LITTLE ANNIE / BABY DEE: State Of Grace

'Larger-than-life-Diven', diesen Ausdruck kannte ich vor der Labelinfo zu "State Of Grace" noch nicht. Passt aber ganz gut auf BABY DEE und LITTLE ANNIE, zwei Frauen mit prallen Biografien. Die eine, als Junge geboren, im Bärenkostum durch den Central Park geradelt und sich als Baumpflegerin schon beinahe von der Musik verabschiedet, kam erst spät zu Ruhm. BABY DEE veröffentlichte, damals Mitglied bei ANTONY AND THE JOHNSONS, vor rund zehn Jahren ihr Debütalbum. (Mehr über ihre Vergangenheit hat sie uns selbst in einem ausführlichen Interview verraten.) Die andere gründete schon mit 16 ihre erste eigene Band, bewegte sich um Gruppen wie CRASS und COIL und veröffentlichte jüngst zwei vielbeachtete Alben mit dem Filmkomponisten und Pianisten PAUL WALLFISCH. Außerdem ist LITTLE ANNIE als (erfolgreiche) Malerin und Schriftstellerin aktiv, schrieb eben ihre Autobiografie.
Rund um DAVID TIBET, ANTONY HEGARTY und MARC ALMOND, mit denen beide zusammenarbeiten und um die sich inzwischen eine große Familie aus interessanten Künstlern angesiedelt hat, lernten sie sich kennen. Konzerte folgten, auf denen mit einer fünfköpfigen Liveband erste gemeinsame Songs präsentiert wurden. Eine Auswahl davon bietet nun dieses Album, auf dem prominente Gäste wie WILL OLDHAM vom Stellenwert zeugen, den die beiden Frauen inzwischen musikalisch haben.

Diese leicht knödelnde, kettenrauchige Stimme; der erste Song ("Angels Gone Before", 01) - stellvertretend für viele - eine Mischung aus Kabarett, Chanson und Jazz. Ich muss bei LITTLE ANNIE immer wieder an verqualmte Kellerbars mit Bühne denken. Balladen wie "Love To Break The Fall" (02) wirken häufig wie Songs aus dem Portfolio von DEE, hier mit der wesentlich mehr schauspielernden Stimme von ANNIE besetzt. Der Titeltrack (03 / 09) ist in beiden Varianten mein persönliches Highlight. Zusammen mit WILL OLDHAM sowieso, dessen immer inbrünstig wirkender Gesang perfekt zur zunächst eher zurückhaltenden, bedacht erzählenden weiblichen Stimme passt. Das Preisende, Gospelhafte des Stückes bricht sich im Refrain Bahn, nimmt dann immer mehr an Fahrt und Dramatik auf. Ein ungeheuer energetisches Lied. Auch das folgende "Pilgrim Traveller" (04, ein Cover der verstorbenen WYNONA CARR) bleibt dem Blues verhaftet, und sowohl im Genre als auch in der äußerst kratzigen, scheppernden Stimme ergibt sich spätestens hier eindeutig eine Parallele zu TOM WAITS. Groß: DEE an der Orgel! Im weiteren Verlauf ist eben die zweite Version von "State Of Grace" erwähnenswert, intoniert von BABY DEE allein am Klavier, begleitet nur von sägenden Streichern. An ihre besondere, fragile und verletzliche Art der Hingabe kommt einfach niemand heran. Zudem scheint ihre Stimme durch die vielen Liveauftritte gereift zu sein, stärker an Ausdruck. Schade, dass sie nur ein Mal ans Mikro durfte.

Die eingangs erwähnten, prallen Biografien schlagen sich sowohl bei ANNIE als auch bei DEE in der Musik nieder, was den gemeinsamen Songs ungeheuer viel Kraft und Energie verleiht. Thematisch geht es ebenfalls um offenbar sehr persönliche Wahrnehmungen, um gefallene Mädchen, gebrochene Lebensläufe, die schiefe Weltlage. Untermalt vom hervorragenden, sich minutiös an den Gesang anpassenden, anschmiegenden Spiel von BABY DEE und frechen, orchestrierten Passagen sind die zehn Songs kleine Perlen aus einer Unterweltkneipe. Vergleichbar mit den TIGER LILLIES, wer an dieser Stelle überhaupt noch einen solchen Kaufanreiz braucht.
Einziger Minuspunkt: 35 Minuten sind heutzutage auch für eine LP zu kurz!

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