VARIOUS: Replace

Im vergangenen Oktober (2011) ist ein neues Label für elektroakustische Musik entstanden. Ein Teil davon ist die DEGEM, die 'Deutsche Gesellschaft für Elektroakustische Musik'. Sie fördert dieselbe vor allem national, etwa mit Tagungen, Konzerten oder - zusammen mit dem ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe) - mit einem Webradio, welches elektroakustische Kunst präsentiert. Nun ist in Zusammenarbeit mit TILL KNIOLA (AUF ABWEGEN) die EDITION DEGEM entstanden, eben jenes Label, auf dem ab sofort alle DEGEM-Publikationen erscheinen. Die kuratorische Verantwortung bleibt bei der Gesellschaft, um alle Labelbelange kümmert sich KNIOLA.
Erste Veröffentlichung war mit der CD "Replace" das 'Jahrbuch' der DEGEM, eine regelmäßig aufgelegte Compilation mit zeitgenössischen, vorwiegend deutschen Elektroakustikern, die sich mit einem bestimmten Thema beschäftigen. Schirmherr von "Replace" ist mit MARC BEHRENS einer der führenden deutschen Komponisten von moderner Musique concrète. Es nehmen unter anderem DENISE RITTER oder FRANK NIEHUSMANN teil, um zwei der (mir) bekannteren Musiker zu nennen. Das Motiv des Jahres 2011 ist offenbar, wenn ich die Einführung im Booklet richtig deute, die Musik selbst. Waren zum Beispiel Werke der Musique concrète zu Beginn (Zitat) "realisierte Utopie von Fortschrittsideen" - was sind Werke, die heute entstehen? In einer Welt, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in einem nie vorauszusehenden Tempo entwickelt hat? Wie viel Utopie steckt heute noch in Elektroakustik oder ähnlicher Musik, inwieweit haben sich die Inhalte von Utopien generell geändert?

Die Aufmachung der CD ist extrem hilfreich dabei, sich dem Thema zu nähern. Gerade bei so 'wissenschaftlicher' Musik tut Unterstützung in manchen Fällen not, um nicht nur Fiepen oder Rauschen zu hören. Neben einer Einführung liefert das Booklet zu jedem Stück einen kurzen Erklärtext, wie die Wandtäfelchen im Museum. Viele der Beiträge lassen sich aber (erfreulicherweise) auch ohne Hilfe erhören.
Die Bandbreite ist riesig, zwischen 'normalen' Musikstücken und bloßem Geräusch ist alles dabei. Der Eröffnungstrack (01) von DENISE RITTER zum Beispiel würde jedem Dark Ambient-Projekt Ehre machen: Unendliche Drones im Hintergrund, organische Schleifen aus hölzernen Geräuschen, dazu eine (verstimmte?) Konzertgitarre, auf der geübt oder improvisiert wird, was ein gewisses Roadmovie-Flair ergibt. Sozusagen die Überarbeitung des geflügelten Wortes "The Revolution Will Not Be Televised" von GIL SCOTT-HERON bietet NICOLAS WIESE an. "The Revolution Will Have Been YouTubed" (02) ist ein Sprachexperiment mit Störgeräuschen, eine Collage offenbar aus nutzergenerierten YOUTUBE-Inhalten.
Elektronische Spielereien, Piepsen, Flickern und Flackern sind ebenso selbstverständlich vorhanden wie field recordings, zum Beispiel von einem Schwarm Turmdohlen in "Schwarm" (05, eine "flüchtige Paradies-Konstruktion", wie das Booklet erklärt). Nicht alles ist auf Anhieb spektakulär, manches wirkt eher wie ein Live-Experiment. Andere Klanginstallationen betören dagegen sofort und ohne Erläuterung, zum Beispiel "Rheinarfe" (06) von SAM AUINGER. Klingt sympathisch nach elektronischem Alphorn oder singender Säge, ist aber in Wirklichkeit eine Wasserharfe, die das Fließen des Rheins hörbar macht; sehr charmant!

Die Frage, wohin der Weg der modernen elektronischen Musik führt und welchen Zweck sie erfüllt, ist eine spannende. Viele Anregungen dazu bietet diese Zusammenstellung, die sich anfühlt wie ein kurzweiliger Nachmittag im Multimedia-Museum. "So lohnt es doch, sich im Rahmen dieser nach wie vor aktuellen und utopiefähigen künstlerischen Strategien mit den positiven und negativen Utopien unserer Zeit zu befassen." (Booklet)

Wer sich für diese Art von Musik interessiert, dürfte sich auch mit den NONPOP-Besprechungen der Sampler "trans_canada" (Artikel) und "Archipel Électronique Vol. 1" (Artikel) anfreunden.

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