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Endsal

GENOCIDE ORGAN: Civilization

Von Nutzen und Nachteil der Historie bei der Legendenbildung


GENOCIDE ORGAN: Civilization
Genre: Power Electronics
Verlag: TESCO
Vertrieb: TESCO
Erscheinungsdatum:
Oktober 2017
Erstellt: 02.12.2017
Preis: ~29,00 €
Kaufen bei: TESCO Germany


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Zugegebenermaßen hat sich der Rezensent eine ganze Weile mit der Arbeit an vorliegender Besprechung Zeit gelassen: So mächtig, bezugsreich, doppel-, triple-, ja: polybödig und nicht zuletzt vom einschüchternden Odem eines nahezu geschichtsträchtig zu nennenden, legendären Ausnahmestatus innerhalb des PE-Kanons umgeben baute sich ihr Gegenstand, das aktuelle Vinyl-/CD-Boxset "Civilization" von GENOCIDE ORGAN, vor ihm auf: es handelt sich dabei allerdings nicht um ein neues Album im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr um ein zentrales Kronjuwel im Rahmen jener Werk-Retrospektive, die die Mannheimer Granden schon seit einigen Jahren peu à peu vorantreiben, und zu der, neben der demnächst komplettierten, zehnteiligen "Archives"-Reihe, im Grunde schon das Re-Release des 2003er-Albums "虐殺機関" sowie natürlich das, 2009 zur Feier des 20jährigen Jubiläums neu aufgelegte Debüt "Leichenlinie" von 1989 gezählt werden müssen. Ganz ähnlich sollte auch "Civilization" bereits 2011 erscheinen: da nämlich jährte sich die erstmalige Veröffentlichung von GENOCIDE ORGANs zweitem Album "Save Our Slaves" zum zwanzigsten Male. Und eben dieses gleichermaßen legendäre wie kontroverse Album stellt letztlich das Herzstück der vorliegenden – im CD-Format zwei CDs, im Vinyl-Format 3 LPs umfassenden – Box dar, flankiert von der, thematisch hervorragend ins Konzept passenden, 1998 erschienenen 7'' "Klan Kountry", diversen Compilation-Beiträgen sowie – unter dem Titel "Live at Lever Sunlicht" – dem Mitschnitt einer im Dezember 1990 vor ausgesuchtem Publikum in Mannheim zelebrierten Album-Pre-Release-Performance. Als Rezensent fühlt man sich angesichts eines solch gerüttelt' und geschüttelt' Maßes an historischem Nimbus ein bisschen wie ein Literaturkritiker, der heutzutage den "Prozess" oder den "Zauberberg" besprechen soll: der Gegenstand schüchtert leidlich ein. Doch schließlich ist man Mann, nicht Maus – in diesem Sinne!


Beginnen wir unsere Betrachtungen also mit dem Material des, bereits anno dunnemals als opulentes, handgemachtes Boxset erschienenen Albums "Save Our Slaves", das auf "Civilization" aus nicht weiter kommentierten Gründen übrigens in abgeänderter Reihenfolge präsentiert wird. Der namensgebende Arbeitstitel "The Rise of American Civilization" umschreibt den thematischen Horizont bereits recht treffend: Hier geht es um die finsteren, grimmen Ab- und Hintergründe der jüngeren US-amerikanischen Geschichte, wobei der Schwerpunkt der Betrachtung auf den rassen- und klassenspezifischen Konflikten der 1950er-, -60er- und -70er-Jahre mit all ihren gesellschaftlichen und politischen Implikationen liegt. Der kurze thematische Abriss, der einem Text des heutigen NOISE RECEPTOR-Herausgebers RICHARD STEVENSON entliehen und in der labelseitigen Alben-Präsentation zitiert wird, vermittelt eine vage Ahnung von der historischen Bezugsfülle, hermeneutischen Komplexität und politischen Ambivalenz, die "Save Our Slaves" so außergewöhnlich machen, und sei deshalb jedem ans Herz gelegt, dessen Interesse am vorliegenden Werk sich nicht darin erschöpft, es möge nur hübsch ordentlich bratzen. Das tut es zwar zweifelsohne, doch ist das eben nur eine Dimension des schillernden Ganzen, die für sich genommen nicht hinreichend ist, um das Außerordentliche dieses Albums – und im Grunde ja das Außerordentliche des Phänomens GENOCIDE ORGAN schlechthin – zu erklären.

