SHE SPREAD SORROW ist das Solounternehmen der Italienerin ALICE KUNDALINI, die ansonsten bereits seit einigen Jahren emsig als Teil von
DEVIATED SISTER TV in Sachen Noise aktiv ist. Mit ihrem neuen Projekt produziert sie laut Selbstdarstellung
"Ritual deathscapes, obscure Death Industrial, sinful Power Electronics" und wird labelseitig in unmittelbarer Nachbarschaft zu PUCE MARY, PHARMAKON und SEWER GODDESS positioniert. In der Tat geht diese Charakterisierung des KUNDALINIschen Treibens keineswegs fehl, was
freilich zuallererst einmal dem simplen Umstand geschuldet ist, dass es sich in allen genannten Fällen um weibliche Protagonisten handelt, welchselbige in Noise- und PE-Gefilden bislang bekanntlich immer noch einigermaßen unterrepräsentiert sind – um dieses betrübliche Faktum einmal mit höflichem Understatement zu formulieren. Obendrein erweist sich Signora KUNDALINI, lässt man den Blick wohlwollend über einschlägiges Bildmaterial schweifen, als ausgesprochen attraktiv, was eine weitere, selbstredend ganz und gar unwesentliche – schließlich will sich der Verfasser nicht jenem wohlfeilen Sexismusvorwurf aussetzen, der heute ganz fix denjenigen überrollen kann, der so naiv ist, Offensichtliches ganz ungeniert auszusprechen – Parallele zu den genannten Vergleichsmusikantinnen abgibt. Viel wesentlicher erscheint indes unzweifelhaft die musikalische Affinität: dies gilt dezidiert für PUCE MARY und PHARMAKON, weniger allerdings für SEWER GODDESS, deren bratziger und in letzter Zeit zunehmend metallastiger Post Industrial denn doch in einiger Ferne zu jenem bedächtig-kontemplativen, ausgesprochen unterkühlten und distanzierten, ebenso harschen wie fragilen Noisekonglomerat angesiedelt ist, das SHE SPREAD SORROW auf dem vorliegenden Debüt zelebriert.
Was den musikalischen Output der ALICE K. hinwieder
deutlich von dem der US-Amerikanerin MARGARET CHARDIET aka PHARMAKON unterscheidet, sind die überwiegend
wispernd-flüsternden Vocals, die zwischen wummernden, sich kontinuierlich über- und untereinanderschiebenden, an- und abschwellenden Soundpatterns herumgeistern. Ist also der hippen New Yorker Performerin ihr gleichermaßen aggressives wie agonales Geschrei recht, so ist der Dame aus bella Italia ihr verhaltenes Genuschel und Getuschel nur billig, das zwar weniger brachial daherkommt, seine hypnotische Wirkung jedoch mitnichten verfehlt. Auch der Gesang von FREDERIKKE HOFFMEIER alias PUCE MARY wirkt im Vergleich druckvoller und aggressiver, in Sachen Sound sind die Parallelen dafür aber deutlich ausgeprägter, wenn SHE SPREAD SORROW auch vollkommen auf jene vereinzelt auftretenden Rhythmuspassagen verzichtet, die die Dänin bisweilen aus dem Hut zaubert, und sich allein auf wummernde, grummelnde und pulsierende Soundflächen konzentriert, die mal mehr, mal weniger von allerlei Störfrequenzen durchkreuzt und durch den Effektfleischwolf gedreht werden. In Kombination mit den durchgängig zum Einsatz kommenden Wispervocals ergibt das ein, auf abgründige Weise bezauberndes und dennoch hermetisch abgeschlossenes, mal atmosphärisches, mal pathologisch tönendes, oftmals verstörendes, aber stets ausgesprochen faszinierendes Gesamtszenario, das in der gebotenen musikalischen Komplexität und kompositorischen Dichte einigermaßen bemerkenswert ist – dies umso mehr, als es sich, wie eingangs bereits erwähnt, um ein Debütalbum handelt.
