Ende 2017 überraschte TONY WAKEFORD mit der Nachricht, die Aktivitäten von SOL INVICTUS - sein musikalisches Betätigungsfeld seit mehr als 30 Jahren – von nun an erst einmal ruhen zu lassen, wenn nicht gleich ganz einzustellen. Ein Veröffentlichungsdatum von „Necropolis“ – das somit nun zum Abschlussalbum werden könnte - war zu diesem Zeitpunkt trotz längerer Ankündigungen noch gar nicht bekannt.
Das irgendetwas im Busch war, ließ sich aber schon länger erahnen. Die unerwartete und aus meiner Sicht etwas zweifelhafte Neuformierung der DEATH IN JUNE-Vorgängerband CRISIS war sicherlich kein alleinig zwingendes Indiz, wobei hier aus den damaligen Besetzungen tatsächlich lediglich TONY WAKEFORD beteiligt ist; es hier also offenbar keinen anderen Treiber gab – und schon gar nicht Mitgründungsmitglied DOUGLAS PEARCE. Dazu kamen allerdings abgesagte Konzerte und schließlich der offizielle Ausstieg der langjährigen SOL INVICTUS Mitglieder LESLEY MALONE und CAROLINE JAGO. LESLEY MALONE ist an „Necropolis“ dann auch musikalisch nicht mehr beteiligt, CAROLINE JAGO lediglich sporadisch.
Neben RENÉE ROSEN und EILISH MC CRACKEN ist aber wieder wie schon bei „Once Upon A Time“ DON ANDERSON (ex-AGALLOCH) an der Gitarre dabei. Zusätzlich hat TONY WAKEFORD allerdings eine illustre Schar von Gästen um sich versammelt, von denen der GREEN ARMY CHOIR ja bereits von der Vorab-Single „The Last Man“ bekannt ist. Überhaupt Stimmen: Diese sind in erheblicher Vielfalt an allen Ecken des Albums zu finden. Chorgesang, weiblicher Solo-Gesang, Vocal-Loops und etliche Tracks sind mal vordergründiger, mal hintergründiger mit Spoken-Word-Parts ausgestattet, die düstere Geschichten über Verbrechen in London erzählen. Die Heimat WAKEFORDs wird auf „Necropolis“ noch einmal mit aller Macht in den Mittelpunkt gezerrt.
Schon der Titel, der sich auf die auch auf dem Cover des Albums abgebildeten Reste der Necropolis Railway Station in London bezieht, weist auf ein düsteres, morbides London hin und rollt eine Szenerie aus, die für die Musik von SOL INVICTUS absolut passend ist und an klassische Alben der Band erinnert. Der Bahnhof war Ausgangspunkt für eine Strecke, die die Stadt bis Anfang der 1940er Jahre mit dem ausgelagerten Friedhof Brookwood verband. Von hier aus starteten die „Totenzüge“ – also Züge mit denen die Särge samt begleitender Trauergesellschaft zum Friedhof transportiert wurden. WAKEFORD spannt den Bogen aber weiter: die große (Welt-)Schlange – hier in der Gestalt der Themse - ist (wieder einmal) ein Thema oder es werden mittels traditioneller Texte wie „Oranges And Lemons“, der in „The Last Man“ verwendet wird und bei dem es um einen Schuldner und einen Gläubiger geht, oder mit dem Kinderreim „London Bridge Is Falling Down“ in "Still Born Summer" auch andere Szenen beleuchtet. Nicht zu verachten ist dabei die intendierte Doppelbödigkeit, denn wer glaubt, WAKEFORD würde sich thematisch nur irgendwo im 19. Jahrhundert herumtreiben, der irrt. Der Bezug zu heutigen Vorgängen und zur Weltlage wie auch konkret zur Entwicklung von London – und im Subtext zur Lage des Westens - ist unübersehbar und wird mit einem klaren Statement von WAKEFORD im Booklet und am deutlichsten bei "Murder On Thames" in den Lyrics hergestellt.
