Der unbekannte Mensch hinter
NIEDOWIERZANIE – ich habe nur irgendwann den Namen LÉO aufgeschnappt, mehr nicht – lebt in Berlin, also fernab von jeglichem Ozean. Dass er aber irgendeine Verbindung zum Meer haben muss, wird beim Hören seiner melancholischen und endlos weiten Instrumental-Arrangements klar. Ein Blick in die spärlichen biografischen Daten hilft: LÉO (nennen wir ihn einfach so) stammt aus der französischen Hafenstadt Marseille, und ich könnte mir vorstellen, dass es deshalb in seiner Familie den einen oder anderen Seefahrer gab.
Drei Jahre und einige Live-Gigs nach seinem ersten gleichnamigen Album veröffentlicht NIEDOWIERZANIE – was übrigens polnisch ist und 'Misstrauen' heißt – nun mit "Attendre" den Nachfolger des Debüts auf
TREUE UM TREUE / REUE UM REUE, der Heimat von
WERMUT. Auf deren jüngstem Album "Ether" soll LÉO bereits mitgewirkt haben, und sowohl WERMUT (
siehe Besprechung zu "Anna") als auch dem Label ist die Meeresthematik ja nicht fremd. LÉO verwendet für seine Klangteppiche, oder -wellen, um im Bild zu bleiben, viele akustische Instrumente, die er mit digitalen Effekten ergänzt. Auch field recordings spielen eine Rolle, menschliche Geräusche wie Stimmen oder Schritte, in Marseille und angeblich auch auf einer lange andauernden Indienreise gesammelt.
Kürzer und zugänglicher sind die Stücke im Vergleich zum Vorgänger geworden, soweit ein erstes Fazit. "Poutre Pieuvre" (01) startet mit Geräuschen, die Möwengekreisch und Schiffshorntuten ähneln, und einer schrägen, scheppernden Percussion, die unweigerlich an
TOM WAITS erinnert. Sofort fällt die ungeheuer starke, melancholische Stimmung auf; eine landschaftliche Weite, die Einsamkeit und – auf angenehme Art und Weise – eine gewisse Verlorenheit suggeriert. Basis der Melange aus akustischen, zum Teil wohl elektronisch verfremdeten Instrumenten ist eben die Percussion und eine gitarrenähnliche Melodie (vom Sound her kommen hier auch
ELEMENT OF CRIME in Frage), aber auch rein digitale Einsprengsel verweben sich mit dem Rest. "La Boule A Rouffe" (02) malt traurige, verzweifelte Bilder wie einige Songs von
TRISOMIE 21 (etwa "Il Se Noie"), zu denen ein beinahe krankhaftes Hin- und Herwiegen möglich ist; stark organisch, weil Streicher noch dazu kommen. "O' Baazigar" (03) präsentiert zum ersten Mal Stimmen aus field recordings, und endlich – es ist das Instrument, welches ich von Anfang an am ehesten erwartet hätte – setzt ein Akkordeon ein. Der Wüstensand fegt durch staubige Geisterstädte, Grillen zirpen – Wahnsinn, welche Assoziationen NIEDOWIERZANIE mit seinen Liedern heraufbeschwört. Eine Genrefindung ist schwierig, vielleicht melodischer Dark Ambient? Es scheppert und rumpelt im Hintergrund, die Melodien sind nie zu schön oder kitschig, etwa wenn sich Verkehrsgeräusche und kleppernde Töpfe ins Akkordeon hinein schmuggeln.
Lied für Lied erweitert LÉO das Instrumentarium, "Lait Fraise" (05) bietet zum Beispiel ein quäkendes Blasinstrument (Klarinette?). Es folgen allerdings auch Songs, die mehr Dark Ambient sind als andere, etwa "Paranoia" (06). Ein Soundtrack für die Fahrt durch eine trostlose, menschenverlassene Stadt der Zukunft in einem Science Fiction-Film, Drones hängen traurig und bleischwer in der Luft, rumpelige Geräusche begleiten den einsamen Zug, sehr futuristisch und eines der längsten Stücke mit mehr als acht Minuten. Auch "Kopf" (11) wirkt zukünftig,
Trompetendrones liegen mit allerhand seltsamen, zwitschernden Geräuschen in der Landschaft. Andere Stücke dagegen wandeln auf den Spuren diverser Roadmovie-Komponisten, in "Mascarade" (08) ist eine Twang-Gitarre von
RY COODER zu hören. Am Ende steht mit mehr als zehn Minuten das zweite längere Stück: "Soleil Rouge" (12). Trotz der diversen menschlichen Spuren (u.a. Schritte) ist auch hier die Einsamkeit bis in den letzten Ton hinein spürbar.
Das Cover mit den einsamen Pferden – bepackt zwar, aber ohne die Anwesenheit von Menschen – in einer Wüstenlandschaft vor blauem Himmel hält, was es verspricht: Die Musik von NIEDOWIERZANIE ist romantisch, melancholisch, wehmütig, einsam und wunderschön. Immer wieder erstaunlich im Verlauf dieses Albums, wie eindringlich LÉO diese Stimmungen abruft. Einer meiner neuen Lieblinge auf
TUT / RUR!