Über einen Zeitraum von fünf Jahren, so informiert das federführende Label THE EPICUREAN, zog sich die Arbeit der drei beteiligten Projekte ANEMONE TUBE, JARL und MONOCUBE an der vorliegenden CD "The Hunters In The Snow – A Contemplation on Pieter Bruegel's Series of the Seasons" hin – und es steht außer Frage, dass sich investierte Zeit und Mühen mehr als ausgezahlt haben: das vorliegende Opus, dessen ambitionierte Programmatik im Untertitel vielsagenden Ausdruck findet, wird seinem Sujet absolut gerecht und kann mit Fug und Recht als kleines Meisterwerk bezeichnet werden. Die Protagonisten dürften dem interessierten Zeitgenossen im wesentlichen bekannt sein: ANEMONE TUBE, das musikalische Projekt des Wahl-Berliners und THE EPICUREAN-Betreibers STEFAN HANSER, und JARL, das Solo-Outfit des IRM-Gründungsmitglieds ERIK JARL, sind beide gleichermaßen seit mittlerweile Pi mal Daumen zwei Dekaden in der Szene aktiv und verdientermaßen feste Größen, wenn es um Post Industrial mit mittelschwerer bis dezidierter Dark-Ambient-Affinität geht. Lediglich das ukrainische, stilistisch indes ganz ähnlich wie seine beiden Kombattanten verortete, Projekt MONOCUBE existiert "erst" seit 2008 und hatte seinen, wenn man so will, internationalen "Durchbruch" schließlich mit dem, 2016 bei MALIGNANT erschienenen, Album "The Rituals", das seinerzeit auch an dieser Stelle wohlwollende Erwähnung fand.
Pieter Bruegel d. Ä.: "Der düstere Tag"/"The Gloomy Day" (Vorfrühling)
Wie im Titel bereits angedeutet, begreift sich die vorliegende Kollaboration als eine Art kontemplativer Soundtrack zum so genannten Jahreszeiten-Zyklus des niederländischen Renaissance-Malers Pieter Bruegel der Ältere, von dessen, stellvertretend für den Winter stehenden, Abschlussbild "Jäger im Schnee" sie denn auch ihren Titel entlehnt. Nun zählt diese fünf Bilder umfassende Serie (ursprünglich waren es sechs, doch ist das "Frühlingsbild" seit langem verschollen) zu den Meilensteinen der Kunstgeschichte schlechthin und gilt als Filetstück des Bruegel'schen Gesamtwerkes, insofern können an dieser Stelle nur die wesentlichen, für das Album relevanten Punkte angerissen werden – für darüber hinausgehende Detailinformationen begebe sich der interessierte Kunstliebhaber selbst auf die Suche, es lohnt sich allemal. Alle fünf bzw. damals noch sechs Bilder wurden von Bruegel im Jahre 1565 als Auftragsarbeit in Öl auf dünnen Eichenholzplatten für einen Geschäftsmann und Sammler gefertigt, der die großformatigen Werke (alle messen jeweils ca. 120 x 160 cm) ursprünglich wohl als Dekoration für seinen Speisesaal verwendete. Dass es sich um insgesamt sechs Bilder handelte, mag uns heute etwas verwundern, rührt jedoch vom in den Niederlanden damals gängigen Usus her, die Jahreszeiten nicht in vier, sondern in sechs Segmente aufzuteilen: Vorfrühling (repräsentiert durch das Bild "Der düstere Tag"), Frühling (verschollen), Frühsommer ("Die Heuernte"), Hochsommer ("Die Kornernte"), Herbst ("Die Heimkehr der Herde") und Winter ("Die Jäger im Schnee").
Pieter Bruegel d. Ä.: "Die Heuernte"/"The Hay Harvest" (Frühsommer)
Die Programmatik von "The Hunters In The Snow" wird für den Rezipienten im Rahmen eines relativ umfangreichen Essays, der dem aufwändig gestalteten 8-Panel-DigiPak in Form eines schlichten, 8-seitigen Booklets beigefügt wurde, ausführlich erläutert: Hier deutet man den Jahreszeiten-Zyklus als im linearen Zeitverlauf entfaltete Repräsentation einer ambivalenten Natur, unter deren, tendenziell ungastlicher und dem Menschen im günstigsten Fall indifferent begegnender, Oberfläche die Welt sich dem Betrachter, der sich geduldig in ihren Anblick versenkt und dergestalt vom Sehenden zum Schauenden wird, als "a veiled substance of wonder and maybe of 'divine order'" offenbart. Den Begriff der "Andachtsbilder", den der Kunsthistoriker Reindert Falkenburg vor diesem Hintergrund für Bruegels Jahreszeiten-Opus geprägt hat, wenden die Autoren des Essays analog auf die Musik von "The Hunters In The Snow" um: "It may be at that very point where hearing becomes listening, where sounds function as incentives for contemplation and meditation and as such as 'Andachtslieder'." Diese Deutung nimmt nun wenig wunder, ist STEFAN HANSER, der für "conception, music production and art direction", grosso modo also für die Regie des Werkes verantwortlich zeichnet, doch nicht erst seit der, 2017 unter dem ANEMONE TUBE-Moniker erschienenen, CD-Trilogie "The Three Worlds" für die ausgeprägte Sympathie bekannt, die er spirituellen Konzepten im allgemeinen und dem Buddhismus nebst anhangenden meditativen Praktiken im besonderen entgegenbringt. Ganz in diesem Sinne ist es explizites Anliegen des vorliegenden Albums, den Hörer in einen kontemplativen Zustand zu versetzen, der ihm jene grundlegende Harmonie erfahrbar macht, welche die antagonistischen Gegensätze der phänomenalen Welt in der Tiefe zu verbinden und in letzter Konsequenz zu transzendieren vermag.