Musikalisch erinnert das Album eigentlich an die mittlere Phase der Band – also in Alben ausgedrückt quasi an „The Blade“ bis „Thrones“. Nach dem man sich nach zwei eher durchwachsenen, rumpeligen Alben mit dem vielleicht etwas unterschätzten „Once Upon A Time“ wieder frei geschwommen hat, folgt nun also quasi der langewartete Nachfolger von „Thrones“. Der ganze Sound atmet wieder die klassische Herangehensweise dieser Phase. Chöre, weibliche Solostimmen wie die von ROBYN SELLMAN, die an die Gesangsparts von SALLY DOHERTY erinnern wie im überaus gelungenen „See Them“, Violine, Flöte, Klavier und etwas breitere Gitarrenarrangements. Dazu wirkt das Album konzeptionell geschlossen wie lange nicht und wagt auch experimentellere Ansätze wie sie vielleicht auf „A Garden Green“ zu finden waren, indem nicht nur auf eingängige sondern auch auf atmosphärisch/ambiente Songs gesetzt wird.
Neben den typischen, opulenten SOL-Hits wie „The Last Man", „See Them“ oder das "Das letzte Abendmahl" in SOL INVICTUS typischer Manier darstellende „Set The Table“ finden sich aber zum Beispiel auch Miniaturen von Songs, die nur kurz aufscheinen wie „Nine Elms“, „Serpentine“ oder "Brick Lane". Angereichert wird das Ganze zusätzlich durch verbindende Stücke, die den jeweiligen Spoken-Word-Parts mehr Raum geben. Weiter in die Vergangenheit reicht sogar ein Stück wie "Shoreditch", welches bezogen auf das Soundbild tatsächlich auch auf einem der ersten SOL INVICTUS Alben Anfang der 90er Jahre so hätte auftauchen können.
30 Jahre ist es her, seit das Mini-Album „Against The Modern World“ erschienen ist. Sollte „Necropolis“ nun tatsächlich das Schlusskapitel darstellen, so ist es ein würdiges geworden. An den ganz großen Alben von SOL INVICTUS kommt „Necropolis“ vielleicht nicht vorbei. Dafür fehlt dann doch noch der eine oder andere großartige Twist oder zupackende Refrain. Aber dieses Werk lässt andererseits so manches - auch durchaus älteres - Album aus der Bandgeschichte hinter sich. Hervorragend und detailreich wie nie produziert und klanglich auf hohem Niveau findet TONY WAKEFORD mit „Necropolis“ letztendlich zum Kern von SOL INVICTUS zurück, der aus bitterer Melancholie und Anklage besteht, die in wehmütige Musik gebettet werden. Das ist ihm in dieser Form seit "Thrones" nicht mehr so überzeugend gelungen. Vermutlich liegt hier außerdem –so muss man es realistischerweise wohl sehen - das letzte klassische Apocalyptic-Folk Album einer eigentlich schon längst vergangenen Ära vor. Das düstere Requiem "Necropolis: Egress" am Ende des Albums erscheint insofern als passende Begleitmusik.
„Necropolis“ ist neben einer limitierten Vinyl-Ausgabe - in schwarz oder weiß - und der Standard-CD Version wie bei Prophecy öfter üblich auch in einer limitierten Doppel-CD-Buch-Edition erhältlich. Das Artwork im Buch inklusiver aller Lyrics, Bilder der Band und der auf dem Album erzählten Storys setzt die Atmosphäre des Albums hervorragend um. Auf der zweiten CD befinden sich einige Probeaufnahmen und Demo- bzw. Alternativversionen. Daneben sind sieben Live-Aufnahmen vom Konzert in der St.Leonard’s Church, London, aus dem Jahr 2016 enthalten, bei dem auch der GREEN ARMY CHOIR und JO QUAIL am Cello mitgewirkt haben und bei dem neben älteren Titeln zwei Stücke des Albums sowie der Non-Album-Track „Your Master's Voice“, der in der Studio-Version bisher nur auf der Vorab-Single „The Last Man“ zu finden ist, gespielt wurden. Ob diese zweite CD somit essentiell ist, sei insofern einmal dahingestellt - eine nette Ergänzung ist sie allemal.
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