CANAL SUD ist eine kleine, in Toulouse beheimatete Radiostation. Sie sendet auf einer UKW-Frequenz (92.2) und im Internet rund um die Uhr für die 400.000-Einwohner-Stadt und deren Vororte, bezeichnet sich selbst als 'unabhängig' und 'frei.' Man wolle Minderheiten fördern und ein homogenes Massenbewusstsein verhindern, heißt es in einer Art Manifest. (So einen Ansatz würde ich mir für die mir bekannten Stadtradios in Deutschland auch mal wünschen ...) Jeden zweiten Montag läuft dort seit fast acht Jahren "Douche Froide" (22.30 bis 1.30 Uhr), eine 'Radioshow', die die musikalische Bandbreite von
NONPOP ziemlich gut abdeckt – davon zeugt ein Blick auf die Tracklist dieses Samplers.
Hinter "Douche Froide" stecken einige französische Künstler und Autoren, unter anderem der Goth-Journalist
MAX LACHAUD und die bildende Künstlerin
MARJORY SALLES; sie veranstalten außerdem unter diesem Namen Konzerte, Ausstellungen und geben Bücher heraus wie "Aux Limites Du Son" (2006), eine Wiederveröffentlichung von zehn Kurzgeschichten (Science Fiction) plus begleitender (Neuer) Musik.
Früher existierte zusätzlich ein "Douche Froide"-Fanzine, welches eine CD-R beinhaltete (je eine Ausgabe 2002 und 2003). Mit "Icy Breath On Burning Flesh" (Untertitel: "Douche Froide Vol. I") tritt das französische Kollektiv nun zum ersten Mal als Label auf und veröffentlicht eine reguläre CD mit 14 exklusiven Stücken von Künstlern, die in den vergangenen Jahren eine wichtige Rolle in der dazugehörigen Radiosendung spielten.
Der Start einer ganzen Serie von Samplern respektive Kunstobjekten soll diese erste Ausgabe sein. Schön anzufassen ist die wertige Hülle, wie gummiert oder gepolstert. Das Klappcover gibt seine CD durch einen komplizierten Pop-Up-Mechanismus preis. Lediglich das Booklet (Foto
siehe unten) ist doch sehr 'avantgardistisch' gestaltet, heißt: die Texte und Infos über die Künstler sind aufgrund der Farbgebung kaum lesbar.
Der erste Track des mir bis dato unbekannten
DRAHOMIRA SONG ORCHESTRA bringt diese Sammlung gleich so richtig in Schwung. "This Famous
Somewhere" ist eine Mischung aus impressionistischen Klavierläufen, industriellem Schaben und Kratzen und vokalen Drones. In der Mitte entfalten sich ein lässiger Trip Hop-Rhythmus und geheimnisvolle (französische) Stimmsamples. Richtung Schluss wälzt sich zunächst eine E-Gitarre, dann ein ganzes Paket an Instrumenten aus den Lautsprechern wie eine donnernde Schiffssirene – beeindruckend! In diesem Stile machen die beiden nächsten (und wohl bekannteren) Projekte weiter:
DAWN AND DUSK ENTWINED (02) legen einen Song von 1999 neu auf, bieten industrielle Trommeln und apokalyptische Zeitlupenstimme; martialische, bedrohliche Neoklassik.
BEYOND SENSORY EXPERIENCE (03, eine der Spielwiesen von
K. MEIZTER) liefern dunklen, sinfonischen Ambient ohne allzuviel Industrie, mit ein wenig Countertenor-Chor und verlorenem Piano als Kontrapunkte.
Den ersten Break setzen
QUATTROPHAGE (04) – wie die meisten Beteiligten aus Frankreich – mit avantgardistischer Streichermusik und humanen Zwischensamples auf der Grundlage verschiedener Geräusche. So ergibt sich eine Mischung aus Soundtrack für einen Dogma-Film und Balkanfolk. Nach den ersten Geigen der Compilation ist natürlich
HERMANN KOPP gut platziert. Sein Beitrag ist ein – vor allem textlich – morbides Tanzlied, dessen Takt durch hallende Geigenloops und dezente Drums bestimmt wird, wie immer präzise an handelsüblicher Schönheit vorbei und ausnahmsweise mit Klar-Sprechgesang. Einer der besten und zugleich druckvollsten Songs, die ich von HERMANN KOPP kenne. Den Preis für den originellsten Songtitel haben
LES HAUTS DE PLAFOND (06) verdient ("Die Katze Essen"), und auch sonst ist ihr Stück klasse: Minimale, handgemachte Elektronik, die Franzosen üben Deutsch und die Heimorgel für die Tanzfläche zum Seniorentee.
Die weiteren Stücke sind im Schnitt nicht ganz so fesselnd wie das erste Dutzend. Besonders erwähnenswert:
NIHILTRONIX (10, alias I-C-K); krachender Noise mit zwar einfachem, aber packendem und treibendem Drum-Rhythmus und, aus dem Ambient-/Drone-Bereich am Ende, der ganz starke Track von
NATURE MORTE: Ein einziger, mächtiger, wabernder, intensiver Drone, der wie eine Wolke von gelegentlichen Blitzen zerteilt wird.
"Icy Breath On Burning Flesh" ist trotz der unterschiedlichen Teilnehmer ein sehr homogener Sampler, denn er schafft eine verbindende, dunkle und gleichzeitig sehr kreative Atmosphäre. Die Begriffe 'post-industriell' und 'avantgardistisch' taugen ganz gut zur Umschreibung. Auch wenn das eine oder andere Lied die exzellente Klasse der meisten Beiträge nicht zu hundert Prozent hält, ist die Zusammenstellung in dieser Form hervorragend hörbar, auch weil die Stücke mit Bedacht in passende Grüppchen sortiert wurden. Bitte mehr davon!
PS: Links zu den Podcasts der Radiosendungen befinden sich auf der myspace-Seite von "Douche Froide".
Cover des Booklets