"Execution Tourism (The Dialectic Of Violence)" ist das Debütalbum des Marburger Musikers WØLF HOUR, dessen Projektname SALÒ SALON in Kombination mit dem Albumtitel bereits ahnen macht, in welche Richtung jene Fülle zeit- und kulturgeschichtlicher Kreuz- und Querverweise gehen könnte, mit denen es der geneigte Rezipient in der Folge zu tun bekommt: "Salò" ist der italienische Originaltitel des, 1975 von PIER PAOLO PASOLINI nach der literarischen Vorlage des MARQUIS DE SADE gedrehten, Films "Die 120 Tage von Sodom“, der seinerseits auf die "Republik von Salò" verweist, jenen faschistischen Satellitenstaat, den Mussolini mit Hilfe der deutschen Wehrmacht nach dem Zusammenbruch der faschistischen Herrschaft 1943 in Salò am Gardasee proklamierte und bis zum Kriegsende 1945 anführte. Titel wie "Daseinsnichtung", "Caesarism (The Third Way)" oder "Wesensstrenge" befördern die Annahme zusätzlich, es könnte sich bei dem vorliegenden Werk um eine der im postindustriellen Musiksektor nicht gar so seltenen Reflexionen über das Spannungsfeld zwischen Wille & Macht, Herrschaft & Gewalt, Elitarismus & Nihilismus etc. handeln, und ein Blick auf die bei Bandcamp gesetzten Tags lässt in dieser Hinsicht letzte Zweifel schwinden. Wer angesichts vielzitierter Namen wie Evola, Spengler oder Schopenhauer nun allerdings narkoleptische Attacken befürchtet, weil er davon ausgeht, den x-ten Aufguss irgendwelchen TRIARIIesken Fanfarengeschredders vorgesetzt zu bekommen, ist erfreulicherweise bemerkenswert schief gewickelt.
Nein, pathosgesättigtes Hum-ta-ta und bedeutungsschwangeres Gedröhne sind SALÒ SALONs Sache nicht, weit mehr orientiert man sich offenbar an jenem musikalischen Kulturpessimismus mit ausgeprägt experimenteller Note, wie er exemplarisch in ASMUS TIETCHENS' Veröffentlichungen der 1980er-Jahre Ausdruck fand. Man denke an Platten wie "Geboren, um zu dienen" oder "Aus Freude am Elend", will man eine ungefähre Vorstellung jenes speziellen Oldschool-Faktors bekommen, der für "Execution Tourism" maßgeblich ist. Diese Familienähnlichkeit wird durch das im Booklet abgedruckte CIORAN-Zitat zusätzlich unterstrichen, denn bekanntlich war es TIETCHENS, der in den 80er- und 90er-Jahren ein ausgeprägtes Faible für den, hierzulande damals noch vergleichsweise unbekannten, rumänischstämmigen Paradenihilisten aufwies und seinem Coverartwork mit dessen Bonmots gerne den letzten misanthropischen Schliff verpasste. Und ja, schon während der Erst-, spätestens aber während der Zweitdegustation fühlte sich der Verfasser zunehmend an den Hamburger Altmeister des akademischen Frickelindustrial erinnert: Es ist wohl die spezielle instrumentale Kombination aus Metallschlagwerk, Ölfassgerumpel, diversen analogen oder wenigstens analog klingenden Sounds sowie diversen Samples, die TIETCHENS' Musik jene unverwechselbare Atmosphäre verleihen, die SALÒ SALON insbesondere im Rahmen der Tracks "Von der Wiederkehr", "Daseinsnichtung" und "Resentment (The Second)" erstaunlich gelungen reproduziert, ohne deshalb unauthentisch zu wirken.
