Um eventueller Verwirrung gleich in der Einleitung entschlossen entgegenzutreten: Ja, die Compilation zum diesjährigen – dritten –
"Epicurean Escapism"-Festival ist nicht, wie man in Analogie zum Vorgänger
"Epicurean Escapism II" annehmen möchte, "Epicurean Escapism III", sondern tatsächlich
"Epicurean Escapism I" betitelt. Für diese kleine, nominelle Inkonsequenz ist keineswegs ein Fehler beim Druck des schnieken, CD, DVD und Katalog enthaltenden, DIN-A-5-Folders, sondern
THE EPICUREANs Perfektionismus ursächlich, dem die ästhetisch-formale Inkongruenz, die sich zwischen dem 2012 zur Festival-Erstausgabe erschienenen
Tape/DVDr-Bundle und dem Nachfolger von 2013 auftut, offenbar solches Unbehagen bereitete, dass er sie nun im Nachgang geschlossen hat. Angesichts einer solchen Disposition darf man freilich jetzt schon gespannt sein, wie der umtriebige Musiker und Labelbetreiber im nächsten Jahr mit der drohenden Schieflage umzugehen gedenkt, die sich zwischen einem "Epicurean Escapism IV"-Festival nebst flankierender "Epicurean Escapism III"-Compilation ergibt. Nun ja, warten wir's ab, so Gott und
THE EPICUREAN wollen, werden wir's ja erleben.
Wie schon der Vorgänger, so umfasst das überaus geschmackssicher und unaufdringlich gestaltete Bundle eine Compilation-CD, eine DVD und ein Booklet im DIN-A-5-Format, das unter dem Titel
"Martin Bladh. Victim And Executioner" die auf der DVD zusammengestellten Videoarbeiten des IRM-Frontmannes zum Gegenstand hat. Dies mit gutem Grund, denn die Filme des schwedischen Musikers und Performance-Künstlers sind zweifelsohne schwere Kost, die dem, der sie unvorbereitet bzw. unkommentiert zu genießen gedenkt, unter Umständen einigermaßen quer im Magen liegen bleiben könnten – und zur Vorbeugung gegen dergleichen hermeneutische Indigestionen leistet das 20-seitige, hochprofessionell gedruckte Heftchen in der Tat hervorragende Dienste. – Im Gegensatz übrigens zur begleitenden
Compilation zu
"Epicurean Escapism II", die von jedem der 2013 aufgetretenen Künstler ein exklusives Stück enthielt, ist der Nachfolger nur
sehr locker am faktischen Line-Up angelehnt; so fällt nicht nur dessen extrem hoher
CMI-Faktor völlig unter den Tisch, nein: Streng genommen hat mit Ausnahme von
HUMAN LARVAE keines der auf der CD versammelten Projekte im Sommer 2014 in Berlin gespielt, vielmehr kommt ein 1:1-Abbild des
Line-Ups von 2012 zur Präsentation, was den gewählten Titel freilich in vollem Umfang rechtfertigt und das gesamte Unternehmen zu einem Hybriden aus überarbeiteter Debüt- und aktueller Festival-Compilation macht. Indes, der Zusammenhang zu
"Epicurean Escapism III/Der Tag der Befreiung ist nah (19)" bleibt durch personelle Überschneidungen gewahrt: So ist
IRM ja bekanntermaßen die Band von
MARTIN BLADH, der als Solo-Musiker und Videokünstler vertreten war, und
KRANK das ebenso langjährige wie extrem sporadisch aktive Nebenprojekt des JOHN MURPHY, der mit
LAST DOMINION LOST und THE GRIMSEL PATH gleich an zwei performenden Acts beteiligt war. Der einzige, der
ausschließlichen Bezug zu 2012, jedoch keinen zum diesjährigen Event hat, ist
JARL, doch sei dies angesichts der außerordentlich hohen Qualität seines Beitrages nachgesehen – man will ja keine Erbsenzählerei betreiben. Um nichtsdestoweniger und der Vollständigkeit halber den einzig nennenswerten Kritikpunkt also noch vor der detaillierten Besprechung abzuhaken: Angesichts des
extrem strikt an "Epicurean Escapism II" angelehnten corporate designs verwirrt die strukturell-programmatische Inkonsequenz hinsichtlich des Line-Ups dann doch ein wenig. Das war's aber auch schon mit der Kritik – wer lieber Verrisse liest, kann also spätestens an dieser Stelle die Lektüre einstellen. Alle anderen sind herzlich eingeladen, dem Rezensenten auf einem mittelschwer euphorischen Spaziergang durch eine rundum gelungene Veröffentlichung zu folgen.