GENOCIDE ORGAN @ TESCO 30th Anniversary, Mannheim, 28. Oktober 2017

Es ist wohl gerade die enge Verzahnung von inhaltlicher Thematik und ästhetischer Umsetzung, eine von analytischer Schärfe und intellektueller Durchdringung zeugende musikalisch-ästhetische Aufarbeitung historischer, gesellschaftlicher und politischer Schattenreiche und Sumpfgebiete mit den Mitteln einer Doppel-, Mehr- und Vieldeutigkeit, die Alleinstellungsmerkmal ist und zweifellos eine zentralle Rolle bei der, sich bereits seit Jahren vollziehenden und qua astronomischer Discogs-Kurse bestätigten, Ikonisierung der Band und ihrer Veröffentlichungen spielt. Die radikale Abwesenheit eines vorgegebenen Deutungsrahmens – der, indem er Sinn stiftet, ja immer auch eine kommode Distanz zwischen Rezipient und Rezipiertem generiert – wirft den Hörer auf sich selbst und seine eigenen Deutungsmuster zurück, was seine Konfrontation mit dem jeweils Dargebotenen freilich noch unmittelbarer, frontaler und insofern beunruhigender macht. In der Konsequenz sagt die Interpretation bisweilen deutlich mehr über den Interpretierenden als über das Objekt seines Interpretierens aus. Ganz in diesem Sinne wird denn auch in den einleitenden Zeilen des beiliegenden Booklets angemerkt: "In fact, every form of art also has a political or politicizing content, in which form this is manifested is ultimately left to the viewer." Und so kann man sich angesichts des umfangreichen, bemerkenswert facettenreichen Materials einmal mehr nicht genug wundern über die heilige Einfalt vereinzelter Zeitgenossen, die aufgrund vorgeblicher politischer Unkorrektheiten partout in Schnappatmung verfallen wollen – ich meine: wie einfach gestrickt kann man, soll man, will man bitte sein?!



Nein, dem, der Augen hat, zu sehen, und Ohren, um zu hören, sollte eigentlich ziemlich flott klar werden, dass er es in Gestalt von "Civilization" so ziemlich mit dem exakten Gegenteil tumber Verherrlichung inhumaner Prinzipien, Ideologien oder Praktiken zu tun hat, nämlich mit einer fundierten, radikalen – im buchstäblichen Wortsinn eines "An-die-Wurzel-Gehens" – Freilegung und Hinterfragung jener historischen und weltanschaulichen Fundamente, die eine Zivilisation – im vorliegenden Fall die US-amerikanische, im Grunde aber jede – an ihrer Oberfläche gegen die nachtschwarzen Greuel des Unmenschlichen abgrenzen, während sie bei näherer Betrachtung ab ovo davon durchdrungen ist. Denn "ihr Anfang", um mit Friedrich Nietzsche zu sprechen, ist immer, "wie der Anfang alles Grossen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden." Und es ist dieser, von den Vertretern und Repräsentanten der westlichen Zivilisation aus Gründen moralischer Imprägnierung nur allzugerne ausgeblendete Umstand, den "Save Our Slaves" bzw. die vorliegende, erweiterte Neuauflage "Civilization" erbarmungslos in den Blick nimmt, ohne ihrerseits jedoch in pauschale Schwarz-Weiß-Schemata zu verfallen. Und höchstwahrscheinlich ist es eben jener Verzicht auf leicht fassbare Gut-Böse-Zuschreibungen, auf die substanzielle Verortung des Bösen in irgendeiner Rasse, Klasse oder Weltanschauung, in Kombination mit der dezidierten Verweigerung einer klar erkennbaren, eigenen Position, die ein Werk wie das vorliegende dem zeitgenössischen Kultur-Mainstream so suspekt macht, steht am Ende doch die Einsicht, dass das Böse, das Inhumane, das Grausame keineswegs etwas ist, das irgendwo – vor allem: irgendwo anders – seinen genuinen Platz hätte oder sich in irgendwem – vor allem: irgendwem anders – substanziell verkörperte, nein: es wandert, es transformiert sich nach Maßgabe seines jeweiligen Umfeldes – und es betrifft jeden einzelnen unmittelbar. Die subtile Kritik – wenn man's denn so nennen will –, die "Civilization" an Repression und Brutalität der weiß dominierten US-amerikanischen Gesellschaft der 1950er-, -60er- und -70er-Jahre übt, macht dort also keineswegs halt, sondern nimmt, der umrissenen Agenda entsprechend, auch die dunklen Aspekte der Gegenkultur in den Blick – und so schlägt das thematische Gesamtszenario einen Bogen vom Ku-Klux-Klan oder der ultrakonservativen John-Birch-Society über die Civil-Rights-Bewegung der 1950er- und 60er-Jahre, mittelamerikanische US-Satrapen wie den chilenischen Diktator Pinochet oder den haitianischen Machthaber "Baby Doc" Duvalier bis hin zum Serienkillerphänomen der 70er-Jahre, das aus gegebenem Anlass erst in dieser Dekade als solches überhaupt konkret wahrgenommen und explizit beschrieben wurde.