Das zweite Referenzobjekt, das sich dem Rezensenten förmlich aufdrängte, passt deutlich besser in die oben umrissene, genrespezifische Gemengelage, und das hängt nicht zuletzt mit dem speziellen Gebrauch zusammen, der auf dem Album von, meist aus dem politischen Kontext stammenden, Sprachsamples gemacht wird, sowie mit der speziellen Art & Weise, wie sie in den, mal eher verwaschenen, mal offensiv dröhnenden, mal harsch verrauschten musikalischen Kontext eingearbeitet sind. Bei Stücken wie dem, von des "Duces" Gebell durchzogenen, "Gestaltwerdung", oder dem, eine Rede von Oswald Mosley verwurstenden, "Caesarism (The Third Way)" muss man jedenfalls keine allzu ausufernde Phantasie besitzen, um relativ zwanglos eine Verbindung zu den französischen Martial-Veteranen von LES JOYAUX DE LA PRINCESSE zu knüpfen, wenn deren emphatischer Schwung und subtiles Pathos SALÒ SALON auch weitestgehend abgeht, was im vorliegenden Kontext übrigens klar als Pluspunkt aufzufassen ist. Besonders vergleichsträchtig erscheint in diesem Zusammenhang die 2001 erschienene Kollaboration "Absinthe – La Folie Verte" von LJDLP und BLOOD AXIS, deren irrlichternde und auf ungesunde Art verträumte Atmosphäre sich in Tracks wie "Sometimes Even The Blind Can See Beauty" oder "Morgue Waltz" widerspiegelt. Übrigens kommt der weiter oben bereits erwähnte EMILE M. CIORAN in dem Track "Wesensstrenge" höchstselbst zu Wort, was insofern durchaus passend ist, als es sich um eines der Stücke mit der höchsten TIETCHENS-Affinität handelt. Und dass es sich Meister WØLF HOUR angesichts des gewählten Projektnamens nicht hat nehmen lassen, in die Tracks "Anthropological Requirements" und "Girone Delle Manie" umfangreichere Sprachpassagen aus dem besagten "Salò" aka "Die 120 Tage von Sodom" einzuarbeiten, versteht sich freilich von selbst.
Summa summarum stellt "Execution Tourism (The Dialectic Of Violence)" ein solides, vielversprechendes Debütalbum dar, das insbesondere für all jene von gesteigertem Interesse sein dürfte, die sich ungeachtet jener alternativlosen Schönen Neuen Welt, deren immer rasanteres Wuchern wir als staunende Zeitzeugen derzeit miterleben dürfen, ein Faible für die eher martialischen Spielarten des postindustriellen Genres bewahrt haben, ohne sich für den eindimensionalen, fanfarengesättigten Pathosschmonz begeistern zu können, dem man in diesen musikalischen Gefilden leider nur zu oft begegnet. Die professionell produzierte CD-R ist in einer Auflage von 120 handnumerierten Exemplaren beim einschlägigen britischen Label 412RECORDINGS erschienen, und den ersten 50 Exemplaren sind als kleines Schmankerl obendrein noch zwei dekorative Buttons mit Variationen auf das Bandlogo beigelegt, es soll sich also keiner beschweren, er bekäme nichts fürs Geld. – Nach diesem, durchaus gelungenen, Einstieg ist mit SALÒ SALON jedenfalls zu rechnen: Man darf gespannt sein, wie die Entwicklung weitergeht ...
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Zusammenfassung
Das gelungene Debüt des Marburger Projektes präsentiert pathos- & klischeearmen Martial Industrial mit ausgeprägtem Oldschool-Charme, der auf inhaltliche Substanz, Komplexität & Facettenreichtum statt auf inflationäres Fanfarengeschmetter, Trommelgewirbel & Wagnersamples setzt.
Inhalt
01: Von der Wiederkehr (2:06)
02: Anthropological Requirements (6:17)
03: Sometimes Even The Blind Can See Beauty (2:44)
04: Daseinsnichtung (5:15)
05: Gestaltwerdung (2:05)
06: Girone Delle Manie (8:23)
07: Caesarism (The Third Way) (3:44)
08: Morgue Waltz (4:26)
09: Wesensstrenge (2:29)
10: Resentment (The Second) (4:18)
CD-R im Jewel Case mit vierseitigem Booklet, limitiert auf 120 Stück; die ersten 50 Exemplaren inklusive zwei Buttons mit Bandlogo.