Pieter Bruegel d. Ä.: "Die Kornernte"/"The Harvesters" (Sommer)
Angesichts einer solch ambitionierten Zielsetzung scheint das Risiko, in musikalischen Eso-Kitsch abzudriften und entsprechend grandios zu scheitern, zweifelsohne nicht zu knapp – doch gelingt den beteiligten Musikern das Kunststück mit Bravour, sämtliche entsprechenden Klippen weiträumig zu umschiffen und stattdessen ein ebenso harsch wie hypnotisch tönendes, dunkel funkelndes Dark-Ambient-Schmuckstück zu realisieren, das der lichten, friedlichen Seite der Natur zwar Ausdruck verleiht, den Schwerpunkt jedoch auf ihren finsteren, unbehaglichen Aspekt legt, ohne indes dabei prätentiös oder aufdringlich zu wirken; im Promotext heißt es treffend: "Anemone Tube, Jarl and Monocube directly put their fingers on this ambivalence, aurally contrasting the peaceful scenery with darker tunes, rough electronic patterns that convey tension and unease." Nicht zuletzt ist die prinzipielle Botschaft, die sich durch Bruegels Jahreszeiten-Zyklus zieht, ja eben jene, die in Lars von Triers "Melancholia", dem fulminanten Depressions-&-Weltuntergangs-Opus des Dänen von 2011 (in dessen Eingangssequenz Bruegels "Jäger im Schnee" ebenfalls nicht von ungefähr begegnen), durch Justine alias Kirsten Dunst verkörpert und verkündet wird: Der Mensch ist allein in einem Universum, das sich um ihn als denkendes, fühlendes Individuum ebensowenig schert wie um ihn als Gattung; in den Worten des die CD flankierenden Essays: "Nature is Indifferent Towards Humanity" – nur insofern der Mensch sich als ihr Teil begreift, sich der ihn als Einzel- wie Gattungswesen gleichermaßen überdauernden und umschließenden Natur – man ist versucht zu sagen: demütig einfügt, kann er Frieden finden: "An explicit invitation for us to contemplate, muse, consider, ponder: to meditate."
Pieter Bruegel d. Ä.: "Die Rückkehr der Herde"/"The Return of the Herd" (Herbst)
Der Titelverlauf verfolgt die Chronologie von Bruegels Zyklus und beginnt demgemäß mit dem Vorfrühling: "The Gloomy Day", performt von ANEMONE TUBE & JARL, vermittelt eine ebenso frostige wie majestätische Ruhe, man ahnt die ersten glitzernden Sonnenstrahlen, doch noch ist die Erde weitgehend kalt und trostlos, der Puls des Lebens schlägt nur auf ein Mindestmaß verlangsamt, die Welt atmet einen Frieden, der der Totenruhe gleicht. Mit "The Hay Harvest", ebenfalls von JARL & ANEMONE TUBE, bricht zwar bereits der Frühsommer an und die eingestreuten Field Recordings – Stimmen, Rascheln, Schaben – vermitteln eine Ahnung von geschäftigem Treiben, doch schält sich aus dem Hintergrund langsam, aber kontinuierlich ein bedrohlicher Loop heraus, der den letztlich doch immer irgendwie düster-gedämpften Lichtverhältnissen in Bruegels Bildern Rechnung trägt und am Ende die Szenerie dominiert. "The Harvesters" von ANEMONE TUBE & MONOCUBE repräsentiert den Hochsommer und beginnt mit an- und abbrandendem Meeresrauschen, das auf dem korrespondierenden Bild, "Die Kornernte", zwar allenfalls durch das weit entfernt am Horizont sichtbare Meer seine Entsprechung findet, den akustischen Kontrast zu den im weiteren Verlauf einsetzenden, immer wieder von allerlei tieffrequentem Rumpeln, Knirschen und Knistern durchbrochenen, Dronesounds jedoch ausgesprochen reizvoll betont und so jene sommerliche Hitze, der die erschöpften Erntearbeiter auf Bruegels Bild sich ausgesetzt sehen, nachgerade physisch spürbar macht. Mit "The Return Of The Herd" zieht schließlich der Herbst ein; für das vergleichsweise reduzierte, melancholisch-harmonische Stück zeichnet ANEMONE TUBE allein verantwortlich und vermittelt dem Hörer noch eine emotionale Ruhepause, bevor mit dem Titelstück, an dem alle drei Protagonisten gemeinsam beteiligt sind, der Winter einbricht: mit einer Laufzeit von 18:32 Minuten ist "The Hunters In The Snow" mit Abstand der längste Track der CD und bietet noch einmal konzentriert alles auf, was das Album so bemerkenswert macht: die dergestalt generierte Atmosphäre besticht durch außerordentliche Tiefenschärfe und Vielschichtigkeit und vermittelt in beeindruckender Intensität die partielle Düsternis und Kälte der Bildvorlage ebenso wie ihre lichten Einsprengsel und die Lebendigkeit, die in den versammelten Figuren zum Ausdruck kommt. So schließen sich die zahllosen Einzelelemente schließlich und endlich zu jener quasi transzendentalen Einheit zusammen, die die beschriebene Programmatik der "Andachtslieder" intendiert.
