Ein totes asiatisches Mädchen auf dem Cover, Fingernägel, aus denen Haare sprießen, dazu der Albumtitel und eine skelettierte Micky Maus als Bandlogo – ich hätte alles erwartet. Schleimigen Rotzpunk, üblen Grindcore oder wilde Noiseattacken. Die ersten Takte vom Opener "Nichts Ist Besser Als Gar Nichts" trafen mich deshalb völlig unvorbereitet: Es handelt sich lediglich um das beste und klügste deutschsprachige Rock- (oder Wave- oder Pop-) Album seit XYZ (hier den persönlichen Favoriten einsetzen)!
Die beiden in Wien lebenden Musiker
TEX RUBINOWITZ und
GERHARD POTUZNIK gründeten MÄUSE im Jahr 1994. Auf Anraten von FALCO, so erzählt es die Legende, veröffentlichten die beiden ihr erstes Album auf dessen Label
GIG RECORDS – und floppten! In einem
Interview mit MUSIC AUSTRIA spricht RUBINOWITZ von genau 171 verkauften Exemplaren. Nach FALCOs Ableben, zwei weiteren, erfolgreicheren Alben auf
CHEAP RECORDS und vielen, offenbar sehr anstrengenden Konzerten lösten sich MÄUSE schon 1999 wieder auf. Das Duo gründete stattdessen mit
ANGELIKA KÖHLERMANN ein Label, dem wir
auf NONPOP schon begegnet sind. Vor einigen Jahren fanden allerdings sporadische MÄUSE-Konzerte statt, und das neue Album können wir wohl als Wiedervereinigung feiern.
Einige Stücke, die es schon in anderen Versionen gab – wie "Ich Weine Lieber Im Taxi Als Im Bus" oder "Der Brummbär" –, haben sich darauf verirrt. Dennoch hat "Das Judasevangelium" kaum etwas mit den alten MÄUSEn zu tun. Wer möchte, kann sich die früheren Werke
auf BANDCAMP anhören. Eher spartanische Stücke, elektronische Abenteuer, oft nicht ohne ein starkes Gespür für Rhythmus ("Elektrisches Gewehr"), Richtung Cold Wave; allerdings auch mit sehr experimentellen Passagen. Und heute?
ALTE Version von "Il Pullover" (1999) zum Vergleich
Das erwähnte, wunderbar schnodderige, fast punkige "Nichts Ist Besser Als Gar Nichts" (01) macht den Auftakt. Bass, sägende E-Gitarre, treibendes Schlagzeug und ein unbeeindruckt stoischer Gesang ("Es gibt Leute, die müssen auf's Klo ..."). Auch "Il Pullover" (02) ist ein walzender, stampfender Post-Punk-Kracher mit äußerst eingängigem Refrain und genialem Text ("Eine Kugel ist keine Kugel, wenn sie drei Ecken hat ..."). Auch dieser Track war 1999 schon mal ganz anders, wie die
YOUTUBE-Recherche (siehe oben) ergibt. Referenzen bis hierhin: vielleicht die poppigeren Songs der PIXIES? Oder die Lässigkeit der LASSIE SINGERS, über Alltagsdinge zu singen? IGGY POP?? NEW ORDER???
"Der Hammer In Der Hand Des Idioten" (03) tuckert gleichförmig, mit einem geradlinigen Bass. Erinnert mich nun wiederum an NDW; der helle, eher rezitative Gesang könnte glatt von JOACHIM WITT stammen. "Adam Und Babora" (05) wird begleitet von den EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN: leicht irrer Gesang, industrielles Geklopfe im Hintergrund und Lyrics über Atem und Fleisch. Auch die QUEENS OF THE STONE AGE schauen mal vorbei, "Ich Weine Lieber Im Taxi Als Im Bus" (07) ist scheppernder, knackiger Wüstenrock. Die zweite Hälfte des Albums birgt dann auch einige sehr viel verschrobenere Stücke, die fiktive Trauerrede "In Der Schlichtheit Liegt Verdorrter Pomp" (09) zum Beispiel, mit schnulziger, aber tierisch verzerrter Orgel. Der Sprecher überlegt, welche der vielen Floskeln er denn verwenden könnte. Vor dem dronigen, synthetischen Instrumental am Schluss (12) noch besonders erwähnenswert: das krachende Intro von "Der Brummbär" (10). So hätten die KINKS ihr "You Really Got Me" heute eingespielt.
Ein Sammelsurium aus Pop und Rock der vergangenen 20 Jahre – deshalb wohl auch meine zahlreichen Vergleiche –, mit einem Schuss Dada und viel Humor. Alleinstellungsmerkmal sind unter anderem die sehr eigene Stimme und die irrwitzigen Texte. Mal mehr Wave, mal mehr Punk, mal ein bisschen NDW oder Elektro – aber immer erfrischend und mitreißend! Wer den Hype um TOCOTRONIC noch nie verstanden hat, wem die STERNE zu dauerverkopft sind – hier ist der nerdig-sympathische Gegenentwurf, für den man sich nicht schämen muss. "Eine Soße ohne Dill ist wie Soße mit Dill, nur ohne Dill ..."