Spekulieren wir mal einen Augenblick lang: Für KE/HIL sollen sich, das immerhin verrät
TESCO aus Mannheim als zuständiges Label, die beiden Köpfe von
GENOCIDE ORGAN und
ANENZEPHALIA zusammengetan haben; zwei ohnehin eng miteinander verbundene Industrial-Gruppen. Es handelt sich also wohl um WILHELM HERICH und BRIGANT MOLOCH, so die Pseudonyme. Nehmen wir
DISCOGS zu Hilfe, wäre das Rätsel um den Bandnamen gelöst, denn dann würden die ersten zwei bzw. drei Anfangsbuchstaben der dort verzeichneten Klarnamen die neue 'Supergroup' ergeben: KE/HIL. Bestätigen wird das allerdings keiner der Beteiligten.
Seit einem Jahr laufen laut Labelinfo die Arbeiten an diesem Album, begleitet von einem Kurzgig in Leipzig – während eines GENOCIDE ORGAN-Konzertes – und dem ersten eigenen Liveauftritt in Mannheim Ende des vergangenen Jahres. Im Vergleich zu den Mutterbands unterscheidet sich KE/HIL von beiden; die Stücke sind nicht ganz so brutal und krachig wie die von ANENZEPHALIA, ganz zu schweigen von deren Live-Auftritten. Auch bekommt die Stimme eine andere Rolle, Schreie fehlen. Mit ihrer klareren Struktur, den monotonen Wiederholungen erinnern KE/HIL noch eher an manche Werke von GENOCIDE ORGAN, haben jedoch nichts gemein mit deren 'klassischen' Powernoise-Stücken. Insgesamt scheint "Hellstation" zugänglicher zu sein, weniger grundböse als
ANENZEPHALIA und GENOCIDE ORGAN; allerdings auch nicht so melodiös und rhythmisch wie zum Beispiel
DOGPOP, ein weiteres Seitenprojekt von B. MOLOCH.
Ein monotoner Rhythmus trägt den Opener "Mirror Of The World Of Mirrors" (01), verursacht von einer Art an- und abschwellendem Blaulicht in höherer Frequenz. Darüber liegen Rauschen, Pfeifen und Kratzen, die Stimme steigt wie durchs Wasser in einer Blase nach oben, gequetscht und leicht blubbernd. Überraschend ist der Break später im Stück, eine Improvisation mit E-Gitarre, die wenige Töne permanent wiederholt. Die (nun klarere) Angstpop-Stimme ("I found myself in a dark world") wird immer wieder überlagert von hochfrequentem Fiepen. Diese Stelle belegt sowohl musikalisch als auch textlich, dass es hier nicht nur um allgemeine – möglicherweise politisch motivierte – Wut und Aggression geht, sondern um ein sehr persönliche Erleben der Umwelt, was durch weitere Textpassagen bestätigt wird.
Murmelnde Menschenmassen unterlegen "Hellstation" (02), auf dem eintönigen und lang auseinandergezogenen Beat liegt der Text nahezu klar ("Choice is up to you"), ein ungeheuer raumfüllendes Stück trotz seiner langsamen Reduziertheit. Auch "Grey Saviour" (03) überzeugt gerade durch seine Zurückhaltung. Ein bedrohliches Geräusch fegt wie ein kalter Wind über den beschleunigten Beat, die Stimme rezitiert aus einer Betonzukunft.
Während "The Desert In The Prophet" (04) hält sogar so etwas wie eine Melodie Einzug; einzelne, schwebende Drones, die sich abwechseln, dazu eine Sirenenvariante und erneut die Stimme. Spätestens hier verfestigt sich der Eindruck eines Konzepts für das gesamte Album: mehr oder weniger bedrohliche Geräuschbetten, die Vocals trotz verschiedentlicher Verfremdung ganz gut zu verstehen, es geht um sehr persönliche, negative Emotionen und: Es wird nicht geschrieen! Na gut, jedenfalls kaum, denn "Ephedrin" (05) arbeitet offenbar mit Stimmsamples, sie liegen auf einem seltsamen, abfallenden Geräusch aus einem physikalischen Versuchslabor. Die restlichen drei Stücke kommen wieder ohne vordergründige Lautheit aus und bewegen sich weiterhin auf dem hohen Eingangsniveau.
"Hellstation" ist ein düsteres, depressives Industrialalbum, geprägt von einer sehr persönlichen, bedrückenden Weltsicht. Gerade die Reduziertheit und der dezente Einsatz von Mitteln hinterlässt ein starkes Gefühl der Verlorenheit und erzeugt die besonders unheimliche Atmosphäre. Nicht so schmerzhaft wie
THROBBING GRISTLE (oder eben die Vergleichbands GENOCIDE ORGAN bzw.
ANENZEPHALIA), aber analog, handfest, im Raum stehend und glücklicherweise weit entfernt von dem heutzutage oft produzierten, schrillen Laptop-Krach; vermutlich ist genau das mit "old school industrial" (Label) gemeint. Hochwertige Musik für Misanthropen!
Zu diesem Album passt die schlichte Ausstattung, jedes Wort wäre zuviel, der ironische Aufdruck "Music for the Prekariat" sagt eigentlich schon alles. Wer das ästhetisch-triste Frontcover in LP-Größe haben will, muss sich beeilen – die Vinylauflage ist auf 300 Stück begrenzt.