Seit April oder Mai dieses Jahres geisterte ein gewisser Song durch die Formatradios, der wenig in deren übliches Set zu passen schien. Spätestens beim zweiten oder dritten Mal musste ich nachhaken, wer denn da in so sakraler Manier ein Bündel hochharmonischer weiblicher Kopfstimmen mit einer Synthiepopnummer zusammenbrachte, die so weich und beinahe haptisch wie geschnittene Butter klang. Antwort: AUSTRA, aus Kanada. Nie gehört. Allein das war schon gut.
So oder so ähnlich müssen allerdings zahlreiche Menschen auf dem Globus empfunden haben, denn AUSTRA entwickelte sich rasch zu einer Art Geheimtipp auf dem Weg zum neuen Hype und Anwärtertitel für beste Verkaufszahlen, nimmt man Hörerreviews, Blogeinträge, Labelinfo oder Youtube-Klickzahlen als Indikator. Dabei hat das Debütalbum dieser Band viel Potential abseits vom Mainstream, so dass es gut und gerne auch hier besprochen werden darf.
(Katie Stelmanis)
AUSTRA also ist die Band der Kanadierin KATIE STELMANIS, ihres Zeichens Sängerin mit klassisch ausgebildeter Stimme, die mit „Lose It“ einen Frühjahrshit mit hohem Suchtpotential hinlegte, das man der gesamten Musik von AUSTRA bescheinigen kann. Dies hatten wohl auch die Scouts von DOMINO RECORDS erkannt, so dass sich die Band nun kurzerhand auf dem britisch-amerikanischen Label wiederfindet, das für so zahlreiche wie 'maßgebliche' Acts aus dem halbmajorisierten Establishment des Indiesektors der letzten Jahre verantwortlich ist, wie u.a. FRANZ FERDINAND, BONNIE PRINCE BILLIE, JIM O'ROURKE, ARCTIC MONKEYS, ANNA CALVI, TRICKY oder GALAXIE 500, um nur einige zu nennen. Dem Label ist es sicher auch zu großen Teilen anzurechnen, dass AUSTRA verdientermaßen so schnell und vor allem so breit Gehör fand, wobei die Singleauskopplung nach meinem Dafürhalten nicht einmal der stärkste Song ihres Erstlingswerks ist. Schon der Opener „Darken Her Horse“ macht deutlich, dass die Musik insgesamt nämlich wesentlich waviger und schwärzer daherkommt: mystisch-getragener Klangteppich, der prägnante Gesang, gebremste Synthiestreichakkorde steigern sich zu Keyboarddiskant, um abrupt in schwere Elektrorhythmik und sphärisch-dräuende Flächen zu fallen, BRONSKI BEAT oder THOMPSON TWINS lassen grüßen? Weiter geht’s mit „Lose it“, erwähnter Single, hymnenhaft leicht, schimmernd, ABBAesk, ähnlich „The Future“ oder „Spellwork“ mit seinem perlenden Analogarpeggio. Weitere Highlights sind „Shoot The Water“ mit einem swingenden Drive, der etwas aus dem Rahmen fällt, natürlich das mit bedrohlichem Bassstakkato angeführte "Beat And The Pulse", welches schon auf einer Vorab-E.P. gleichen Titels erhältlich war und aus dessen Refrainzeile sich der jetzige Albumtitel speist, oder „The Villain“ – schwarzgefärbte Soundpads und stark nach THE KNIFE klingender Chorus, vielleicht der dunkelste und schwerste aber auch insgeheim beste Song des Albums. Eindringlich trauernd dann „The Beast“, das wie ein Score nur mit Klavier und Stimme die gesangliche Qualität KATIE STELMANIS' am Schluss des Albums nochmals perfekt in Szene setzt. Bemerkenswert bei aller relativen Einfachheit der Lieder sind die oftmals unerwarteten Wendungen, in denen STELMANIS mit weit ausholender Strenge und harmonischen Zweit- und Drittstimmen die Lieblichkeit zu durchbrechen droht, oder sich ein Lied mit kompositorischem Hackenschlag plötzlich einer ganz anderen melodischen Sequenz zuwendet, die man ihm vorher nicht zugetraut hätte. „Feel it Break“ klingt dabei so verdammt nach Achtzigern, als hätten z.B. ein MIKE THORNE oder auch ANNE CLARKs DAVID HARROW persönlich Pate gestanden oder zumindest eine deutliche DEPECHE MODE-Rezeption der früh-mittleren Phase (Get the Balance Right) hätte stattgefunden. Und ist da nicht auch eine Prise Gothic oder gar Witchhouse (man beachte das Covermotiv)? Die Instrumentierung ist überhaupt einer der großen Pluspunkte des Albums, so geschmeidig-plastisch, naiv wie warm klingen die analogen Synthiepatches, zwirbelt der Drumcomputer zur vollmundigen Bassline (wobei echte Drums zumindest ab und an mit von der Partie sind), lullen süße Plastikpianos in die Ohren. Dies scheint überdies auch deswegen so gut zu funktionieren, weil die samtige Elektronik den notwendigen Kontrast zur Stimme findet, die, immer hoch, tremolierend, mal streng-evozierend mal selbstquälerisch in – NICO nicht unähnlich – seltsam unenglisch klingendem Akzent eine Kühle verströmt, die exakt den pseudoskandinavischen Charakter dieser Platte ausmacht. Letzteres ist dann vielleicht bei allem Retrocharme, den sie versprüht, auch die Brücke zu aktuelleren Trends und Vorbildern. Der Vergleich zu THE KNIFE (FEVER RAY) fiel bereits, genderbetonte (Queer)-Frontfrauen á la BETH DITTO/GOSSIP passen auch ins – zumindest musikalische – Bild; insofern, und was den lyrischen Teil der Musik sowie einen beträchtlichen Teil der Fangemeinde (vgl. hierzu den NONPOP-Konzertbericht aus Berlin) AUSTRAs angeht, ist aber die Erinnerung an die sich einst emanzipierende Gay-Welle der musikalischen Achtziger eine definitive Referenz.
(Austra)
Ungeachtet dieser ganzen möglichen Verweise bedient AUSTRA natürlich vor allem erstmal den noch immer angesagten Run auf Eightieselektronik, macht dies aber auf sehr erfrischende Art. Bleibt zu hoffen, dass diese Band nicht zu schnell im Nirvana schnelllebiger Trends verschwindet. Bis dahin gibt’s erstmal dieses Debütalbum, das Freunden dunklen Synthiepops großen Genuss verspricht.
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