Nach dem Debüt
"Rumspringa" von 2015 legt die charmante italienische Post-
Industrial-Elfe ALICE KUNDALINI mit "Mine" nun ihr zweites reguläres Studioalbum unter dem Moniker
SHE SPREAD SORROW bei
COLD SPRING vor und entwickelt den Kurs, den sie mit dem
ziemlich brillanten Erstling vorgegeben hat, konsequent weiter. Der wurde vor etwas weniger als zwei Jahren an
dieser Stelle bereits mit unverhohlenem Enthusiasmus und Wohlwollen besprochen, war die musikalische Gesamtgemengelage, welche Signora KUNDALINI dort zur Entfaltung brachte, doch ebenso eigenständig und originell wie der thematische Hintergrund – Übergangsriten der Adoleszenz bei den Amish People (!) – von bizarrer Faszination war. Die Vergleiche mit PHARMAKON und PUCE MARY, die vor dem Hintergrund von "Rumspringa" bisweilen gezogen werden, haben eine gewisse Berechtigung: Abgesehen von dem augenfälligen Umstand, dass alle drei dem – im Genre eher spärlich vertretenen – weiblichen Geschlecht angehören und obendrein auch noch leidlich attraktiv sind, so sind die verhaltene, zwischen Vorder- und Hintergrund changierende Unruhe und die mal mehr, mal weniger kontrollierte Aggressivität, das Pendeln zwischen PE-/Noiseattacken und bisweilen fast ins Frickelige diffundierendem Psychosound, das mal mehr, mal weniger stark exponierte Thema der Geschlechtlichkeit – sind all das zweifellos Aspekte, die die Italienerin mit der US-Amerikanerin einer- und der Dänin andererseits verbinden. – "Mine" arbeitet nun stärker die Differenzen heraus: In Fragen des musikalischen Ausdrucks distanziert sich KUNDALINI mit ihrem neuen Album stärker von ihren Kolleginnen und findet noch mehr zu ihrem ureigenen Stil, kreuzt dabei allerdings auch deutlich hörbar das Fahrwasser von einem, den man bis dato nun gar nicht auf der Pfanne hatte, wenn's um
SHE SPREAD SORROW ging – doch der Reihe nach.
Dem ersten, oberflächlichen Zugriff präsentiert sich
"Mine" als jene raffinierte Melange aus Ritual-, Death- und Post-
Industrial nebst wohldosierter Dark-Ambient- und Experimental-Beimengungen, wie man sie, so ist man geneigt zu sagen, in dieser eindringlich-hypnotischen und unterkühlten Form von
SHE SPREAD SORROW durchaus erwarten durfte. Mit zunehmender Rezeptionsfrequenz wird allerdings klar, dass das Album deutlich reduzierter, konzentrierter und infolgedessen auch pointierter daherkommt als der insgesamt zwar durchaus noisiger und harscher, dafür aber auch unentschlossener und wankelmütiger tönende Vorgänger. Im Gegensatz zu diesem, der ja bereits im Titel bedeutungsschwangere Interpretationsräume eröffnet, lässt
"Mine" den interessierten Rezipienten mit der Frage nach dem thematischen Hintergrund weitestgehend im Regen stehen; alles, was man labelseitig dazu verlautbaren lässt, ist das folgende, einigermaßen deutungsoffene Statement:
"Between the dark rooms of an abandoned college, where whispers and obscene thoughts mingle, where little bells and distortions come together, the inner voices are fleeing to the rules of harmony to awaken a darker sound, hidden and deprived, of those who have something to hide." – Was soll man sagen? So weit, so gut. Geht man von dem aus, was die, nicht unbedingt allzu umfangreichen, Lyrics so hergeben, so dreht sich das Ganze, kurz gesagt, um zwischenmenschliche Abgründe und die Irrungen und Wirrungen intersexuellen Mit- und Gegeneinanders. So in etwa. Auf dem Cover sieht man die Künstlerin höchstselbst, in baufälligem Ambiente (es handelt sich wohl um das besagte
"abandoned college") und mit einem roten, kurzen Kleidchen angetan, auf einer Art Altaraufbau knien und sich konsterniert mit beiden Händen an die Stirn fassen. Betrachtet man dieses Bild insbesondere in Verbindung mit dem, das komplette obere Drittel des Frontcovers einnehmenden Titelschriftzug
"Mine“, so scheint der Schluss auf die musikalische Verarbeitung einer emotional fragilen Gemengelage jedenfalls nicht
allzu waghalsig.