Rein musikalisch betrachtet zählen Tracks wie "I Want James Meredith", "Kill Useless Nations" oder eben "John Birch Society" zweifellos zu Klassikern jenes Oldschool-PE-Sounds, der sich durch seine ungeschliffene Bratzigkeit und kernige Aggressivität durchaus wohltuend vom abgezirkelten und bisweilen etwas zur Blutarmut neigenden Digitalnoise heutiger Tage abhebt. Insbesondere "John Birch Society" weiß mit einer mitreißenden, irgendwo zwischen den frühen SPK und BLACKHOUSE changierenden, ebenso dominanten wie charmant rumpeligen Beatsequenz noch heute das Tanzbein des postindustriellen Clubgängers in zackige Schwingungen zu versetzen. Verglichen mit späteren Veröffentlichungen von GENOCIDE ORGAN stehen die Vocals bei den "Save Our Slaves"-Tracks etwas im Hintergrund bzw. verschwimmen quasi mit diesem, tragen dessen ungeachtet mit ihrer typischen, verwaschenen Schraddeligkeit bei maximalem Ingrimm maßgeblich zur gewohnten Kompromisslosigkeit und Harshness bei. Im Rahmen des beigesellten Bonusmaterials fallen insbesondere das durch seine charmanten Spoken-Word-Samples bestechende "Weg der Verlorenen" von der 1997 erschienenen "Natural Order"-Compilation, das widerborstige, von martialischem Gebrüll durchzogene und erstmalig 1992 auf dem "Sound Of Hate Vol. 7"-Sampler erschienene "TonTon Macoutes" sowie das ebenso schmissige wie bekannte "Klan Kountry" durch ihr Hitpotential auf. Last but not least wird mit "Live at Lever Sunlicht" ein Tondokument vorgelegt, das mit seiner erfrischenden Brachialität selbst Live-Alben-Muffel wie den Autor dieser Zeilen vollumfänglich zu überzeugen weiß. Der Umstand also, dass all diese, lange und längst vergriffenen Perlen unter der Ägide von "Civilization" auf's Neue versammelt wurden, macht die Box insbesondere für relative Neueinsteiger in Sachen GENOCIDE ORGAN zum Pflichtprogramm. Für alte Hasen sieht es indes kaum anders aus, was nicht zuletzt der außergewöhnlich ansprechenden und hochwertigen Präsentation bzw. Verpackung geschuldet ist, auf die abschließend noch eingegangen werden soll.

GENOCIDE ORGAN @ TESCO 30th Anniversary, Mannheim, 28. Oktober 2017

"Civilization" ist in einer limitierten – und wenigstens bei TESCO selbst bereits vergriffenen – Vinyl- und einer ebenfalls limitierten CD-Version erschienen. In der massiven, hochstabilen und ausgesprochen luxuriös wirkenden Box finden sich vier, im typischen :GO:-Stil bedruckte LP-Hüllen: drei davon enthalten jeweils einen Vinyl-Zwölfzöller, der vierte hingegen die Beigaben, umfassend ein 24-seitiges, etwas größer als Din-A-4 gehaltenes Booklet aus kartoniertem Papier, einen bedruckten, handnummerierten Kartonbogen mit der Aufschrift "You bought slave No. .../500", einen weiteren mit Infos zur "Live at Lever Sunlicht"-Performance am 15. Dezember 1990, den Abzug einer Fotografie der Band (wieso eigentlich nur zu dritt?) vor der Silhouette des Mannheimer Strebelwerks aus dem Jahre 1991, sowie last but not least einen schwarz auf schwarz gestickten :GO:-Patch mit dem, von der Flower-Power-Heulboje JOAN BAEZ geprägten, im gegebenen Kontext freilich herrlich mehrdeutigen Hippieslogan "We Shall Overcome". Auch die CD-Version präsentiert sich dem potentiellen Käufer augenschmeichelnd im besagten, hochwertigen Leinen-Kartonage-Schuber, der vom Format her etwas kleiner als eine reguläre DVD-Hülle ist und einen ebensogroßen, zwei CDs fassenden 4-Panel-DigiPak sowie das 24-seitige Booklet in entsprechender Größe enthält. Wie man auf der TESCO-Seite lesen kann, ist jedoch nur für die aktuelle, erste Auflage der CD-Version von "Civilization" eine solch luxuriöse Aufmachung geplant – die Käufer nachfolgender Editionen müssen sich offenbar mit einer etwas bodenständigeren Verpackung bescheiden. Auch dies also ein Grund für den interessierten Leser, Für & Wider der Anschaffung nicht allzulange in seinem kleinen Herzen hin- und herzubewegen. Summa summarum kann man mit "Civilization" nämlich nichts falsch machen: Durchgängig famoses, inzwischen mittelschwer legendäres musikalisches Material wird hier auf eine Art und Weise neu aufbereitet, die in Form und Inhalt Maßstäbe setzt: Herz, was, zur Hölle, willst du mehr?

 
Endsal für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» GENOCIDE ORGAN @ discogs
» TESCO-Homepage
» TESCO @ bandcamp

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Zusammenfassung
Beeindruckende Neuauflage des :GO:-Klassikers "Save Our Slaves", angereichert mit umfangreichem Zusatzmaterial und präsentiert in einem luxuriösen Boxset, das sich gewaschen hat. Für Adepten wie Novizen in Sachen :GO: gleichermaßen eine Anschaffung, um die kaum herumzukommen ist - einfach grandios!

Inhalt
CD1: The Rise Of American Civilization

01: Death With Dignity (4:51)
02: I Want James Meredith (3:50)
03: John Birch Society (4:02)
04: Kill Useless Nations (4:51)
05: Patria Y Libertad (11:41)
06: Violent Coordinating Committee (5:23)
07: Dogday (7:09)
08: R.F. And His Law (2:28)
09: Weg der Verlorenen (4:26)
10: TonTon Macoutes (3:14)
11: Klan Kountry (5:41)
12: We Grow (5:25)
13: Search A Place To Die (6:01)

CD2: Live at Lever Sunlicht (49:25)

01a: Necros In Sky-Wars
01b: Search A Place To Die
01c: Kill Useless Nations
01d: Justice
01e: Amazade Y Negri
01f: Violent Coordinating Committee
01g: This Is No Lie
01h: A Documented Lie
01i: Patria Y Libertad

Vinyl-Version: 3 LPs + 24-seitiges Booklet, Inserts & Patch in hochwertigem Leinen-Karton-Schuber.
CD-Version: 2 CDs in 4-Panel-DigiPak+ 24-seitiges Booklet in hochwertigem Leinen-Karton-Schuber.
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