ALICE KUNDALINI/SHE SPREAD SORROW
"She Spread Sorrow is chastity. She Spread Sorrow is discipline. She Spread Sorrow is denial.", schreibt ALICE KUNDALINI auf ihrer
Projekt-Homepage, und wer
"Rumspringa" ein paarmal durchgehört hat, wird dieses kurze Quasi-Manifest angesichts der schieren Distanz und
Haltung (das Wort im durchaus preußischen Sinne verstanden), welche in dieser Musik zum Ausdruck kommen, intuitiv nachvollziehen können. Der in deutschen Ohren ein wenig ulkig klingende Albumtitel ist übrigens dem Sprachgebrauch der
Amish People entlehnt, die, ursprünglich aus dem deutschsprachigen Raum stammend, im Laufe des 18. Jahrhunderts in die USA, und hier vor allem in den Bundesstaat Pennsylvania, auswanderten. Er bezeichnet in dieser, einem streng puritanisch-reformatorischen Christentum fröhnenden, Glaubensgemeinschaft die Zeit der Adoleszenz, in der es dem amischen Jugendlichen ausdrücklich erlaubt ist, sich – auch und gerade in sexueller Hinsicht – auszuprobieren: der Amish-Teenager darf in dieser Phase die heimische Gemeinde verlassen und in die Welt hinausziehen, um andere Lebensentwürfe kennenzulernen und zu erforschen. Erst in der Kontrastierung zu seinem neu gewonnenen
"Rumspringa"-Erfahrungshorizont entscheidet der junge Amish schließlich, ob er sich durch das Zeremoniell der so genannten "Übersprengtaufe" endgültig und verbindlich den Glaubensstatuten seiner angestammten Religionsgemeinschaft unterwirft oder aber einen Bruch vollzieht und ihr endgültig und irreversibel den Rücken zukehrt. Wir sehen, dass der seitens SHE SPREAD SORROW postulierte Dreiklang
"chastity - discipline - denial" auch in diesem Kontext eines gewissen programmatischen G'schmäckles nicht entbehrt. Inwieweit übrigens die Künstlerin selbst biographische Schnittstellen mit den Amish aufweist, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten bedauerlicherweise, betrachtet man allerdings den, nun ja, nicht allzu christlich orientierten künstlerischen Output der Dame im Verlauf der letzten Jahre, so dürften diese – so überhaupt vorhanden –
verdammt tief in der Vergangenheit begraben liegen. Überdies präsentiert sich der dergestalt angerissene Themenkomplex vor dem Hintergrund der düster-blutigen Bilder, die das
Promovideo zur frei flottierenden Phantasie des interessierten Rezipienten beisteuert, ohnehin in einer reichlich zwielichtigen, morbiden Aura, die diffus Unbehagliches ahnen macht.
In jedem Fall legt
COLD SPRING mit
"Rumspringa" ein erfreulich unkonventionelles und – aller Unterkühltheit und Distanziertheit zum Trotz – energetisches Debütalbum einer Künstlerin vor, deren Arbeit nicht mehr und nicht weniger als frisches Blut für ein Genre bedeutet, das bisweilen doch arg an seinem Hang zu notorischer Selbstreferenzialität, Plagiiererei und Musealisierung krankt. Aus den sechs auf der CD versammelten Titeln einen "Hit" herauszuklauben, erschien dem Rezensenten von Hördurchlauf zu Hördurchlauf unangemessener, ja: unmöglicher, da der interne Zusammenhang des Materials und das organische Ganze das es bildet, peu à peu immer unüberhörbarer werden. Dieses Album will entdeckt und erforscht werden, wie der "rumspringende" junge Amish die Verheißungen der Welt erforscht, vor der er die ersten 15, 16 Jahre seines Lebens ängstlich abgeschirmt wurde. Es lockt das Unbekannte. Es lauern die Abgründe. – In dieses Album sollte man sich langsam und beharrlich einhören und einfühlen, da es seine Juwelen nicht bei erstbester Gelegenheit jedem dahergelaufenen Einfach-mal-so-Durchskipper hinterherschmeißt. Es fordert vom Hörer, sich unvoreingenommen und konzentriert einzulassen – doch es lohnt die aufgewendete rezeptive Geduld in vollem Umfang. Wie gesagt: Dieses Album ist eine Frischzellenkur für den (Post-)Industrialsektor, praktiziert von einer Frau, deren Attraktivität tatsächlich ein ebenso erfreuliches wie letztlich unwesentliches Sahnehäubchen auf bemerkenswerter
musikalischer Klasse ist.