Wer mit dem Werk von
IRM im allgemeinen und
MARTIN BLADH im besonderen auch nur halbwegs vertraut ist, weiß, dass der Mann ein
sehr spezielles Verhältnis zu Körperlichkeit sowie deren gewaltsamer Modifikation hat und dieses in seinen Arbeiten auch immer wieder aufs Neue durchdekliniert. Wer im August dieses Jahres
BLADHs Performance in Berlin verfolgt hat, wird ahnen, was ich meine, denn dass es dem schmächtigen, blassen, irgendwie verhuscht wirkenden Mann in Unterhosen, der da mit nervös zuckendem Gesicht in verkrampfter Haltung auf der Bühne stand, in irgendeiner Weise um die Thematisierung von Demütigung und Erniedrigung, das Verhältnis von passivem Opfer und aktivem Aggressor, kurzum, um jene ewige Dynamik zwischen den Polaritäten ging, die sich besonders unmittelbar im Spannungsfeld von Sex und Gewalt ausdrückt, war für den, der Augen hat zu sehen, im Grunde genommen auch ohne weitere Vorkenntnisse offenkundig. Desgleichen drängt sich dem Zuschauer auch die Verbindung zum
Wiener Aktionismus, in dessen Tradition BLADH sich im weiteren Sinne sieht, beinahe von selber auf, denn ganz im Sinne dessen radikalster Exponenten
RUDOLF SCHWARZKOGLER und
GÜNTER BRUS bedient sich auch BLADH des eigenen Körpers als Ausdruckmedium seiner Kunst – und das in einer Art und Weise, die … nun ja ... für zart besaitete Gemüter eher weniger geeignet ist. Ganz in diesem Sinne schickt auch
CARL ABRAHAMSSON, Urgestein der schwedischen (Post-)Industrial-Community, bereits im ersten Abschnitt seines Vorwortes zum Katalog folgende warnende Worte voraus:
"If you're faint at heart or prefer art that's easily understandable, you should probably stay away. Martin Bladh's art is complex, terrifying gory introspective, violent and frustrating." Es soll keiner sagen, er habe nicht geahnt, was auf ihn zukommt.
Auf der DVD finden sich fünf Kurzfilme aus den Jahren 2005-2009, deren längster, die knapp halbstündige, am "Werk" des, auf
ziemlich eigenwillige, ja, groteske Weise ästhetizistisch veranlagten, britischen Serienkillers
DENNIS NILSEN orientierte Collage "DES", bereits im August in Berlin zur Aufführung gelangte. Dieser, sowie die beiden Filme "Cycle" und "Pig And Tomboy" beschäftigen sich mit dem bereits umrissenen Spannungsfeld zwischen dem passiv-erduldenden Part des Opfers und dem aktiv-dominanten des Täters. Insbesondere "Pig And Tomboy" entzückt durch ein zusätzliches Besetzungs-Bonbon, gibt hier doch der, ebenfalls aus Norrköping stammende PETER ANDERSSON aka
RAISON D'ÊTRE den mit Nylonstrumpfhosen und BH bewehrten "Masochisten", der seinerseits von BLADH, in der Rolle des "Sadisten" mit fieser Schweinemaske angetan, malträtiert wird. Im Unterschied hierzu beschäftigen sich der, nur wenige Minuten dauernde und von einem – im Booklet abgedruckten – Kurztext
GEORGE BATAILLEs inspirierte, Clip "Hole³" (im Interesse der Intensitätsmaximierung empfehle ich den Genuss unmittelbar vor einem anstehenden Zahnarztbesuch!) und insbesondere das über 20 Minuten dauernde Opus "Matt. 5: 29-30" mit den Themen Fleischlichkeit und (Selbst-)Verstümmelung. Beide Filme sind insofern noch asketischer, ja, solipsistischer konzipiert, als BLADH hier tatsächlich als einziger agierender Charakter verbleibt, vollkommen auf seine Körperlichkeit konzentriert, und – insbesondere in "Matt. 5: 29-30" - ganz buchstäblich Täter und Opfer in Personalunion verkörpernd. Für die weniger Bibelfesten unter der geschätzten Leserschaft sei der im Titel angezeigte Vers aus dem "Buch der Bücher" an dieser Stelle wiedergegeben, erscheint er im Kontext des Dargelegten doch ebenso vielsagend wie aufschlussreich:
"Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf's von dir. Es ist dir besser, daß eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. Ärgert dich deine rechte Hand, so haue sie ab und wirf sie von dir. Es ist dir besser, daß eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde." Der Katalog leistet dem Rezipienten bei seinen hermeneutischen Bemühungen wertvolle Hilfe und verortet das Gesehene in einem kunsttheoretischen Kontext irgendwo zwischen
ANTONIN ARTAUDs "Théâtre de la cruauté", BATAILLEs "Mystik der Ausschweifung" und dem Grundkonzept einer dionysisch orientierten, performativen Aufdeckung unterdrückter Impulse, wie es im Wiener Aktionismus verfolgt wurde. Auf ebenso fesselnde wie informative Weise bekommt der Leser Textausschnitte und Zitate, kurze Essays und listenartige Aufzählungen präsentiert, die, garniert mit entsprechendem Fotomaterial, geeignet sind, die ersten, ebenso diffusen wie ahnungsvollen Eindrücke zu ordnen und in einen konsistenten Gesamtrahmen zu überführen. Selten ist dem Rezensenten jedenfalls ein annähernd gelungenes, weil ungewöhnlich instruktives Begleitheftchen untergekommen wie das vorliegende. Wer die notwendige Zeit und Muße investiert, um sich intensiver damit zu beschäftigen, wird unter der Oberfläche des, auf den ersten Blick zweifelsohne verstörenden und beklemmenden Videomaterials, eine überraschende Vielfalt an Perspektiven und Bezügen entdecken, die eine ganz neue Dimensionstiefe eröffnen. Wer zu dieser Investition
nicht bereit ist, wird hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit an der sperrig-distanzierten Oberfläche scheitern bzw. hängenbleiben. Demgemäß kann CARL ABRAHAMSSON in seiner abschließenden Einschätzung hinsichtlich der Zielgruppe des BLADHschen Werkes nur beigepflichtet werden:
"Not for everyone, but perhaps for someone?“ …Der musikalische Teil des "Epicurean Escapism I"-Sets wird, wie oben bereits angesprochen, von lediglich vier Projekten bestritten, die zur Compilation-CD einigermaßen epische Tracks von einer Spieldauer zwischen 10 und 25 Minuten beigesteuert haben. Den Anfang macht der notorische JOHN MURPHY alias KRANK: "Eyes Half Closed" ist eine weitere Soundcollage und, gemessen an den üblichen Standards des Projektes, ungewöhnlich ruhig, man ist schon fast versucht, sie ein wenig verträumt zu finden – dieser Eindruck wird freilich durch eine ganz wesentliche Neuerung provoziert, den Umstand nämlich, dass ANNIE STUBBS – eine Weggefährtin MURPHYs aus alten SPK-Tagen und zuletzt am
aktuellen LAST DOMINION LOST-Album beteiligt –
Vocals (sic!!) beisteuert. Nun mag das selbstverständlich Geschmacksache sein, dem Rezensenten jedoch ist exakt dieser Umstand ursächlich für eine gewisse Aversion: Zu kapriziös und artifiziell kommt dieser, an sich durchaus wohltönende, Gesang daher, zu disparat verhält er sich in seiner bemühten Verspieltheit zum restlichen Sound und verleiht dem Stück dergestalt in der Gesamtschau einen irgendwie schalen Beigeschmack von … äh …
Kunststudentenmusik. Doch wie bereits angemerkt, ist diese Einschätzung durchaus subjektiv, die Wirkung von "Eyes Half Closed" mag von anderen also gänzlich anders beurteilt werden. Schlecht ist das Stück keineswegs, doch braucht man wohl das entsprechende G'schmäckle – und das geht dem Herrn Endsal bis dato leider ab.