Doch sei dem, wie dem sei. Mit
"Crushed On The Pillow" beginnt das Ganze ebenso bedächtig wie unbehaglich: sparsame Elektronik mit allerlei Metal-Junk-Gerumpel und KUNDALINIs eindringlichem Sprechgesang generieren eine beunruhigende Atmosphäre, die ohne jeden akustischen Gewaltschlag auskommt. Mit Track No. 2,
"Lust", dem ersten großen "Hit" des Albums, betritt dann unüberhörber jener Kollege das referenzielle Parkett, dessen Fahrgewässer eingangs schon Erwähnung fanden, denn wer angesichts dieses, langsam sich immer höher emporschraubenden Loops
nicht an IRON FIST OF THE SUNs
"Smile Like Sword" denken muss, dem können auch Drogen nur noch wenig anhaben. Im Gegensatz zu dem geharnischten Zorn, der dem Hörer bei IFOTS entgegenschlägt, bleiben KUNDALINIs Vocals jedoch weitgehend verhalten, kontrolliert, emotionslos, was im Rahmen der noch reduzierter instrumentierten Folgetracks
"On The Bank Of The River" und "Mine" noch weiter vertieft wird. Deren interne Spannung ist maßgeblich auf eben diesen eigentümlichen Flüsterwisperschreisprechgesang zurückzuführen, wobei der etwas langatmig einsetzende Titeltrack in der zweiten Hälfte kraft massiver basslastiger Einschläge unverhofft noch einmal deutlich Druck aufbaut. "Hit" No. 2 jedoch ist ganz klar das letzte Stück, "Straight Back", eine abermals geradezu asketisch reduzierte, hyperfaszinierende, quälend langsam vor sich hingroovende Elektronik-Nummer, die nicht nur beinahe, sondern ziemlich entschlossen ins Cold-Wave-Genre diffundiert: der Rezensent wenigstens fühlte sich deutlich an NOVEMBER NÖVELET und Artverwandtes erinnert. – Trotzdem sei an dieser Stelle übrigens energisch jedem Ansinnen entgegengetreten, aus den geschilderten Referenzen auf mangelnde Originalität oder Authentizität zu schließen: Nichts könnte unzutreffender sein. Ganz im Gegenteil hat ALICE KUNDALINI ihre Talente seit
"Rumspringa" weiter verfeinert und verfolgt unbeirrt eine klare Linie, die sie peu à peu von allen überflüssigen Schnörkeln befreit: "Mine" ist reifer, beeindruckender als "Rumspringa", ganz einfach, weil es das essenziellere, substanziellere, konzentriertere und dichtere Album von beiden ist. Punkt.
Kurzum: Für all jene Connaisseurs des gepflegten (post-)industriellen Hörvergnügens, die nicht immer nur tagtäglich Stund' um Stunde mit dem Vorschlaghammer das Trommelfell poliert bekommen wollen, sondern auch mit ruhigeren, doch nicht minder massiven musikalischen Maßnahmen etwas anfangen können, ist "Mine" definitiv eine Empfehlung wert. Für alle, die PHARMAKON, PUCE MARY oder IFOTS mögen, sowieso. Doch Obacht: Man muss sich 'reinhören! Dies ist kein Album, dass dem Rezipienten auf "drei" in den Gehörgang springt und mindestens drei Tage lang nicht mehr herauskommt, nein: es handelt sich hier um ein sprödes Juwel, das entdeckt werden will – und so bedarf es auch mehrerer Hördurchgänge, um seine abgründige Schönheit zu erschließen. Es lohnt sich allemal.