DEMIAN CLAV: Wisteria Lodge

Wieder einmal ist ein Verbrechen in der Umgebung des viktorianischen London geschehen. Entgegen aller romantischer Vorstellungen prägten zwar nicht nur Nebel und zierliche Kutschen, sondern vor allem Lärm, Krankheit, Hungertod und Gestank das Straßenbild, aber das soll uns für die Besprechung dieses feinen neoklassischen Albums nicht stören. Der Titel verrät es: Das französische Duo aus Paris und Nantes orientiert sich an einer der längeren SHERLOCK HOLMES-Geschichten von ARTHUR CONAN DOYLE und ändert lediglich ein paar Rahmenbedingungen.
In Deutschland unter anderem als "Das Abenteuer in der Wisteria Lodge" (im Zyklus "Seine Abschiedsvorstellung") erschienen, berichtet der Zweiteiler von mysteriösen Vorkommnissen auf dem gleichnamigen Anwesen: Der Hausherr wird tot aufgefunden und soll zu einem Zeitpunkt ermordet worden sein, als er sich zuhause – noch quicklebendig – im Gespräch mit einem später tatverdächtigen englischen Gentlemen befand. DEMIAN CLAV tauschen den männlichen Hauptdarsteller gegen eine Frau, die unter falschem Vorwand nach Mysteria Lodge gelockt wird. Einige weitere Handelnde entsprechen dem Original, der südamerikanische Hausbesitzer zum Beispiel. Außerdem arbeiten die Musiker in drei Songs mit Textpassagen von DOYLE. Selbstverständlich ist die Atmosphäre eines solchen an HOLMES angelehnten Konzeptalbums romantisch-mysteriös, und nicht laut und stinkig.

Zur Gruppe kann ich wenig sagen. Das Duo besteht aus zwei mir bis dato völlig unbekannten Musikern. Sänger und Gitarrist LSK verkörpert auf Fotos den Typus des britischen Dandys: altertümliche Kleidung und Accessoires, dazu die obligatorische Zigarette. Auch Cellist JEAN-CHARLES WINTREBERT ist mir noch nicht begegnet. Vor zwei Jahren veröffentlichten DEMIAN CLAV ihr Debüt auf dem US-Label CYKXINCORP RECORDS, nun sind die Franzosen mit dem Nachfolger bei PRIKOSNOVÉNIE in Clisson gelandet, wo sie sowohl geografisch als auch atmosphärisch hingehören. Neben den beiden Hauptdarstellern spielen eine Reihe von klassischen Instrumentalisten auf "Wisteria Lodge" mit, treten fast in Orchesterstärke an. Außerdem verwenden DEMIAN CLAV Samples aus Filmen von TARKOWSKI und PASOLINI, ein reichhaltig gedeckter Soundtisch also.
"White Mirror" (01) erinnert zum Auftakt an Songs von PAUL ROLAND; weniger wegen der Stimme, sondern mehr aufgrund der gruselig-viktorianischen Atmosphäre. Das Stück ist, wie viele weitere auch, episch in seiner Anlage. Ein zügiges E-Gitarren-Solo schafft das Flair einer Rockoper, die Keyboards sind mal sphärisch wie bei PINK FLOYD, mal orgelig, aber auch akustische Instrumente wie Geige und Piano kommen ausreichend zum Einsatz. Schon das zweite Stück "Bewilderment" (02) zeigt, wie vielfältig "Wisteria Lodge" trotz einheitlicher Grundstimmung ist. Eine mächtige Kirchenorgel mit Stimmengeflüster, später unterlegt von industriellem Wind – Dark Ambient sagt man dazu. Anschließend läuten Friedhofsglocken zu höhligem Plätschern, kurzer und traurig-pathetischer Gesang beenden den Track. "Winter Lies Sonata" (03) ist beinahe kitschig zu nennen, venezianische Barockmusik rahmt die Erzählstimme von LSK ein, der ab und zu von einer Frau unterstützt wird. Wichtig: Trotz der Bläserklänge wirkt "Wisteria Lodge" an solchen Stellen nie zu schwül. "Dead Offering" (04) ist dann wieder eher stampfend, ein kleppernder Rhythmus mit PHANTOM DER OPER-Orgel, mehr Geflüster und Rezitieren als Gesang – übrigens immer in einer Mischung aus Englisch und Französisch. Den Höhepunkt bilden kreischende Synthies und erneut die E-Gitarre.
Ganz so abwechslungsreich bleibt es nicht, die französischen Rezitationen zu allerlei Soundbetten häufen sich, gegen Ende überrascht eine metal-ähnliche Einlage mit Trommelgewitter, Gekreische und Gitarren-Schredder. Den Abschluss bildet dann aber stilecht ein schöner, akustischer und irgendwie neofolkiger Song, traurig und verloren.

Auch wenn es in der Beschreibung vielleicht ein wenig so klingt: "Wisteria Lodge" ist nie überfrachtet. Die geheimnisvolle, geisterhaft-schöne Stimmung bleibt stets erhalten. Einige Vergleiche sind möglich: Theatralik und bühnenartige Nähe zum Hörer wie bei ZLYE KUKLY (Besprechung), Detektivthematik und Melancholie wie bei ORCHESTRA NOIR ("The Affordable Holmes", Besprechung) oder mysteriöse Film noir-Atmosphäre wie im fiktiven Dreifachsoundtrack von LAND (Besprechung). Alles zwischen (Prog-)Rockoper der 70er, Folk, Dark Ambient und Neoklassik. An manchen Stellen – vor allem in der zweiten Hälfte – noch ausbaufähig, aber insgesamt doch sehr gelungen und für HOLMES-Fans ohnehin eine Notwendigkeit.

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