Pieter Bruegel d. Ä.: "Die Jäger im Schnee"/"The Hunters in the Snow" (Winter)
Das Mastering von "The Hunters In The Snow" besorgte übrigens kein geringerer als JAMES PLOTKIN; die reguläre Version ist limitiert auf 333 Exemplare und erscheint im luxuriösen, mit Prägedruck versehenen 8-Panel-Kartonage-DigiPak, welcher neben der CD noch das besagte, achtseitige Booklet enthält und auf dessen Innenseiten neben einem Gedicht des Philosophen und Schriftstellers Jean Gebser alle fünf Bilder von Bruegels "Jahreszeiten-Zyklus" versammelt sind. Hier erweist sich freilich der ewige Nachteil des kleinen Formats eines CD-Covers gegenüber dem großen einer Vinyl-Schallplatte – wer sich also wirklich für die Vorlagen interessiert, kommt kaum umhin, einen Bildband hinzuzuziehen oder wenigstens im Netz nach Fotos mit höherer Auflösung zu suchen, denn bei einer durchschnittlichen Größe von 12 x 9 cm bleibt vom Zauber der Originale nur noch ein ganz, ganz entfernter Abglanz übrig. Die Special-Edition-Version ist auf 66 Stück limitiert und umfasst zusätzlich "obi strip, sticker, moss spores and a certificate for supporting "Ekayana Forest Project" – a Buddhist community sharing a common forest worldwide, located in various reforestation projects." Die Moossporen sind für's heimische Gärtlein gedacht – sie binden, so klärt der Promotext auf, große Mengen Kohlendioxid und beeinflussen auf diese Weise positiv das – jawoll, auch dieser Text kommt nicht ohne das böse "K"-Wort aus: sie beeinflussen also positiv das Klima. Nun ja, wie weiter oben bereits angedeutet: STEFAN HANSER, den kreativen Kopf hinter ANEMONE TUBE und THE EPICUREAN, treibt durchaus ein subtiles Sendungsbewusstsein um, und auch, wenn der Verfasser dieser Zeilen auf das Wort "Klima" mittlerweile mit mittelschweren allergischen Schüben reagiert, so bleibt doch ohne Wenn & Aber einzuräumen: ein guter Zweck ist ein guter Zweck ist ein guter Zweck – und als solcher allemal unterstützenswert. Und wer kann schon ernsthaft etwas gegen buddhistische Waldaufforstungsprojekte und Klimaverbesserung mittels heimischer Mooszucht haben? Niemand. Eben. Insofern lautet zu guter letzt das frohgemute Fazit: Grandioses Album! Mit oder ohne Moos. Kaufen! Im Zweifel für's Klima.
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Zusammenfassung
Grandiose Kollaboration, die sich an Pieter Bruegels Jahreszeiten-Zyklus anlehnt und ihrer hoch gesteckten Programmatik vollumfänglich gerecht wird: Fünf atmosphärische musikalische Kontemplationen über das Filetstück des Bruegelschen Werkes, die den Hörer aufrichtig beeindruckt zurücklassen.
Inhalt
01: The Gloomy Day (6:45)
02: The Hay Harvest (9:05)
03: The Harvesters (8:15)
04: The Return Of The Herd (6:58)
05: The Hunters In The Snow (18:32)
CD im 8-Panel-DigiPak inklusive 8-seitiges Booklet, limitiert auf 333 Exemplare; Special Edition zusätzlich mit Obi-Strip, Aufkleber, Moossporen & "Ekayana Forest Project"-Support-Zertifikat, limitiert auf 66 Exemplare.