Auf dieses gruselige Cover hätte eigentlich ein Warnhinweis gehört: "ACHTUNG! Was Sie hier sehen, lässt keine Rückschlüsse auf die enthaltene Musik zu." Ansonsten könnte sich der potentielle Käufer nämlich ausmalen, dass die beiden mehr oder weniger barbrüstig fotografierten Künstler schnulzigen Liebeskitsch für nächtliche Schäferstündchen anbieten. Dass dies bei VAL DENHAM und Ô PARADIS wiederum sehr unwahrscheinlich ist, weiß nur der, der beide Musiker kennt. Und tatsächlich liefern VAL und DEMIAN – wie zu erwarten war, trotz der Soft-Erotik auf dem Frontbild – ein ziemlich großartiges, gemeinsames Album ab. VAL DENHAM ist dem geneigten NONPOP-Leser vielleicht aus diversen musikalischen Zusammenarbeiten bekannt, obwohl die Britin ihr Geld eigentlich hauptsächlich als bildende Künstlerin verdient: Für das Cover des THROBBING GRISTLE-Albums "Live 1976-1978" hat sie Modell gestanden (fotografiert übrigens von PETER 'SLEAZY' CHRISTOPHERSON), in den 1980er-Jahren mit dem HAFLER TRIO musiziert, zuletzt für BLACK SUN PRODUCTIONS gesungen (2009, NONPOP-Besprechung hier). Die Transgender-Künstlerin wurde als Junge geboren und ist inzwischen durch die Einnahme von Hormonen zumindest äußerlich in den richtigen Körper geschlüpft; ihre eindringliche Stimme schwankt zwischen BABY DEE, PIL und DAVID TIBET. DEMIAN RECIO alias Ô PARADIS wurde hier schon häufig vorgestellt. Der katalanische Musiker liebt "Musik aus den 80ern und auch einige neuere Projekte von Industrial über Pop, Folk, Elektroakustik bis hin zu Schlafliedern", wie er im NONPOP-Interview verrät. Eine Konstante ist dabei seine wehmütige, warme Stimme. Mein erster (aber nur kurzer) Eindruck: EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN. Aus industriellen Geräuschen wachsen umwerfende Rhythmen, die Lyrics laufen rückwärts geloopt. "She's A Witch" (01), der Opener, welcher diesen Eindruck hervorruft, ist der Kracher, die Walze des Albums. Der unaufdringliche, aber bestimmende Beat, die hypnotisch schnarrende Stimme, einige Streicher und zum Refrain eine synthetische Bläsercombo – umwerfend! Hier ist bereits die Mischung zu beobachten, die dieses Album durchweg gelingen lässt: Einerseits die luftigen, schwelgerischen Instrumentalbetten von DEMIAN, voller südländischer Freiheit mit verfremdeten, verschleierten Streichern und industriellen Geräuschen, allerdings auch mit mehr Rhythmus als auf den Ô PARADIS-Alben. Zum anderen natürlich die ansatzweise schrille Stimme von VAL, die aber durch die Musik ganz wunderbar aufgefangen wird. Mein zweiter Eindruck: NOVEMBER NÖVELET. Die Songs werden langsamer, es schabt und kratzt geisterhaft im Hintergrund. Manchmal schleicht sich DEMIANs Stimme von hinten an, in ein Duett, umschlingt, umgarnt und unterstützt VAL wie im schwofenden "Memories And Dreams" (03); im Wesentlichen aber überlässt er seiner Partnerin die Bühne. Nur einmal geschieht ein Rollentausch, in "My Lovely Val" (10) übernimmt die melancholische und traurige Männerstimme. Fiepende, krächzende Rhythmen hüpfen nostalgisch und im Dreiviertel-Takt durch die kurzen zwei Minuten. Dritter (und letzter) Eindruck: "Welcome To The Twisted Cabaret" (Besprechung hier). So viel Skurriles, sowohl textlich als auch musikalisch, dargeboten zwischen chansonhaften Musikschnipseln. Besonders die verschrobenen Balladen, für die VAL noch eine Spur schriller zu singen scheint, wirken kabarettistisch; das verlorene Klavier improvisiert im Hintergrund, durchaus auch mal im Walzermaß. Thematisch dreht sich ohnehin alles um die Geschichte von VAL DENHAM: Sie singt über Persönlichkeitsstörung, Spaltung, ruft zum 'Coming Out' auf, fordert die Anpassung des Körpers an den Geist. Die entsprechende Widmung dazu im Klappentext lautet: "Dedicated to all gender dysphoric people everywhere." "I've never worked so hard on my musical activities before", erklärte VAL DENHAM nach den Aufnahmen zu "Transform Thyself", und ich glaube ihr sofort. Das Ziel der beiden befreundeten Künstler, ein Album ohne Ausfälle zu schaffen, ist geglückt, selbst ein Discofeger ("You're Not My Type, 08) funktioniert in diesem Umfeld. Wenn ich mir ein Genre ausdenken müsste, würde 'Postindustrieller Chanson' die meisten Songs ganz gut treffen. Ein sehr intimes, zugleich sehr abwechslungsreiches Album, das Fans beider Künstler gerecht wird und gerade durch die ungewöhnliche Zusammenarbeit eine ganz eigene, stimmige Atmosphäre gewinnt.
Michael We. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » VAL DENHAM @ myspace » VAL DENHAM @ discogs » Ô PARADIS @ Wiki » Ô PARADIS @ discogs Themenbezogene Artikel: » O PARADIS: Nacimiento » Ô PARADIS & ESCAMA SERRADA » Ô PARADIS: Cuando El Tiempo Sopla » Ô Paradis :: Las Nubes Que Mueren » Ô Paradis » Ô Paradis :: La Boca Del Infierno » Ô Paradis :: El Juego Negro Themenbezogene Newsmeldungen: » Ô PARADIS mit Album in diesem Sommer » Neues Ô PARADIS Album bei Punch:-Records » Punch:-Records Neuigkeiten » nun erhältlich: Ô Paradis :: La Boca Del Infierno » Ô Paradis :: El Juego Negro » Neues Album von Ô Paradis » Neues Label: AUTRE QUE
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Zusammenfassung
Ein sehr persönliches, abwechslungsreiches Album, das Fans beider Künstler gerecht wird und gerade durch die ungewöhnliche Zusammenarbeit gewinnt. Beider Ziel, ein Album ohne Ausfälle zu schaffen, ist geglückt, selbst ein Discofeger funktioniert in diesem Umfeld zwischen Industrial und Chanson.
Inhalt
01. She's A Witch
02. Glow 03. Memories And Dreams 04. Now The Bottles Empty 05. Split 06. Thinking Of My Girl 07. My Blackest Flower 08. You're Not My Type 09. Searching For Superman 10. My Lovely Val 11. We Don't Spoil Another Couple 12. Saturday Night 13. Transform Thyself 14. Never Deny Them 15. Gravity 16. Icarus |