IRMs "Tryptich", der Anschlusstrack, steht – der Titel legt es bereits nahe – im Kontext der "Indications"-Trilogie, die nach der
"Indications Of Nigredo"-12" von 2008 und der CD
"Order⁴" von 2010 unlängst mit dem aktuellen Album
"Closure" abgeschlossen wurde. Und so tauchen in dem knapp 17 Minuten dauernden und im positivsten denkbaren Sinne für IRM
typischen Stück immer wieder aus den "Indications"-Veröffentlichungen bereits vertraute Soundfetzen, Text- und Musikpassagen auf, die insgesamt betrachtet ein Szenario konstituieren, das tatsächlich eine grob dreischrittige Strukturierung erkennen lässt. Weitere Charakterisierungs- und Beschreibungs
versuche sind ebenso zeitraubend wie überflüssig: "Tryptich" ist nichts weniger als ein dicht gepacktes, ebenso kontemplativ wie brutal daherkommendes Juwel, das im Rahmen einer raffinierten Komposition der Einzelpassagen eine geraffte und konzentrierte Gesamtschau aller drei Teile der "Indications"-Trilogie präsentiert.
Mit "Shining with Insignificance / Reviving in Obscurity", einer Kollaboration zwischen den beiden Wahl-Berlinern
HUMAN LARVAE &
ANEMONE TUBE bekommen wir sozusagen das Beste aus beiden Welten um, auf und in die Löffel gehauen: Beginnt der Track auch betont ruppig mit einem dichten, flächigen Noiseteppich, der im weiteren Verlauf durch die typisch agonalen Vocals von HUMAN LARVAE angereichert und getragen wird, schwenkt er gegen die Mitte hin in ruhigere, zunehmend sphärischere Gefilde über, die, man glaubt es kaum, eine schon fast ambientartige Friedlichkeit ALIO DIE'scher Manier atmen. Freilich ist dieser Friede nur von recht kurzer Dauer und so steigt im letzten Viertel des Tracks langsam wieder das Distortion-Wetterleuchten am Horizont auf und führt das Stück, flankiert von sirenenartigem Sirren, einem oberflächlich ruhigen, untergründig jedoch kühlen und ungemütlichen Ende entgegen.
JARLS "A Case of Inbreeding: A Homage to my Doppelganger" (was für ein Titel!) schließlich bildet mit seinen stolzen, gut 25 Minuten Laufzeit den krönenden Abschluss des dritten/ersten Teils der "Epicurean Escapism"-Compilation-Reihe. Es handelt sich um einen maelstromartig voranwalzenden, hypnotischen Dark Ambient-Track mit dezidiert droniger Note, wie man das von ERIK JARL im Prinzip kennt. Dieser hier erscheint dem Verfasser allerdings
außergewöhnlich ruhig, ja, geradezu meditativ – mit ausgeprägt ritueller Note obendrein. Entscheidend in dieser Hinsicht ist wohl das kontinuierlich dominanter werdende Geklingel und Gebimmel, welches sich mit voranschreitender Laufzeit über den statischen Drone-Loop schiebt, der die Grundstruktur des Stückes bestimmt. Und da der Rest bekanntlich Schweigen ist, kommt JARL auch als einziger Teilnehmer gänzlich
ohne Vocals aus – die würden in der kalten Leere, die sein Beitrag evoziert, ohnehin nur stören. Der Hörer jedenfalls bleibt geplättet zurück.
Fazit: Mit "Epicurean Escapism I" wird dem Festival ein weiteres Bild- und Tondokument an die Seite gestellt, das in visueller wie akustischer Hinsicht vollumfänglich zu überzeugen weiß und überdies durch seine angenehm unaufdringliche, dezent edle Gesamtgestaltung punktet. Angesichts des mehr als zivilen Preises, den
THE EPICUREAN und
SILKEN TOFU für das CD-/DVD-Bundle veranschlagen, sollten auch diejenigen Freunde des Genres eine Anschaffung nicht hinauszögern, die dieses Jahr in Berlin nicht dabeisein konnten. Denn nicht vergessen: Das gute Stück ist auf 350 Exemplare limitiert – und wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben.