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Endsal

ANEMONE TUBE/DISSECTING TABLE-Split

"This Dismal World"


ANEMONE TUBE/DISSECTING TABLE-Split
Genre: Noise
Verlag: Peripheral
Vertrieb: Peripheral
Erscheinungsdatum:
18. April 2013
Medium: Vinyl LP
Preis: ~17,00 €
Kaufen bei: Tesco Mailorder


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"This Dismal World", so stellt der Promotext klar, ist ein Konzeptalbum über die "Vier Edlen Wahrheiten". Dass die Reise irgendwie in Richtung Buddhismus geht, macht schon ein erster, oberflächlicher Blick ahnen: So begegnet uns auf dem Cover die vielarmige Figur der Guanyin Bodhisattva, auf der Rückseite, etwas kleiner, eine ihrer geöffneten Hände – und wenn wir die Platte herausnehmen, fällt uns ein Beiblatt in die Hände, auf dem das komplette 25. Kapitel des Lotos-Sutra auf Englisch und Chinesisch abgedruckt ist. Der geneigte Rezensent wittert Sendungsbewusstsein, und da er dies ernst zu nehmen gedenkt, scheint es ihm ratsam, zuerst einmal das geistige Milieu zu skizzieren, in das die vorliegende Split-LP aus dem Hause PERIPHERAL so augenfällig eingebettet ist.

Wir bewegen uns in buddhistischen Gefilden – allerdings in deren dezidiert lichtabgewandten Bereichen, was der Titel "This Dismal World" ja bereits ziemlich unmissverständlich andeutet. Das Album beschäftigt sich, so der Promotext, mit den "Vier Edlen Wahrheiten", insofern diese das Wesen des Leidens erklären. Die "Vier Edlen Wahrheiten" repräsentieren den Nukleus der buddhistischen Lehre und verkünden in der Tat (1) die substantielle Identität von Leben (erg.: im Rad des Samsara, d. h. der empirischen Welt) und Leiden, (2) das Entstehen des Leidens aus Ursachen, (3) die Beendigung dieser Ursachen und damit des Leidens und schließlich (4) den zur Beendigung des Leidens führenden "Edlen Achtfachen Pfad" bestehend aus rechter Einsicht, Gesinnung und Rede, rechtem Handeln, Lebenserwerb und Streben, rechter Achtsamkeit und rechter Sammlung. Im speziellen für die Mythologie und Ikonographie des Mahayana-Buddhismus ist in diesem Zusammenhang die Figur des Bodhisattva von herausragender Bedeutung – eines Quasi-Buddha, der die Aufhebung der Gegensätze realisiert hat und an der Schwelle zum Erlöschen (Nirvana) steht; und von allen Bodhisattvas genießt Avalokiteshvara, die Manifestation des universellen Mitgefühls mit allen lebenden – und damit: leidenden – Wesen, wohl die tiefste Verehrung. Er verhilft den im Rad des Samsara Verstrickten kraft seines Mitgefühls zur Befreiung von den Fesseln, die sie an die Welt der Erscheinungen – und damit an das Leiden – binden und ermöglicht ihnen so das endgültige Erwachen aus jener "Dismal World", die der Albumtitel beschwört.

Insofern das der LP beigelegte, 25. Kapitel des Lotos-Sutra letztlich nichts anderes ist als eine großangelegte Hymne an eben diesen Avalokiteshvara, hier in seiner japanischen Erscheinungsform als Bodhisattva Kanzeon, und uns auf dem Cover sein chinesisches Pendant, der 1000-armige, weibliche Bodhisattva Guanyin, entgegenblickt, wird der Gesamtzusammenhang spürbar, vor dessen Hintergrund ANEMONE TUBE und DISSECTING TABLE ihre musikalische Meditation über die finstersten Talsohlen und Abgründe menschlicher Existenz zelebrieren: Man verleiht der heil- und hoffnungslosen Dunkelheit der samsarischen Welt Ausdruck, aus der der Bodhisattva – der beigelegte Text benutzt übrigens eine Übersetzung seines Titels und nennt ihn "Perceiver of the World's Sound" (denn Er ist der, der die Stimmen aller leidenden Kreaturen vernimmt) – den Ausweg weist. Hier von kathartischer Kunst im eigentlichen Wortsinn zu sprechen, scheint insofern angemessen, als die kompakte Finsternis der Welt, die qua dargebotener Soundlandschaften beschworen wird, durch die synchron erfolgende Vermittlung der Botschaft des Bodhisattva transzendiert wird: „[...][S]uppose there are immeasurable hundreds, thousands, ten thousands, millions of living beings who are undergoing various trials and suffering. If they hear of this Bodhisattva Perceiver of the World's Sounds and single-mindedly call his name, then at once he will perceive the sound of their voices and they will gain deliverance from their trials.“

Konzeptuell federführend beim vorliegenden Projekt ist ganz offenbar der Berliner Noise-/Dark Ambient-Künstler ANEMONE TUBE, der nicht nur für die A-Seite der Split-LP, sondern auch für das verwendete Fotomaterial sowie die – überaus gelungene – graphische Gestaltung verantwortlich zeichnet. Angesichts seiner, im Rahmen eines Interviews mit dem Web-Magazin "African Paper" getätigten Aussage, er verstünde seine "Arbeit auf jeden Fall als Gesamtkunstwerk, bei dem das musikalische Werk erst durch das Visuelle und Lyrische inhaltlich vollendet wird", kann es nur konsequent sein, Botschaft und Bedeutung von "This Dismal World" nicht exklusiv auf  musikalischer Ebene zu interpretieren. Und ganz in diesem Sinne äußert der Künstler im gleichen Interview explizit den Wunsch, der Hörer möge "sich mit dem Konzept als Ganzes auseinandersetzen und nicht nur die Musik anhören" – der Rezipient ist also unmissverständlich aufgefordert, alle Ebenen künstlerischen Ausdrucks in seine Deutung miteinzubeziehen.
 
Als Subtitel für "seine Seite" des Splits hat ANEMONE TUBE "Threnody For The Dejected" gewählt – und klar ist an dieser Stelle: Mit „Dejected“ sind wir alle gemeint, die wir als leidende, versprengte Monaden in der samsarischen "Dismal World" umherirren. Dieser Verlorenheit verleiht er in zwei ungemein dichten und massiven Noisestücken Ausdruck, wobei das erste, "In The Mausoleum", aller Brachialität zum Trotz eine geradezu kontemplative Wirkung entfaltet, indem die einzelnen Elemente des Soundgewitters, das auf den Hörer einprasselt, durch ein tiefes, durchgängiges Basisdröhnen getragen und zu einem soliden Block zusammengefasst werden. ANEMONE TUBE offenbart ein seltenes Händchen dafür, Dark Ambient und Noise zu einem ebenso harmonischen wie aggressiv-kraftvollen, packenden Sound zu verschmelzen. Das erste wie das zweite Stück basieren auf Field Recordings, die 2007 während eines Studienaufenthaltes in China aufgenommen wurden. Dieser Umstand ordnet die vorliegende Veröffentlichung – wie schon die Vorgänger "Dream Landscape" (2010) und "Death Over China" (2011) – in die "Suicide Series" ein, deren Beschränkung auf den besagten Audio-Fundus konstitutiv für ihr Gesamtkonzept ist. Der zweite Track, "From Antropocentrism To Demonocentrism", wirkt unruhiger, aggressiver: Hier wird der Dark Ambient-Anteil zugunsten der Noise-Komponente deutlich zurückgefahren. Als "crushing power-electronics track", wie im Promo-Text, würde ich das Stück zwar dennoch nicht bezeichnen – dafür mangelt es mir zu sehr an den PE-typischen, im Vordergrund stehenden Vocals –, nichtsdestoweniger handelt es sich um ein aufregendes Noisestück von faszinierender Dichte und Intensität, dessen unruhige Brachialität zwischendurch sowie insbesondere gegen Ende durch hypnotisch-monotone Loops abgefedert wird, die gleichsam einen kurzen Lichtstrahl in den Abgrund werfen und so das subtile Verhältnis von "Dismal World" und bodhisattvischer Transzendenz andeuten.

Womit wir bei der B-Seite und DISSECTING TABLE angekommen wären. Die gehören – neben Epigonen wie MERZBOW, HANATARASH oder GEROGERIGEGEGE – zu den Pionieren jenes Japan-Noise, der im Fahrwasser der zweiten, großen Industrial-Welle ab Mitte der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts stilbildend wurde. Ich muss einräumen, dass ich persönlich nie allzuviel damit anzufangen wusste und so auch DISSECTING TABLE eher am Rande wahrgenommen habe. Die Connaisseurs unter der geschätzten Leserschaft mögen es mir also nachsehen, wenn ich möglicherweise ein gewisses "G'schmäckle" für die Tiefendimensionen vermissen lasse. Denn in der Tat vermag auch die vorliegende Aufnahme, das über 20 Minuten lange "1000 Tones", nach mehrmaligem Durchhören nichts an meinem begrenzten Interesse zu ändern. Das Stück ist der 1000-armigen Guanyin Bodhisattva zugedacht, deren, laut Album-Credits 21 Meter hohe, im chinesischen Longxin-Kloster thronende Statue das bereits erwähnte Coverfoto ziert. Passend rezitieren DISSECTING TABLE in "1000 Tones" laut Promotext das gesamte 25. Kapitel des Lotos-Sutra – der interessierte Hörer kann, wenn er mag, via Beiblatt folgen. Dazu wird eifrig auf Metall eingedroschen, schleifend-kreischende, analoge Sounds zerschneiden in chaotischem Wechsel die Atmosphäre, während immer wieder monotone Gesänge und irgendwo zwischen Death- und Black-Metal-Vocals changierendes Geschrei die Szenerie dominieren. Alles in allem tut man DISSECTING TABLE mit der Rubrizierung "Old-School-Industrial" sicherlich kein Unrecht – und das muss ja auch keineswegs schlecht sein, mein Gusto trifft es, wenigstens im aktuellen Fall, jedoch weniger.

So konzentriert sich die Begeisterung über "This Dismal World" aus Perspektive des Rezensenten vornehmlich auf die A(NEMONE TUBE)-Seite – dort erklimmt sie allerdings solche Gipfel, dass auch in der Gesamtschau das Prädikat "hervorragend" angemessen erscheint. Mit "This Dismal World" wird ein Konzept-Album im besten Sinne des Wortes vorgelegt, bei dem Anspruch und Umsetzung nicht, wie so oft, geradezu beschämend weit auseinanderklaffen – vielmehr wird das Sujet auf den unterschiedlichen Rezeptionsebenen mit einer Intensität und Liebe zum Detail durchgearbeitet, die den Rezipienten geradezu in die emotionale und intellektuelle Auseinandersetzung zwingt.

 
Endsal für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» This Dismal World-Promo-Video
» ANEMONE TUBE-Homepage
» ANEMONE TUBE-Interview @ AfricanPaper.com
» ANEMONE TUBE @ soundcloud.com
» DISSECTING TABLE/UPD-Homepage

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Zusammenfassung
Außerordentlich intensive, thematisch im Mahayana-Buddhismus verortete, musikalische Meditation über eine Welt, deren Essenz dukkha/Leiden ist. DISSECTING TABLE und - insbesondere! - ANEMONE TUBE präsentieren eine nahezu perfekte Melange aus Dark Ambient und Noise.

Positiv aufgefallen
- Stimmiges Artwork
- Gelungener Noise-/Dark Ambient-Mix
- Intensiver Sound

Negativ aufgefallen
- B-Seite fällt etwas ab

Inhalt
A1) ANEMONE TUBE: "In The Mausoleum" (10:18)
A2) ANEMONE TUBE: "From Anthropocentrism To Demonocentrism" (5:32)
B1) DISSECTING TABLE: "1000 Tones" (20:23)

Packaging: 12'' LP, black vinyl, high quality varnished 300 g full color cover sleeve, black inner sleeve
Limited edition: 200 copies with A4 insert (210 x 297 mm)
Die-hard edition: 88 numbered copies with A4 insert, A2 Poster (592 x 420 mm) and 2 woven patches, one of each project.
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