKWHAT Club das zweitägige KRLJA FEST. Dem Club gegenüber befindet sich ein riesiger pilzförmiger Wasserturm, was bei jedem Vorübergehen irgendwie unfreiwillige Assoziationen mit frühen EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN hervorrief. Im Inneren wirkte das SKWHAT eher steril, kleinstädtisch und jugendclubmäßig. Wir trafen während des Auftritts einer Band ein, von der ich mir bis heute nicht den Namen habe merken können (trotzdem mir dieser vermutlich mehrmals mitgeteilt wurde, Recherchen zufolge handelte es sich wohl um NARROW). Das ganze erschien auf den ersten Blick eher surreal. Der Konzertsaal war nahezu restlos leer, während sich unzählige Leute im Vorraum und an der Bar tummelten; Punks,  Alternative und die übliche Provinzjugend. Was von der Bühne her drang, klang eher minimalelektronisch, ließ sich auch in dieser Weise tanzen, solang da nicht ein stämmiger, desillusioniert dreinschauender Typ es für nötig hielt, dem Rhythmus mit einem absurd depressiven, dunklen Sprechgesang völlig das Tempo zu nehmen. Mehr Tempo und Rhythmus entluden sich allerdings später mit DEKOLAŽ. Bei dem weiblichen Duo glaubte man im ersten Moment, es mit der slawischen Antwort auf CLIENT zu tun zu haben. Trashig bunte Elektropunk-Kleider, Nylonstrumpfhosen und rote Lackschuhe, dazu  blubbernde Uptempo Analogelektronik und die sinnliche Stimme von Sängerin Ana, der man nur schwer widerstehen konnte. Die britische Popband stellte sich aber letzten Endes als schlechter Vergleich heraus, die Kroatinnen zeigten mehr Electroclash, mehr Aggresivität, mehr hüftenschwingenden Sexappeal, auch wenn die Dame am Laptop sicher nicht mehr als die Wiedergabe der Hintergrundmusik bediente. Irgendwie schien das für dieses Set aber auch absolut nicht relevant zu sein, die Stimmung im Saal, der sich nun mit wenigstens ein paar mehr Leuten füllte, war grandios, alle waren in Bewegung, prominente Gesichter wurden ausgemacht: PUNCH:-RECORDS-Labelchef Tairy C. und die italienische Band 1997EV waren ebenso nach Sisak gekommen, um dieses Festival mit eigenen Augen zu sehen. Nun, sie sahen so einiges: gegen Ende des Auftritts stürmten ein paar wildgewordene Fans (manche von ihnen in Jogginganzügen) die Bühne und lagen den beiden Frauen wortwörtlich zu Füßen, alles verschlang sich in einem kurzzeitigen Chaos und das Konzert endete unter dem tosenden Beifall von 20 bis 30 Zuschauern. Der Freitag abend versank in die Nacht, euphorisch, tanzend, neonfarben.

Sisak böte am darauffolgenden Tag mehrere Möglichkeiten für einen erquickenden Zeitvertreib: eine mittlelalterliche Festung, in der vor 500 Jahren wohl eine verschwindend geringe Anzahl von Kroaten einer 20.000 Mann starken Übermacht von Osmanen standhielt, Backwarengeschäfte mit unendlich sympathischen Öffnungszeiten, Straßenkreuzungen und anonyme Wohnblocks, die zum Verlaufen und Verirren einladen. Wir hatten an diesem Wochenende von allem ein bisschen etwas, von manchem ein bisschen zu viel.
