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Michael We.

JOHN CAGE: Etudes Australes

Die Idee ist das Werk!


JOHN CAGE: Etudes Australes
Genre: Neue Musik
Verlag: Wergo
Erscheinungsdatum:
November 2011
Medium: Box
Preis: ~40,00 €
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Die Einspielung einer Komposition von JOHN CAGE ist in der Regel kaum objektiv zu bewerten. Zum einen bekommen wir selten etwas zu hören, das auch nur annähernd den Erwartungen an ein 'klassisches' Werk enspricht. Zum anderen hat CAGE, zumindest während einer langen Phase seines Schaffens, auf traditionelle Notation ebenso verzichtet wie auf Angaben zu Takt, Notenwerten, Dynamik etc. So erklingen Töne, Tonfolgen und Akkorde wie scheinbar beliebig auf eine weiße Leinwand verteilte Farbtupfer. Oder es gibt gar ein Orchester zu hören, welches kein einziges Instrument spielt; lediglich ein Räuspern hier, ein Rascheln da, genau "Vier Minuten, Dreiunddreißig Sekunden" lang - so der Titel des berühmten und immer wieder aufgeführten Anti-Stückes. Wenn also der Komponist den Interpreten nahezu sämtliche Freiheiten lässt, können nur zwei Dinge zählen: Die Idee hinter der Komposition, und die Idee hinter der Umsetzung.
Für die "Etudes Australes" nahm sich CAGE im Jahr 1974 Sternenkarten des "Atlas Australis" vor, einer Sammlung von Karten, welche die Sternenkonstellationen der südlichen Hemisphäre abbilden. Er wählte nach einer asiatischen Zufallsmethode aus, welche Planeten für sein Werk von Bedeutung sein sollten, und pauste diese aus den Karten auf Transparentpapier ab. So gab CAGE Tonhöhe und Anzahl der Töne vor, mehr aber nicht.
Da der Künstler beschlossen hatte, der befreundeten Pianistin GRETE SULTAN 'Etuden' im Wortsinn zu widmen, baute der US-Amerikaner eine zusätzliche Klippe ein: Abgesehen von den ohnehin schwierig zu spielenden Akkorden, deren Einzeltöne sich über die ganze Klaviatur erstrecken, notierte CAGE die Töne so, dass sowohl die linke als auch die rechte Hand jeweils alle Tasten bedienen muss und sich der Pianist dabei fast unausweichlich selbst in die Quere kommt.

Vier 'Bücher' mit je acht Etuden bilden diese Auswahl an Himmelskörpern ab, die Noten also - wieder einmal -  Zufallsergebnisse, das Werk kaum mit Anhaltspunkten für den Musiker versehen. Wie viele CAGE-Kompositionen scheint auch diese nur für die Aufführung gemacht, für die Einmaligkeit des Moments, der nicht festzuhalten ist. Bislang wurden die "Etudes" allerdings kaum live gespielt (und erst recht nicht aufgezeichnet), galten als unhandlich, unbezwingbar, anarchistisch - und wirkten damit sicherlich ganz im Sinne CAGEs.
Die Münchener Pianistin SABINE LIEBNER, die wir als CAGE-Expertin schon anlässlich ihrer Einspielung von "ASLSP" (siehe NONPOP-Interview) vorgestellt haben, hat die "Etudes Australes" mit einer ebenso einfachen wie genialen Idee gezähmt. Im Booklet erklärt sie, dass sie davon ausgeht, die zugrunde liegenden Sternenkarten seien alle gleich groß gewesen. Sie interpretiert deshalb jede Etude ungefähr gleich lang, jede Zeile der Partitur bekommt dieselbe Ausdehung oder Komprimierung, je nach Sichtweise. Pro Etude circa acht Minuten, pro Buch rund 65. Da die Notendichte des Werkes höchst unterschiedlich ist, führt diese Herangehensweise zu einer ungeheuren Dynamik, zu Klanganhäufungen einerseits, zu kosmischen Dehnungen andererseits. Von Struktur zu sprechen wäre dennoch übertrieben, zu unvorhersehbar ist die Abfolge, der Wechsel zwischen Nichts, einzelnen Tönen und gewaltigen Mehrklängen. Domestiziertes Chaos, welches ursprünglich ebenso zufällig entstanden ist wie das Universum.

An vier Abenden hat SABINE LIEBNER die "Etudes Australes" im Kammermusiksaal des DEUTSCHLANDFUNK eingespielt. Anschließend wurden sie zunächst im Radio ausgestrahlt, nun auf einer 4-CD-Box bei WERGO veröffentlicht. Wichtig aus tontechnischer Sicht ist bei der kosmischen Thematik vor allem Räumlichkeit, und diese transportiert die Aufnahme wunderbar.
Die (hinreißende) Idee ist das Werk, die hervorragende Umsetzung tut ihr Übriges. Bei einer dennoch gewollt 'chaotischen' Komposition war ich überrascht davon, wie leicht es fällt, lange Passagen am Stück durchzuhören - immer mit dem spannenden Grundgerüst im Hinterkopf, dass hier Strukturen des uns bekannten Sternenhimmels durch Töne eingefangen werden. Meiner Meinung nach kaum besser zu bewältigen!

 
Michael We. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» CAGE @ Wiki
» WERGO
» CAGE-Orgelprojekt "ASLSP"

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Zusammenfassung
Eine typische CAGE-Komposition mit viel Zufall und allen Freiheiten für die Interpretin. Den Tönen zugrunde liegen Himmelskörper auf Sternenkarten. SABINE LIEBNER hat das Chaos domestiziert und die unhandliche Partitur mit einer ebenso einfach wie genialen Idee gebändigt. Kaum besser zu bewältigen!

Inhalt
WER 67402
4 CDs
umfangreiches Booklet mit Interviews

CD 1 Book I (Etudes I–VIII) - 65:32
CD 2 Book II (Etudes IX–XVI) - 65:00
CD 3 Book III (Etudes XVII–XXIV) - 65:14
CD 4 Book IV (Etudes XXV–XXXII) - 65:08
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