Die Aufregung stieg am Abend. AMPOULE ANDARIO und SMRT I ČEKIĆ aus Zagreb würden zum ersten Mal offiziell auf der Bühne stehen. Bei beiden Projekten entstanden noch während des Soundchecks spontan ein paar neue Stücke. Nach dem Einlass war eine ähnliche Zuschauersituation wie am Vortag vorzufinden: die Bar vollbesetzt von einer Menge desinteressierter Jugendlicher, mit eigener (Radio-)Musik sozusagen eine Gegenveranstaltung forcierend, der Konzertsaal dagegen nur halbgefüllt, dafür aber voller Begeisterung und Hingabe für die gebotenen Auftritte. Uniformierte, Poser, Schwätzer, gelangweilte Eliten und andere Archetypen, die die unsrige Konzertlandschaft leider oft so sehr prägen, suchte man hier vergeblich. Sollte sich hier in Zukunft eine echte Szene etablieren können, wird sie völlig verschieden sein, von dem Osteuropabild, dass uns zur Zeit durch die Konzert- und Labelaktivitäten in Russland und Polen vorgegeben ist. Der eher militaristische Post-Industrial in diesen Ländern wirkt oft wie ein gut kopiertes Abbild des Westens. In Kroatien sind andere Tendenzen vorhanden. Das zeigten zuerst  SMRT I ČEKIĆ. Das Duo bretterte von Anfang an mit einer drückenden Ladung elektronischer Krachwellen los, dumpf pulsierende Bassloops schoben sich vom Untergrund kommend immer wieder an die Oberfläche und trugen rauhe Gefechte mit einem ganzen Arsenal improvisierter Noiseeinlagen aus. Sänger s.mor schrie unaufhörlich Unverständliches ins Mikro, brutalrhythmisierte Artikulationen hallten mit tausendfachem Reverb die Kalkwände entlang, was einen wesentlichen Teil der Performance ausmachte. Das ganze war fast ohne Atempause von einer unglaublich stoßartigen Dynamik getragen, man hätte gut dazu tanzen können, sich dabei aber vermutlich alle Knochen gebrochen. Was hier vorging, schien eine Art Industrial-Punk nach dem Vorbild der Franzosen I-C-K zu sein, aber es bewies seine Andersartigkeit durch das komplette Auslassen standardisierter Düsterfaktoren und eines politischen oder metapolitischen Überbaus. Bis auf das Chaos selbst, war da kein vorprogrammiertes,  übermusikalisches  Konzept, das an sich geplant gewesen wäre. Dann gab es diesen einen Moment, in der sich die Schlagzahl plötzlich verringerte, und mehr durch ein Feedback als durch synthetische Flächen eine nahezu sakrale, reine Atmosphäre erwuchs. Ein kurzer ruhiger Gegenpol zu dem insgesamt kraftvollen und noisigen ersten Auftritt von SMRT I ČEKIĆ.
Einer der beiden Musiker blieb gleich für sein zweites Projekt AMPOULE ANDARIO auf der Bühne, das er gemeinsam mit der jungen mamin sin bestreitet. Zahlreiche elektronische Gerätschaften und Keyboards erstreckten sich über der Bühne, ein riesiger Fernsehbildschirm war in Richtung Publikum platziert worden, darin eingestöpselt ein alter C64, der mit Joystick bedient wurde. Eine kaum in Worte fassbare befremdliche Stimmung entströmte dieser anachronistischen Instrumentierung. Die sirrenden Sinuswellen hingen kühl und abstrakt im Raum und manchmal schien es, als würden sie die Grenzen des Musikalischen durchbrechen und den Kontakt  zum Menschen verlieren, was eine unübertrieben beängstigende Erfahrung war. Dann wurde man  jedesmal wieder von rhythmischen Parts auf die Erde zurückgeholt, das komplette Set pendelte zwischen diesen beiden Extremen und in einigen Passagen berührten sie sich in einem kristallinen Interim aus strukturlosen, wilden Klangreaktionen, dissonant und trotzdem in einen gewissen Bann ziehend. Die weiblichen Gesangsparts, bei einem Stück sogar auf deutsch, fügten dem ganzen eine weitere, irgendwie irreale Dimension hinzu. Der ganze Auftritt war akustisch in unwegsamen, kaum erkundeten mentalen Bahnen unterwegs. Uneasy listening also, rauschhaft, ein Dunkel mit unendlichem Abstraktionsgrad. AMPOULE ANDARIO sind wie vertonte Anti-Materie, für Momente kreisten ihre Commodore-Kompositionen um schwarze Löcher und fingen sich wieder und ernteten den Respekt derjenigen, die diesem unmaskierten Experiment beiwohnten.
Kurz darauf stiegen zwei von Kopf bis Fuß in schwarz gehüllte Gestalten auf die Bühne. Beide trugen sie Filzperücken mit roten Leuchtdioden, wer sie waren und was genau sie da taten, wusste absolut kein Mensch. Erst wenige Tage danach gab sich das Duo als LE CIRCOSTANZE STRANE  bekannt, die Identitäten hinter diesem Projekt bleiben jedoch nach wie vor ein Geheimnis. Musikalisch  erschienen sie vor allem sehr rituell, wuchtig hämmernd und außerordentlich schwerfällig. Downtempo ist gar kein Ausdruck dafür. Ein bisschen wie Ô PARADIS oder NOVÝ SVET unter einer nassen Filzdecke aufgenommen und abgedunkelt. Oder wie ein mysteriöser Stamm eines Inselvolks im pazifischen Ozean, der von Außerirdischen entführt wurde und in deren Raumschiff Fruchtbarkeitstänze in Zeitlupe aufführt. Ich kann mich nicht mehr entsinnen, wie lange das ganze andauerte, ob es überhaupt wirklich passiert ist oder nicht, aber immerhin existieren Beweisfotos davon. Eine total psychotische Erfahrung jedenfalls und vermutlich der denkbar beste Ersatz für die lokale Punkband PARAFIN, die ihren Auftritt kurz vorher leider absagen musste.
Den großen Abschluss des Festivals besorgte das ein wenig bekanntere Ein-Mann-Projekt ZAGROB, von dem schon seit Monaten ein sehr gutes Demoalbum im Internet zu finden ist, das sich auch ein wenig  AIT!- und NOVÝ SVET-inspiriert anhört. ZAGROBs düstere, experimentelle Neo-Cabaret Lieder entstehen zuhause mit diversen akustischen und elektronischen Instrumenten. Auf der Bühne konzentriert er sich jedoch ganz allein auf Gesang und Interaktion, die Musik kommt dann vom Band. Für das KRLJA Fest bereitete ZAGROB eine stilistische Überraschung vor. Das Stück „Ušušur“ erzählt die blutige Märchengeschichte eines Elfen- oder Gnomenwesens, das seine Frau ermordete und nun in Verdammnis dahinvegetiert. Mit einer weißen Maske über dem Gesicht und den irren, bedrohlichen Gesängen und Gesten wirkte ZAGROB fast selbst ein wenig geister- oder dämonenhaft. Die Musik im Hintergrund war eher Dark Ambient-orientiert, eine Ineinanderschichtung düsterer Flächen, die erst durch die Effekte des widerhallenden Gesangs etwas an Kraft gewann und dann manchmal an ganz alte rituelle AIN SOPH („V.I.T.R.I.O.L.“ usw.) erinnern konnte. Nach diesem sehr ausgedehnten Stück gab es noch ein paar kürzere, eingängigere, mehr im Stile des ersten Demos, die dann fast wie Trinklieder in den Saal geschleudert wurden und somit ein versöhnliches Ende des Konzerts boten.

Ein Jammer, dass all dies vor nicht mehr als knapp 30 Zuschauern stattgefunden hat. Aber diese Exklusivität hatte letztendlich auch ihre Reize – es herrschte die ganze Zeit über so ein aufregendes Gefühl des noch Unverdorbenen. All diese Bands hatten hier im Grunde nichts zu verlieren, das schaffte Raum für natürliche Auftritte und eine intime Atmosphäre. Die Tatsache, dass sogar ein Label wie PUNCH:-RECORDS an diesem Festival interessiert war, zeigt, dass hier für die Zukunft echtes Potential vorhanden ist. Und diese junge Szene erlebt im Augenblick ihre entscheidendste Phase: es ist alles sehr frisch, neu und energetisch. Es ist Kroatiens eigener Industrial. Es ist Krlja!


 
Roy L. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Ušušur
» Dekolaž
» Smrt I Cekic
» Ampoule Andario
» Le Circostanze Strane
» Zagrob


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